Ilka Quindeau Trauma, Nachträglichkeit und die Bedeutung des Anderen.

Bericht über die Wolfgang-Loch-Vorlesung am 19. 10. 2018:  
Isolde Böhme

Als Ouvertüre ihres schönen Vortrags verwendete Ilka Quindeau die öffentliche Inszenierung und spielerische Transformation einer traumatischen Erfahrung. Christian Kracht hatte im vergangenen Jahr die Ehre, die Frankfurter Poetikvorlesung zu halten. Seine Ouvertüre war die Enthüllung, als Zwölfjähriger von einem anglikanischen Geistlichen missbraucht worden zu sein. Er habe sich seinen Eltern anvertraut, die dies für die Übertreibung ihres phantasiebegabten Sohnes hielten. Er sei sich selbst unsicher gewesen, ob er dies erlebt oder sich eingebildet habe, bis der inzwischen verstorbene Geistliche von anderen Internatsschülern angezeigt worden sei.

Es versteht sich, dass diese Mitteilung die Zuhörer emotional affizierte. In der Folge wurde Krachts Werk in den Feuilletons großer Zeitungen neu gelesen. Ein Satz der zweiten Vorlesung ließ das Phänomen der Übertreibung anklingen: „Alles, was sich zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie, auch diese Vorlesung“. Die Parodie erschien Kracht geradezu als Heilmittel für den Missbrauch.

Quindeau entfaltet, wie meisterhaft sich Kracht auf die kulturelle Inszenierung eines Traumas versteht. Das scheinbar intime biographische Geständnis brachte die Struktur des Missbrauchs auf den Punkt. Das Publikum war der Inszenierung passiv ausgeliefert, angewiesen auf die Deutung des Autors. Offen blieb: Sprach er von einer Gewalterfahrung in der Adoleszenz, fühlte er sich vom Literaturbetrieb missbraucht, der nach immer neuen Sensationen giert, oder parodierte er kulturelle Enthüllungspraktiken? Eine Frankfurter Tageszeitung schrieb: „Und während man noch betäubt von der Überwältigung durch die Macht des Moments (…) zusammensteht, erscheint alles wieder wie ein Rätsel: Ist das jetzt wirklich geschehen? Oder war das nur Einbildung? Ist diese Vorlesung Christian Krachts größter, bedeutendster Roman?“

Im weiteren Vortrag sucht Quindeau die Freudianischen Konzepte von Trauma, Trieb und Konflikt wieder zusammenzubringen, bezieht sich dabei wesentlich auf die Allgemeine Verführungstheorie von Jean Laplanche.

  1. Sie geht von Freuds früher Traumatheorie aus mit dem zentralen Gedanken, der Hysteriker leide an Reminiszenzen,

  2. schließt an mit dem Primat des Anderen und der Nachträglichkeit als zentralen Strukturmomenten des Psychischen in der Allgemeinen Verführungstheorie. Die Verführung des Säuglings (zum Leben = Urverführung: ohne fürsorgliche Pflege würde das Baby sterben, es handelt sich um eine strukturell bedingte, existenzielle Abhängigkeit) durch den Erwachsenen wird als Urbild des Traumas verstanden.

  3. Die daraus entwickelte Hypothese: In der traumatischen Situation wird die Urverführung reproduziert und erhält nachträglich Bedeutung.

  4. Die therapeutische Arbeit mit traumatisierten Patienten wird an einem Fallbeispiel dargestellt.

Zu (1). Quindeau verweist auf Freuds frühes Traumakonzept, das die Dichotomie von Innen und Außen, Subjekt und Objekt überwindet: Ein Trauma besteht aus mindestens zwei – intersubjektiven - lebensgeschichtlichen Szenen. Die psychische Verknüpfung imponiert als unbewusster Erinnerungsvorgang: Der psychische Mechanismus der Erinnerung konstituiert das Trauma. Das Konzept der Nachträglichkeit geht davon aus, dass frühere Erfahrungen, Eindrücke und Erinnerungsspuren nach dem jeweiligen Entwicklungsstand und aufgrund neuer Erfahrungen umgearbeitet werden. Ein (traumatisches) Geschehen gewinnt erst nachträglich im Lebenslauf seine Bedeutung. Die Geschichte des Wolfsmanns z.B. kennt das Erleben des Koitus durch den Anderthalbjährigen, den Traum des Vierjährigen und die Gedanken des 25jährigen Analysanden.

