Die Redaktion von "psychoanalyse-aktuell" hat einige Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern der "Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung" (DPV) gebeten aufzuschreiben, welche Bedeutung die Psychoanalyse für sie heute habe. Der Beitrag sollte kurz und durchaus mit einer subjektiven Note versehen sein. Wir stellen die Kurz-Beiträge in der Reihenfolge des Eingangs bei der Redaktion vor.
Frankfurt a. M., 4. Dezember 2008
Die Redaktion
Angelika Ramshorn-Privitera, Frankfurt a. M.
"Die Bedeutung der Psychoanalyse heute"
So umstritten die Psychoanalyse seit ihren Anfängen sein mag, sie ist als Wissenschaft aber auch als Profession aus dem Leben und Denken in einer modernen Welt nicht wegzudenken. Denn die Entstehung unserer Zeit, der Moderne, ist mit der Herauslösung des Menschen aus seiner traditionell-religiösen Verwurzelung einhergegangen und hat ein Menschenbild hervorgebracht, das von Individualität und Selbstbestimmung geprägt ist. An die Stelle der Zwiesprache des Menschenkindes mit seinem Gott ist die Selbstreflexion des autonomen Individuums getreten, und es ist das Prinzip der individuellen Subjektivität, das dem Zusammenleben der Menschen nunmehr zugrunde liegt.
Diese Welt "braucht" deshalb eine Wissenschaft vom Individuum und seiner Subjektivität, und hier ist die Psychoanalyse gewiss die am weitesten entwickelte Wissenschaft. Sie ist nämlich die einzige, die sich - im Unterschied zu den Naturwissenschaften - der Herausforderung gestellt hat, die menschliche Subjektivität als eine symbolisch vorstrukturierte, innere Welt zu erforschen und so die Einzigartigkeit des individuellen menschlichen Erlebens zu erfassen.
Wir "brauchen" deshalb diese Wissenschaft so wie Kinder Märchen brauchen, um den amerikanischen Psychoanalytiker Bruno Bettelheim zu zitieren. Eine moderne Welt ohne Psychoanalyse wäre wie ein Kinderzimmer ohne Geschichten, wäre ohne Angebot für teilhabende Strukturierung von subjektiver Erfahrung. Es würde ihr gerade diejenige Wissenschaft fehlen, die mit ihren Konzepten gleichsam die besten "Geschichten" über das Leben in einer modernen Gesellschaft zu bieten hat: Geschichten von Lust und Leiden an Triebschicksalen, von mühsamer Individuation und schmerzlicher Identitätsfindung.
Stand Freuds genialer Entwurf einer psychoanalytischen Metapsychologie noch im Zeichen eines gewaltigen Individualisierungsschubes in der patriarchalen Ordnung des ausgehenden 19. Jahrhunderts, so fanden in der Folge mit der Objektbeziehungstheorie und den Narzissmuskonzepten zunehmend Fragen der Identitätsbildung und des Selbstgefühls Eingang in die psychoanalytische Theoriebildung. Vor dem Hintergrund der zunehmenden gesellschaftlichen Entwurzelungsprozesse der letzten Jahrzehnte -der immer größeren Anforderungen an Mobilität, der immer geringeren Beständigkeit in den familiären Strukturen (Zunahme von Scheidungen, von Ein-Eltern- und sogenannten Patch-work-Familien) - ist es vielleicht kein Zufall, dass gerade die Bindungstheorie auch über die Psychoanalyse hinaus an Bedeutung gewonnen hat.
Trotz der unverzichtbaren Erkenntnisse, die die Psychoanalyse der modernen Welt zu bieten hat, ist sie von Beginn an auf Skepsis und Widerstände gestoßen und hat sich stets in Distanz zum gesellschaftlichen Mainstream wiedergefunden. War diese Distanz anfangs noch im Beharren der Psychoanalyse auf der frühkindlichen Sexualität und der menschlichen Triebnatur begründet, so liegt sie heute in ihrem Beharren auf der unabweislichen Notwendigkeit von Bindung und Beziehung sowie auf dem Erhalt eines intersubjektiven Raumes, der allein seelisches Wachstum befördern kann.
Wie die Psychoanalyse sich in der Gegenwart am besten Gehör verschaffen kann, wie sie sich im dringend nötigen wissenschaftlichen Dialog und als Profession in der Gesundheitsversorgung behaupten kann, wie die psychoanalytische Ausbildung zeitgemäß gestaltet werden kann - mit all diesen Fragen stecken wir in einem Prozess von Veränderung, dessen Ausgang offen ist. Diese Veränderungen sind - nicht nur, aber auch - als Fortschritt beschreibbar, der sowohl Verluste wie Bereicherungen mit sich bringen wird.
"Wenn die Vergangenheit aufhört, ihr Licht auf die Zukunft zu werfen, tastet der Verstand im Dunkeln", schrieb Alexis de Tocqueville, der leidenschaftliche und brilliante Analytiker der modernen Demokratie, schon 1835. Diese Diagnose bezog sich auf die Verunsicherung der Gesellschaft seiner Zeit infolge der Umwälzung vom Primat der Tradition in der Adelsgesellschaft zum Primat des Fortschrittsgedanken in der Bürgerdemokratie. In Tocquevilles Metapher ist die Angst ebenso enthalten wie die Bereitschaft, auf Neues zu stoßen.
Auch in der Psychoanalyse ist die Bedeutung mancher Ideen, die für immer Licht auf ihre wissenschaftliche Zukunft zu werfen schienen, verblaßt, und wir stehen stattdessen vor der Notwendigkeit, uns vorzutasten zum Entwurf einer zeitgenössischen Psychoanalyse -einer Psychoanalyse, die ihre Konzepte weiter entwickelt, die fähig wird zum Dialog mit anderen Wissenschaften und die das Licht der Überprüfung dessen, wie in ihr wissenschaftlich gedacht und wie professionell gehandelt wird, nicht scheut.
Zur Autorin: Angelika Ramshorn-Privitera ist Diplom-Psychologin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis in Frankfurt am Main; sie ist zudem die Vorsitzenden des "Frankfurter Psychoanalytischen Institut e.V." (FPI).
April 2008