Frank Dammasch: Jungen - Das schwache Geschlecht?

Man hat sich inzwischen schon fast daran zu gewöhnt, dass Jungen bis zur Adoleszenz weit mehr als Mädchen die psychiatrischen und psychotherapeutischen Ambulanzen mit ihren Aggressions-, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen füllen - 85% der Diagnose ADHS betreffen Jungen. Die internationalen Vergleichsstudien IGLU und PISA haben es jüngst auch für die Bildung zum wiederholten Male an den Tag gebracht: 15 jährige noch stärker als 10 jährige männliche Schüler sind vergleichsweise lese- und reflexionsschwach und für die Anforderungen des beschleunigten sozialen und schulischen Wandels in unserer Kultur schlecht ausgestattet. Das statistische Jahrbuch 2007 bestätigt den Trend in Zahlen: Waren vor zwanzig Jahren 57 Prozent der Abiturienten männlich, so sind es heute 43 Prozent. Hauptschulabgänger sind aktuell 62 Prozent männlichen und 38 Prozent weiblichen Geschlechts. An einer Studie des Instituts für analytische Kinder- Jugendlichen Psychotherapie und des Instituts für Sozialforschung Frankfurt "Konfliktgeschichten nicht beschulbarer Jugendlicher" (von Freyberg, Wolff) nahmen bis auf eine Ausnahme nur männliche Jugendliche teil.

Auch wenn wir schon lange wissen, dass viele Jungen unflexibler als Mädchen sind, dass sie in jungen Jahren eher motorisch als symbolisch orientiert sind, sie lieber laut mit Pistolen und Fußbällen schießen als ruhig zu malen und zu lesen, ihre Rivalität lieber körperlich konkret mit Fäusten austragen als im sprachorientierten sozialverträglichen Diskurs, lieber Horrorfilme sehen als Pferdebücher lesen, so erstaunt doch die Breite des Phänomens. Männliche Schüler werden den Anforderungen einer sich wandelnden Bildungslandschaft im Gruppenkontext einer Schulklasse immer weniger gerecht.

Was ist los mit den zukünftigen Männern unserer Gesellschaft?

Erste Erklärungsansätze verbinden neurobiologische und psychoanalytische Erkenntnisse. Der Neurobiologe Gerald Hüther sieht einen Grund in der genetischer Ausstattung von Jungen: "Im Gegensatz zum weiblichen verfügt das männliche Geschlecht nicht über ein Duplikat für jedes seiner Chromosomen. Statt eines zweiten X-Chromosoms besitzt es ein Y-Chromosom. Wenn dieses nur einmal vorhandene X-Chromosom oder Teile davon oder bestimmte in den Chromatiden komprimierte DNA-Sequenzen aus irgendeinem Grund nicht optimal beschaffen sind, existiert dafür - im Gegensatz zu den Bedingungen in einer weiblichen Zygote - kein Ersatz. Defizitäre Anlagen auf dem X-Chromosom sind nicht kompensierbar. Das ist um so bemerkenswerter, als auf dem X-Chromosom besonders viele Gene lokalisiert sind, die für die Entwicklung von Intelligenz und geistiger Leistungsfähigkeit von Bedeutung zu sein scheinen." Auch die schon in der achten Schwangerschaftswoche beginnende Anflutung mit dem Sexualsteroid Testosteron führt mit zur konstitutionellen Empfindlichkeit des Jungen.

Ist die Schwäche des männlichen Geschlechts also konstitutionell festgelegt und wurde durch das lange Zeit herrschende Patriarchat nur überdeckt? 
So weit würde die Neurobiologie nicht gehen. Denn durch die jüngste Entwicklung bildgebender Verfahren weiß man, dass die Strukturen des Gehirns sich erst nach der Geburt im Rahmen der frühen Beziehungserfahrungen nutzungsabhängig ausbilden. So geht Hüther davon aus, dass Jungen aufgrund ihrer Vulnerabilität mehr noch als Mädchen eine stabile Familie brauchen, die den Jungen mit konstanten Bindungserfahrungen und männlichen Orientierungsvorbildern versorgt. Stabile hirnorganische Bahnungen und vielfältig vernetzte Synapsenverbindungen als Grundlage emotionaler und kognitiver Flexibilität und Festigkeit sind auf haltende und differenzierte frühkindliche Beziehungen in einer sicheren Umwelt angewiesen.

Die Erfahrung von Stabilität und Flexibilität in einer triadischen Beziehungskonstellation sind auch für die Entwicklungspsychologie der Grundpfeiler einer gesunden Kindesentwicklung. Eine aufwendige psychoanalytische Langzeitstudie an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Basel (D. Bürgin, K. v. Klitzing) konnte zeigen, dass Jungen um so weniger aggressive Konfliktlösungsmodelle im Alter von vier Jahren benutzen, je eingebundener und positiv erfahrbarer der Vater in dem familiären Dreieck Vater-Mutter-Kind ist. Es zeigt sich, dass die Verinnerlichung von Beziehungsmustern, die sich aus Interaktionserfahrungen sowohl mit der Mutter wie mit dem andersartigen männlichen Dritten bilden, der Persönlichkeit eine sowohl stabile wie flexible Struktur ermöglicht. Die Qualität dieser "Triangulierung", der Fähigkeit, im Geiste verschiedene Perspektiven einnehmen zu können und gegeneinander abzuwägen, hat sich als Dreh- und Angelpunkt der emotionalen und kognitiven Entwicklung des Kindes gezeigt. Bei der Bildung dieser triangulären Kompetenz, so ein erstaunliches Ergebnis des Basler Forschungsprojekts, sind Jungen stärker als Mädchen abhängig vom familiären Umfeld und insbesondere von der Sicherheit und Flexibilität vermittelnden Präsenz eines Vaters, der mit der Mutter liebevoll verbunden ist. Den Zusammenhang zwischen kognitiv - schulischer Fähigkeit und triangulär flexibler Objektbeziehungsstruktur untersucht aktuell ein Forschungsprojekt am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt (J. Ruth, D. Katzenbach, F. Dammasch).

