Thomas Hartung, Eike Hinze, Detlef Schäfer: Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse ?

Thomas Hartung, Eike Hinze, Detlef Schäfer: 
Wie viel Richtlinie verträgt die Psychoanalyse ?
Eine kritische Bilanz nach 50 Jahren Richtlinien-Psychotherapie

Psychosozial-Verlag Gießen 2016, 139 Seiten

Rezensent: Thomas Bender, Psychoanlytiker, Freiburg i.Br.
“Vorabdruck aus der Zeitschrift für Psychoanalytische Theorie und Praxis, Heft 2/2016”

 

Der größte Teil der psychotherapeutischen Behandlungen in der Ausbildung und der Berufspraxis von Psychoanalytikern wird in Deutschland de facto von den Krankenkassen und -versicherungen getragen, eine entscheidende Variable des therapeutischen Settings, dessen Bedeutung sich jedoch kaum in der psychoanalytischen Literatur niederschlägt. Die zeitintensive, aber nicht entsprechend bezahlte Arbeit an den Berichten an die Gutachter wird von Analytikern oft nur als ein notwendiges Übel betrachtet, obwohl sich gerade hier psychoanalytisches Denken zu beweisen hat. Diese besondere Qualifikation ist in der Kassenversorgung gar nicht so randständig, wie Viele meinen. Gemäß dem Ergebnis einer KV-Studie erhielten im Zeitraum von 2009 bis 2012 von allen Patienten, die psychotherapeutische Leistungen in Anspruch nahmen, 45% eine tiefenpsychologische fundierte und 2,4% eine analytisch orientierte Psychotherapie und das bedeutet, dass 47,4% aller kassenfinanzierten Psychotherapien mit einem Krankheitsverständnis und einem Behandlungskonzept zu begründen sind, das sich - mehr oder weniger modifiziert - von der psychoanalytischen Theorie herleitet. Unterstützt wird das auf Freud aufbauende psychodynamische Krankheitsverständnis sowohl durch zahlreiche klinische Effektivitätsstudien als auch durch die Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften. Aller Anfeindungen zum Trotz ist seit 50 Jahren anerkannt, dass die psychoanalytische Behandlungstechnik hilft, weshalb die Krankenkassen sie in ihrem Leistungskatalog behalten und mittlerweile sogar vierstündige Analysen zumindest phasen-weise bezahlen. Der Entwicklungstand und die Verbreitung psychoanalytischer Einsichten in Deut-schland wäre ohne diese Integration in die Kassenleistungen undenkbar. Umso auffälliger ist das Desinteresse vieler Analytiker an den vielfältigen Auswirkungen der "Kassentherapien" auf die Übertragungsdynamik und den Behandlungsverlauf. Es scheint mitunter, als seien sie in einer Grös-senfantasie verfangen, wonach sie wie die alten Meister ihres Faches von betuchter Klientel leben, die für ihre "tendenzlose" analytische Selbsterfahrung unbegrenzt Bares auf den Tisch legt. Das hat sich als eine realitätsverleugnende Illusion erwiesen, die vor der Aufnahme der Psychoanalyse in die Kassenleistungen weit verbreitet war. Damals behaupteten nicht wenige Analytiker, dieser Struktur-wandel – die Aufnahme der analytischen Psychotherapie in die Versorgungsleistungen der Kranken kasse - brächte der Psychoanalyse den Tod. Sie waren in Sorge um die Zukunft der "reinen" Psycho-analyse, während in der Realität deren kontingentierte Anwendung sich immer mehr verbreitete, und damit ihre empirische Basis sich verbreiterte und schließlich die Zahl der ausgebildeten Analytiker sich vergrößerte. Diese Paradoxie macht deutlich, dass es um sehr viel mehr geht als nur um den ewigen "German Kassentrouble", wie die angelsächsischen Kollegen spotteten, nämlich um das Verhältnis der Psychoanalyse zu der äußeren, gesellschaftlichen Realität, in der sie stattfindet.

