In seinem Abgesang auf das Wiener Kaffeehaus stellt der österreichische Schriftsteller Friedrich Torberg fest, daß das Kaffeehaus als Ort großer Kreativität keine Zukunft mehr habe, da seine potentiellen Stammgäste zu beschäftigt seien und keine Zeit hätten, im Kaffeehaus zu sitzen. Und Zeithaben sei die wichtigste, die unerläßliche Voraussetzung jeglicher Kaffeehauskultur - ja am Ende wohl der Kultur überhaupt. Auf jeden Fall - so kann man ergänzen - ist das Zeithaben auch eine unabdingbare Voraussetzung der Psychoanalyse. Die "Redekur" wie sie von Sigmund Freud entwickelt wurde, setzt voraus, daß man sich in einem geschützten Raum und im Dialog mit dem Analytiker Zeit nimmt für die Welt der eigenen Ängste und Phantasien. Diese Zeit scheint in der so "beschäftigten", auf Effizienz ausgerichteten Gesellschaft knapp geworden zu sein. Da Psychoanalytiker als Anwälte von Raum und Zeit auftreten, die der Mensch braucht, um sich selbst zu verstehen, sich entwickeln und verändern zu können, setzen sie sich dem Vorwurf aus, die Erfordernisse der heutigen Zeit nicht erfaßt zu haben.
Zugleich hat aber die Psychoanalyse in den letzten Jahren von einer überraschenden Seite Rückendeckung bekommen - von der naturwissenschaftlichen Hirnforschung, die lange die "Unwissenschaftlichkeit" der Psychoanalyse angeprangert hatte. Die neuen Untersuchungsmethoden der Hirnforschung konnten die komplexe und dynamische Struktur des menschlichen Gehirns belegen und zeigen, daß Freuds Annahmen über den psychischen Apparat von allen Modellen der Psyche dieser Komplexität am nächsten kommen. Das menschliche Gehirn wird im Prozeß von Interaktion und Kommunikation geformt. Seine Funktion ist es, "Bedeutungen im individuellen und insbesondere sozialen Handeln zu erzeugen und zu verarbeiten.", wie der Neurobiologe Gerhard Roth sagt.
Doch diese späte naturwissenschaftliche Genugtuung für die Psychoanalyse hat auch ihre problematischen Seiten. Die Konkretheit und Anschaulichkeit der bildgebenden Verfahren, mit denen die Hirnforschung arbeitet, weckt die Allmachtsphantasie, man könnte auf diesem Weg das Rätsel subjektiver Bedeutungsgebung und Erfahrungsverarbeitung aufdecken. Bedeutungen lassen sich aber nur durch Kommunikation erkunden, die eingebettet sein muß in eine emotionale Beziehung. Deshalb beruht der psychoanalytische Zugang zum Menschen auf einem differenzierten, feinfühligen Nachdenken über die Bedeutung von emotionaler Erfahrung und der Beziehungen, in denen sie stattfinden. Die Behandlung psychischer Leiden ist dabei stets das "angestammte" Metier der Psychoanalyse gewesen, aus dem sie ihr Verständnis für psychische Prozesse gewann. Doch ihr Horizont war schon immer weiter gesteckt und bezog auch gesellschaftliche Prozesse sowie Kunst und Kultur in ihre Reflexion und Betrachtung ein.
"Die analytische Einsicht ist weltverändernd;" sagte Thomas Mann in seiner Rede zu Freuds 80. Geburtstag, "ein heiterer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvender Verdacht, die Verstecktheiten und Machenschaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder daraus verschwinden kann. Er infiltriert das Leben, untergräbt seine rohe Naivität, nimmt ihm das Pathos der Unwissenheit, betreibt seine Entpathetisierung, indem es zum Geschmack am "understatement" erzieht..., zum lieber untertreibenden als übertreibenden Ausdruck, zur Kultur des mittleren, unaufgeblasenen Wortes, das seine Kraft im Mäßigen sucht... Bescheidenheit - vergessen wir nicht, daß sie von Bescheidwissen kommt..."
Unsere Internetzeitung möchte in aller Bescheidenheit das psychoanalytische Nachdenken über die "Verstecktheiten und Machenschaften der Seele", ob im Bereich der therapeutischen Behandlung, in Erziehung und Sozialisation, in Politik und Gesellschaft oder in der Kultur, einem breiten Publikum zugänglich machen, das sich für diese Fragen interessiert. Dabei wollen wir insbesondere bei Themen von großem öffentlichem Interesse psychoanalytischen Sichtweisen Raum geben, die sonst in den Medien zu kurz kommen.