Im Rahmen einer Vortragsreihe des Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie Hessen an der Fachhochschule Frankfurt waren sich die vortragenden Wissenschaftler überwiegend einig darin, dass den beunruhigten Jungen die liebevoll engagierten Väter fehlen, die im spielerischen ödipalen Kampf den Söhnen ihre Grenzen zeigen, zur Trennung von der Mutter und zur männlichen Identifikation einladen. 
Immer mehr Jungen erleben aber in den ersten zehn Lebensjahren auch in den pädagogischen Institutionen keine männlichen Bezugspersonen. Sie werden in Krippen, Kindergärten und Grundschulen ausschließlich von Frauen erzogen. So fehlt es den Jungen an professionellen männlichen Identifikationspersonen, an positiver Spiegelung und sozialer Anerkennung männlicher Interaktionsmuster, was um so gravierender ist, wenn auch innerhalb der Familie keine spielerische Auseinandersetzungs- und Identifikationsmöglichkeit mit einem Vater möglich ist. Jungen brauchen neben der notwendigen erzieherischen Begrenzung mehr noch die Erfahrung der Formung ihrer Affekte und Triebwünsche in einem emotional spielerischen Dialog mit einer bedeutungsvollen Bezugsperson, die das spezifisch männliche, das motorisch-aggressive des Jungen akzeptiert. Im Idealfall ist das der seinen Sohn liebende Vater.

Die innere Einstellung und das Engagement des Vaters, der mit seinem Sohn mehr unternimmt, als Fußball zu spielen und vor dem Fernseher zu hocken, ist ein Schlüssel zur Entwicklung einer flexiblen männlichen Identität. Wo der Vater zuhause fehlt, brauchen die Söhne alleinerziehender Mütter engagierte Männer in der Krippe, im Kindergarten und in der Grundschule. Die personelle und inhaltliche Feminisierung der Bildung mag auch ein Grund dafür sein, dass sich viele Jungen mit ihren speziellen Vorlieben und Vorstellungen nicht ausreichend wahrgenommen und anerkannt fühlen. Typische Verhaltensmuster von Jungen, noch vor einiger Zeit vielleicht milde positiv geduldet - "so sind die wilden Kerle halt" - werden in der weiblich dominierten Pädagogik, die immer stärker unter Druck steht, schon Kleinkinder leistungsmäßig zu fördern, zunehmend zu störendem Verhalten.

Während das Mädchen sich in seiner Weiblichkeit positiv gespiegelt erleben kann, sowohl von der Mutter als auch von den Erzieherinnen im Kindergarten und den Lehrerinnen in der Grundschule, fehlt dem Jungen eine solche Sicherheit und Vielfalt vermittelnde Spiegelung seiner männlichen Identität durch Frauen und Männer. Die mangelnde positive Anerkennung männlicher Interaktionsmuster führt häufig zu einer Orientierung an schlichten phallischen Leitbildern. So neigen viele Jungen und Männer dazu, ihre labile männliche Identität durch eindimensionale, großartige, kämpferische Männlichkeitsbilder zu stabilisieren. Killerspiele mit phallischen Waffen und dauererigierte Hardcore-Pornographie werden fast ausschließlich von männlichen Jugendlichen konsumiert. Auch sogenannte Amokschützen sind immer männlichen Geschlechts.

Jungen neigen dazu, frühe Mangelerfahrungen durch den Aufbau einer Illusion narzißtischer Unabhängigkeit und phallischer Größe abzuwehren: Das früher stilbildende und positiv anerkannte starre Männerbild des "lonesome rider" läuft aber in der flexibilisierten, leistungsorientierten Pädagogik und in der sich rasant wandelnden kommunikativen Dienstleistungsgesellschaft zunehmend ins Leere. Kleine und große Männer scheinen mehr als Mädchen und Frauen tendenziell überfordert mit den Zumutungen des sozialen und pädagogischen Wandels. So gesehen lassen sich die störenden Jungen auch als Stachel des Nichtidentischen begreifen, die quasi einen Bremsklotz bilden gegen die Beschleunigungs- und Bildungseuphorie der Moderne, unter der ja zunehmend nicht nur Jungen leiden.

Januar 2008

* Autor: Frank Dammasch, Dr. phil., Diplom Soziologe und Pädagoge, Professor an der Fachhochschule Frankfurt, niedergelassener Kinder u. Jugendlichen Psychotherapeut in Frankfurt am Main
Buchtipp: F. Dammasch (Hrsg.): Jungen in der Krise - Das schwache Geschlecht?, Frankfurt 2008, Brandes und Apsel Verlag 
Prof. Dr. Frank Dammasch