Es ist nun ein schmales Bändchen von drei Lehranalytikern der Deutschen Psychoanalytischen Ver-einigung, das es wagt, dieses heiße Eisen anzufassen und es gleichsam auf kleiner Flamme zu venti-lieren. Darin sind die Erfahrungen und Erkenntnisse eines jahrelangen, auf DPV - Tagungen regel-mäßig fortgesetzten Diskussionsprozesses eingeflossen und zusammengefasst, weshalb es besondere Beachtung verdient und als Grundlage künftiger Diskussionen herangezogen werden kann. Es ist von der Sorge um die Position der hochfrequenten Psychoanalyse in der Kassenversorgung getragen und macht gleich zu Beginn deutlich, wie sehr Analytiker in den täglichen Kampf um die Zustimmung eines Gutachters verstrickt sind, weshalb sie, wie Eike Hinze formuliert, "eine Abwehrbewegung gegen das schmerzliche Gewahrwerden ihrer ökonomischen Abhängigkeit"(S.10) und deren vielfältigen Implikationen für die klinische Arbeit ausbilden. Dabei erinnert er an eine provozierende Formulierung von P. Chodoff aus dem Jahre 1986, wonach "die Bezahlung für den Therapeuten eine bedeutendere Quelle der Motivation (darstellt) als für den Patienten" (S.23). Das klingt wie ein Paukenschlag, der in die Feinheiten ihrer Kunst vertiefte Analytiker aus einem Dornröschenschlaf wecken könnte. Der Kaiser ist nackt, er braucht das Geld seiner Kunden und seine Kunst hat i.d.R. einen Gebrauchswert zu erbringen und das in einer genau berechneten Zeit, auf dem Stand der Forschung und mit einem nachhaltigen Gewinn. Überdies untersteht der Analytiker vielfältigen juristischen und ethischen Bestimmungen so lange er an der kassenärztlichen Krankenversorgung teilhaben will.

Im ersten Beitrag sichtet Eike Hinze bekannte Positionen zur Frage der Honorierung und ihrer Auswirkung auf die Übertragungsprozesse. Die Ausführungen zu seinem eigenen Lernprozess (entlang einer allmählichen Einstellungsänderung in der DPV) erinnern daran, welche Tiefenwirkung der gesamte Geldverkehr zwischen Analytiker und Analysand erzeugt. Sie geht ans "Eingemachte".

Hinze ist sich mit den Mitautoren einig: "Die eigene Verstricktheit des Analytikers ist dafür verantwortlich, dass dieses Thema ein Schattendasein im analytischen Diskurs führt."(ebd.) Als Beispiel für eine solche Verstrickung nennt er jene avancierte Position von J.M.Rotmann (1994), wonach der Bericht an den Gutachter grundsätzlich mit den Patienten zu besprechen sei, kommt aber zu dem Ergebnis, dass sich diese Vorstellung in der DPV "eine solitäre Ausnahme" (S.26) blieb.

Dieser Aufriss analytischer Reizthemen verlangt nach einer gründlichen Fundierung der Problematik, die von Detlef Schäfer geleistet wird, dessen Beiträge über die Hälfte des Buches bestreiten. In seinem ersten Beitrag trägt er "Grundsätzliches über das Verhältnis von Krankenversicherung und Psychoanalyse" zusammen, worin er u.a. die Geschichte der analytischen Richtlinientherapie und ihrer Diskussion in der DPV nachzeichnet. "Die Anforderungen dieses Regelwerks", fasst er zusammen, "sind bis heute durch keine wissenschaftliche Studie belegt." (S.50) Demgegenüber kann Schäfer in einem gut lesbaren, lebendigen Diskurs die Tiefendimensionen der Kassenversorgung (einschließlich der Einführung des Diagnoseschlüssels ICD-10) so gründlich ausloten, dass erstmals deren Wirkung auf das analytische Denken greifbar wird, die sich offensichtlich auf einer anderen gesellschaftlichen Ebene abspielt. "Es ist nicht der Umstand der (Stunden)Begrenzung, der den Analytiker in eine widersprüchliche Position bringt, sondern der Anspruch der Richtliniengeber, dass diese Einschränkung einer wissenschaftlich abgeleiteten analytischen Überlegung entspricht."(S.52) Schäfers Beitrag ist nicht nur historisch gründlich sondern auch argumentativ klar und überzeugend. Er sagt es ganz deutlich: "Die Richtlinien-Psychotherapie entspricht aufgrund ihrer Rechtsverbindlichkeit einem Machtfaktor"(S.65), dessen durchschlagende Wirkung von vielen Analytikern nicht realisiert werde. Dazu berichtet er von den Reaktionen der Kollegen, die sich auf den halbjährlichen DPV - Tagungen mit diesem Thema befassten. ".... es war zu beobachten, dass wir in den Diskussionen immer wieder bei formalen Fragestellungen landeten. ... Es war, als würde eine Starre die Gruppe erfassen."(S.67) Diese Art Denkstörung ist das Ergebnis einer Spaltung und zwar der Spaltung zwischen innerer und äußerer Realität. Anscheinend kann man sich mit Psychoanalyse wie in einer Parallelwelt so weit von der äußeren Realität abwenden, dass manche Kollegen sichtlich irritiert sind, sobald sie mit ihrer konkreten Abhängigkeit von gesellschaftlichen Strukturen konfrontiert werden. Das erinnert etwas an die Arbeit mit Psychotikern, mit denen manchmal um die Anerkennung eines Stücks äußerer Realität regelrecht gerungen werden muss. Schäfers Beitrag beleuchtet das komplexe Beziehungsgeflecht der Richtlinienverfahren und analysiert sowohl die Rolle des Gutachters als auch jener Kollegen, die "im Sinne einer Identifizierung mit dem Aggressor"(S.68) sich übereifrig den Richtlinien anpassen, anstatt ihre Möglichkeiten zu realisieren.