Zu (2). Zentrale Neuerung in Laplanches Allgemeiner Verführungstheorie ist die Aufgabe des subjektzentrierten Ansatzes in der Psychoanalyse zugunsten des Primats des Anderen. Die anthropologische Grundsituation, in der sich das Subjekt bildet, ist die einer strukturellen Asymmetrie. Der Säugling ist auf die Anrede der Erwachsenen angewiesen und deren Ansprüchen unterworfen. Das Kind ist damit nicht Gestalter seiner Entwicklung, sondern es wird Subjekt, indem es sich der Anrede des Anderen, Fremden und Unverfügbaren unterwirft und darauf antwortet. Die Passivität des Kindes, das dem Begehren der Erwachsenen ausgesetzt ist, ist strukturell zu verstehen. Beschreibt man das Verhalten von Kind und Erwachsenen, ist das Kind durchaus von Anfang an aktiv, Kommunikation geschieht in Gegenseitigkeit.

Im Zentrum der unbewussten Mitteilungen der Erwachsenen steht deren unbewusstes sexuelles Begehren. Laplanche bezeichnet dies als Urverführung und spricht von rätselhaften Botschaften, die in den Säugling hineingeschickt, intromittiert werden. Es bilden sich innere „Fremdkörper,“ damit der Kern des Unbewussten, das Sexuelle. Die Botschaften müssen entziffert, übersetzt werden; da immer unübersetzte Reste bleiben, braucht es immer neue Übersetzungen. Diese Urverführung versteht Laplanche als Prototyp des Traumas.

Das Konzept der Nachträglichkeit wird von Laplanche in der Verschränkung von linearem und rückbezüglichem Denken präzisiert. In einer linear-determinierenden Denkweise bringt die Vergangenheit die Gegenwart hervor. Das Vergangene findet aber mit der körperlich-seelischen Entwicklung und den Lebenserfahrungen immer wieder neue Bedeutung und neue Gestalt.

Zu (3). Quindeau verwendet Laplanches Denkfiguren für eine Traumatheorie. Freud geht von einer Reizüberflutung aus, die das Ich mit der Notfallreaktion der Einkapselung beantwortet. Es entstehen „Überlebsel“, bei denen ein äußeres Ereignis sich mit Phantasien verbindet. Wie die rätselhaften Botschaften sind sie als unbewusste Phantasien wirksam und drängen darauf, übersetzt zu werden, - nicht interpretiert: wegen des Drängenden. Werden die Überlebsel wiederbelebt, kommt es zu einem bedrohlichen Anstieg der Erregung.

Eine solche psychische Arbeitsanforderung wie die eines Fremdkörpers, der zur Übersetzung drängt, bezeichnet Freud als ‚Trieb‘. Das Übersetzungsmodell des Traumas macht deutlich, dass Trauma und Trieb miteinander amalgamiert sind.

Das traumatische Symptom ist nicht direkte Folge des Ereignisses, sondern Ergebnis der Übersetzung eines höchst subjektiven Geschehens. Traumatische Erfahrungen im Erwachsenenalter rühren an die Hilflosigkeit in der frühen Kindheit. Die überwunden geglaubte Passivität des Säuglings wird in der später erfahrenen Gewalterfahrung real, sie wird erstmals gefühlt, überwältigend gespürt im Trauma. Quindeau weist allgemeine Annahmen über das (Wieder)Erleben der frühen Situation im Trauma zurück, vertritt, dass es für die Verarbeitung der Traumatisierung unerlässlich sei, vor allem den unbewussten Phantasien des Subjekts nachzugehen.

Zu (4). Quindeau vertritt bei der Behandlung von traumatisierten Patienten ein psychoanalytisches Konzept, bei dem die traumatische Erfahrung sich in Übertragung / Gegenübertragung als „traumatisierende Übertragung“ zeigt. In ihrem eindrucksvollen Fallbeispiel zeigt sie die Schwierigkeit des Behandlers, sich in der Übertragung als Täter zur Verfügung zu stellen, ohne diese Übertragung zu agieren.

Der Vortrag wird im Jahrbuch der Psychoanalyse 79 im kommenden Jahr veröffentlicht.

Dr.med. Isolde Böhme, Psychoanalytikerin (DPV/IPA), Köln