Die Redaktion von "psychoanalyse-aktuell" hat einige Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern der "Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung" (DPV) gebeten aufzuschreiben, welche Bedeutung die Psychoanalyse für sie heute habe. Der Beitrag sollte kurz und durchaus mit einer subjektiven Note versehen sein.
Frankfurt a. M., 4. Dezember 2008
Die Redaktion
Mahrokh Charlier, Frankfurt a. M.
"Die Bedeutung der Psychoanalyse heute"
Die Beschäftigung mit gesellschaftlich und kulturell bedingten Konflikten -mit dem Unbehagen in der Kultur wie Freud es in seiner berühmten Arbeit nannte -ist immer ein wichtiger Themenbereich der Psychoanalyse gewesen. Die psychoanalytischen Überlegungen hierzu versuchen diese bewussten und unbewussten Konflikte innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen Struktur verstehbar zu machen.
Ein dringliches Thema der heutigen Zeit ist die Migration, die mit vielschichtigen Konflikten einhergeht und vielen Menschen Unbehagen bereitet. Man kann hier von einem Unbehagen in der Kultur der neuen Zeit sprechen. Migration hat es zwar in allen Zeiten der Geschichte gegeben, aber durch die Globalisierung mit ihrer Beschleunigung von Zeit und Raum haben die Auswirkungen von Migrationsprozessen eine neue Dimension angenommen.
Migration hat nicht nur Auswirkungen auf die individuellen Schicksale, sondern sie beeinflusst beide Kulturen, zwischen der der Emigrant sich bewegt. Diese umfassen politische, gesellschaftliche und kulturelle Lebensräume. Die innere und äußere Veränderung, die Migranten im Verlauf eines Migrationsprozesses erfahren, haben ihre Auswirkung nicht nur auf die hiesige Kultur sondern auch auf die gesellschaftliche Struktur der jeweiligen Ursprungskulturen. Sie sorgen schleichend, zunächst unbemerkt für eine Veränderung der kulturellen Selbstverständlichkeit beider Kulturen. Durch ihre Erfahrungen in der neuen Umgebungskultur entwickeln Emigranten auch einen veränderten Blick auf ihre Herkunftskultur entwickeln und exportieren ihre neue Sichtweise auf die eine oder andere Art und Weise in ihre Herkunftsländer. Als Beispiel sei hier das Verhältnis der Geschlechter zueinander erwähnt. Diese wechselseitigen kulturellen Im- und Exporte gehen selbstverständlich nicht ohne Komplikationen mit der Mehrheit der Gesellschaft einher, wie z.B. Fremdenangst, Angst vor fremden Einflüssen und vor Entfremdung.
Die Migranten selbst fühlen sich häufig in inneren Wirrungen und Irrungen gefangen. Desorientierung, Fremdheitsgefühle, Verlustängste und Sehnsüchte sowie die daraus resultierende Verunsicherung des Identitätsgefühls sind Empfindungen, von denen sie sich in der Regel nicht befreien können. Sie befinden sich zwischen zwei Kulturen, einer familiären und einer außerfamiliären Kultur. Assimilation bedeutet nicht selten Vernachlässigung oder Verlust der Ursprungskultur. Das Festhalten an der Ursprungskultur bringt wiederum im Extremfall ein Leben im Ghetto mit sich.
Wie ist jedoch eine innere Beweglichkeit, ein Oszillieren zwischen zwei Kulturen möglich? Aus psychoanalytischer Sicht ist eine Integration dieser zwei Kulturen ohne Auseinandersetzung mit den ursprünglich verinnerlichten kulturellen Normen und Werten, deren ganzer Vielfalt an schwierigen aber auch wertvollen Aspekten, unmöglich. Dies setzt wiederum voraus, dass eine Auseinandersetzung mit der neuen Kultur, mit allem ihren individuell erlebten Schwächen und Stärken stattfindet. Ein sich wechselseitig beeinflussender Dialog aus zweiäugiger, bikultureller Perspektive, der im günstigsten Falle ein kulturelles Pendant des räumlichen Sehens ermöglicht, ein ähnlicher Vorgang wie der Wechsel und die Integration von Innen- u. Außenperspektive im psychoanalytischen Prozess.
Die Kindheit mit allen ihren bewussten und unbewussten Erfahrungen bildet die Wurzeln des Lebens, aber die heutige Realität braucht Licht und Wasser, um den Baum des Lebens in der neuen Kultur lebendig und fruchtbar zu halten. (Und deshalb Psychoanalyse...)
Zur Autorin: Mahrokh Charlier ist Diplom-Psychologin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Frankfurt am Main.
August 2008