In seinem zweiten Beitrag rekapituliert Schäfer die Geschichte der Entwicklung der Psychotherapie-Richtlinien, womit er den Leser noch einmal an den spannungsreichen Stationen eines jahrzehnte langen Kampfes um die kassenrechtliche Anerkennung der analytischen Behandlung teilnehmen lässt . Sie geht einher mit der berufsrechtlichen Emanzipation des psychologischen Psychoanalytikers durch das Psychotherapeutengesetz 1999, was verdeutlicht, dass gerade dessen berufliche Identität von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland besonders geprägt ist. Schäfer möchte zum einen daran erinnern, wie "willkürlich" die Richtlinien festgelegt bzw. ausgehandelt wurden und zum andern vor den anhaltenden Bestrebungen warnen, "das ätiologische zugunsten eines konditionalen Krankheitsverständnis einer Revision zu unterziehen" (S.97). Das bedeutet nichts weniger, als dass sich die Angriffe auf die Psychoanalyse im Gesundheitswesen fortsetzen werden, weshalb die "Kassenanalytiker" den Sinn und Erfolg ihres Verfahrens verstärkt "behaupten und darstellen" sollten.

Genau das gelingt Thomas Hartung in seinen kurzen, aber ungemein dichten Beiträgen zur Ausbil-dung und zur eigentlichen Arbeit des Psychoanalytikers im Richtlinienverfahren. Hier finden sich nun genuin analytische Überlegungen und Deutungen zur inter- und innerpersonellen Psychodyna-mik entlang des Antragsverfahrens und der Begründung und Wirkung der Stundenfrequenz. Ebenso wie die Autoren anerkennen, dass die Verpflichtung zur Berichterstattung das wissenschaftliche Denken und die Haltung des Analytikers schult, so zeigt schon Hartungs Kostprobe, welche Klarheit in der Falldarstellung damit erreicht werden kann. Mit einer beeindruckenden Fallvignette kann er die Wirkung eines Frequenzwechsels auf die Mentalisierungsleistung einer Patientin mit frühem Trauma so darstellen, dass dessen Begründung entsprechend den Richtlinien zwingend wirkt. Auch wenn er damit in diesem Fall mit seiner Argumentation keinen Erfolg bei den zuständigen Gutachtern hatte, so entwickelte die Patienten aus dieser Auseinandersetzung mit einer dritten Instanz eigene Mittel und Wege, ihre Analyse hochfrequent fortzusetzen. Man könnte sagen, „dass die vierte Stunde in diesem Fall zu einem dritten Objekt geworden ist und auf diese Weise erheblich zu einer äußeren und inneren Triangulierung beigetragen hat.....als Symbol für einen dreidimensionalen Denkraum"(S.109) Solche Überlegungen können eine erste Vorstellung vermitteln, welchen Gewinn sowohl die Psychoanalyse als auch die Richtlinien-Therapie aus der analytischen Durchdringung dieses Wirkungszusammenhanges von innerer und äußerer Realität ziehen könnte. Das Gleiche gilt für den Versuch Hartungs, den Einfluss auf den Analytiker zu erfassen. Aus einem Vergleich mit selbstfinanzierten Analysen kommt er zu dem Schluss, dass "die Gegenübertragung durch die Leitplanken der Richtlinien eingezäunt wird", was je nach Fall Vor- und Nachteile hat. Entscheidend sei nur, dass man diesen Einfluss erkennt, insbesondere bei der Gefahr einer "doppelten Buchführung", wenn die Aussicht einer anschließenden Eigenfinanzierung besteht.

 

Die vorgestellte Problematik ist eine erste Annäherung an komplexe Zusammenhänge.. Das entspricht dem Schluss des Bändchens, in dem Eike Hinze sich noch einmal gegen die "Chimäre einer tendenzlosen Analyse" wendet und dabei leidvolle Ausbildungserfahrungen schildert: "Stößt (der Kandidat) auf Lehrer, die selbst ungeklärte Probleme mit diesem Regelwerk haben, kann es schwierig sein, eine stabile analytische Haltung zu erwerben. ... Die Einbettung der gesamten (Ausbildungs-)Analyse im Richtliniensystem und ihre Bedeutung für den analytischen Prozess werden ausgeblendet."(S.134) Einer solchen ignoranten Arroganz mancher Analytiker gegenüber ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung lässt sich mit besonderem Vergnügen ein vergessenes Zitat Sigmund Freuds entgegenhalten: "Irgend einmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, dass der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. ... Diese Behandlungen werden unentgeltliche sein." (GW XII, 1919, 192 f)