Einer der frühen und bis heute bedeutendsten Theoretiker der Moderne ist Max Weber, der Vater der verstehenden Soziologie. Als ein zentrales Merkmal der Moderne hat er den Prozeß der Rationalisierung (Weber 1922) beschrieben, der das gesamte Leben ergreift und der auf dem seit dem Beginn der Neuzeit zur Entfaltung gelangten Prinzip der formalen Rationalität beruht. Formale Rationalität zeichnet sich aus durch Effizienz, Vorhersagbarkeit, quantitative Erfaßbarkeit und Kontrolle durch Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft durch nichtmenschliche Technologie.
Obwohl diese Grundsätze zuerst in der Produktion von Wirtschaftsgütern verwirklicht worden sind, sind sie nicht auf die wirtschaftliche Sphäre beschränkt geblieben. Rationalisierungsprozesse haben staatliche und private Verwaltungsstäbe erfaßt und ihnen ihre spezifische Rationalität gebracht, Max Weber hat sie als Bürokratien untersucht und die bürokratische Herrschaft als eine moderne Form der Herrschaft aufgefaßt. Als eine den wirtschaftlichen Rationalisierungen korrespondierende Geisteshaltung entwickelte sich bereits im 16. Jahrhundert eine spezifische Gesinnung, die auch in der Welt der Überzeugungen, der Normen und Werte die formale Rationalität als Grundlage ansah - die protestantische Ethik, der Max Weber (1920) viele Studien gewidmet hat.
1. Industrialisierung
Die Anwendung der Rationalisierungsprinzipien auf den Bereich der Produktion führte zur Industrialisierung. Über die erste Stufe der Industrialisierung, die Manufakturen, hinaus entstanden immer weiter entwickelte und immer stärker durchrationalisierte industrielle Produktionsweisen, die sich von Beginn an mit einer wirtschaftlichen oder materialen (Weber 1922, S. 44f) Rationalität verbanden. Die Produktionssphäre trat damit immer mehr in den Vordergrund und bestimmte immer weitere Lebensbereiche.
Da Industrialisierung in ihrer Komplexität und Folgewirkung nicht nur den Bereich der Arbeitsorganisation, sondern auch weitere gesellschaftliche Bereiche erfaßt, ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen der Industrialisierung zu berücksichtigen:
- Technisch-prozessuale Industrialisierung (Arbeitsorganisation - Arbeitsteilung, Standardisierung, Mechanisierung, Automatisierung, Zeittaktung; Kontrollprozeduren)
- Strukturelle Industrialisierung (Schaffung ökonomisch rationaler Produktionseinheiten)
- Ideologische Industrialisierung (Veränderung ethischer und moralischer Maximen, der gesellschaftlichen Normen und Werte)
Nach diesen allgemeinen Vorbemerkungen möchte ich mich auf Industrialisierungsprozesse in der Medizin konzentrieren.
1.1. Technisch-Prozessuale Industrialisierung
Eine prozessuale Industrialisierung hat in verschiedenen Gebieten der Medizin seit längerem Einzug gehalten, und zwar dort, wo die ärztlichen Verrichtungen technisch basiert sind. Das ist insbesondere in der Labormedizin so, wo die Analytik selbst fast nur noch technisch-apparativ durchgeführt wird, sie wird von ärztlichem Hilfspersonal, den MTAs, in Gang gesetzt und wie eine Fließbandproduktion überwacht. Den Ärzten bleibt nur noch die Befundbewertung bei auffälligen Laborwerten, die mit informationstechnologischen screening-Methoden aus der ungeheuren Datenmenge isoliert werden.
In geringerem Maße haben sich industrietypische Rationalisierungsprozesse auch in anderen medizinischen Fächern etabliert, etwa in der Radiologie. Auch dort werden die technischen Verrichtungen weitgehend von medizinischem Hilfspersonal ausgeführt, in vielen Fällen sieht der Radiologe den Patienten selbst nicht mehr, sondern beschränkt sich auf die Befundung der Bilder. In diesen Praxen hat sich ein charakteristischer Vorgang der Industrialisierung weitgehend durchgesetzt, die Aufteilung des gesamten Arbeitsvorganges, hier der Untersuchung, in arbeitsteilige Subprozesse, von denen die standardisierbaren an kostengünstiges Hilfspersonal delegiert werden.
Weitere Momente der Industrialisierung werden inzwischen durch die Gebührenordnung in die ärztliche Praxis eingeführt, nämlich die Zeittaktung und die Standardisierung von Behandlungen durch die Behandlungspauschale.
Erstmals ist im EBM 2000+ eine Kalkulation der ärztlichen Leistungen auf der Grundlage des Zeitbedarfs und des technischen Aufwandes für eine Leistung erfolgt. Auch wenn es nicht ausgesprochen ist, wird damit eine zeitliche Normierung eingeführt.
In der Betriebswirtschaftslehre dienen als kalkulatorische Grundlage für die Berechnung der Kosten eines Gutes die Stückkosten. Sie werden auf ein abgrenzbares Stück oder auf eine definierte Einheit eines Gutes bezogen. Aus ihnen ergibt sich der Verkaufspreis für ein Gut umgerechnet auf ein Stück, der zur Erzielung eines Gewinns notwendig ist. Mit der Einführung von Behandlungspauschalen, die sich aus der Aufstellung von Fallpunktzahlen pro Quartal ergeben, wird ein ähnliches Prinzip in die ärztliche Praxis eingeführt. Jeder Patient erhält ein begrenztes Stück des Gesamtgutes "Ärztliche Leistung", die Krankenkasse entrichtet über die KV zuvor kalkulierte Stückkosten pro Patient.
Der Arzt hat seine Praxiskosten so zu kalkulieren, daß ihm pro Stück Patient ein Überschuß verbleibt, zumindest aber die Kosten gedeckt werden. Allerdings ist nicht mehr der Arzt ein freier Anbieter von Gesundheitsleistungen, sondern diese werden von der Krankenkasse an die Versicherten verkauft. Der Arzt ist wie das Krankenhaus oder der Physiotherapeut ein Zulieferer für die Krankenkasse. Wegen der monopolartigen Stellung der GKV-Kassen auf dem Gesundheitsmarkt, unterstützt an verschiedenen Stellen durch die Bundesregierung, unterliegen die Ärzte einem Preisdiktat in einer ähnlichen Weise wie die Zulieferindustrie im Automobilsektor. Auch dort ist die Zulieferindustrie auf die wenigen Abnehmer ihrer Produkte, die Automobilfirmen, angewiesen. In der Regel haben sie nicht die Möglichkeit einer freien Aushandlung ihrer Preise, sondern haben die Vorgaben eines Autokonzerns, für den sie produzieren, zu berücksichtigen.
Eine Standardisierung von ärztlichen Leistungen erfolgt aber auch über die Qualitätssicherung (QS). Vorbild der QS ist die Industrienorm DIN/ISO 9000. Es handelt sich eigentlich um eine Normenreihe, ISO 9000, 9001, 9004 und 19011, die die Struktur eines Qualitätsmanagement Systems und seine Überprüfung beschreiben. Die Einführung eines Qualitätsmanagement Systems ist inzwischen für Arztpraxen vorgeschrieben. Die diagnostischen und therapeutischen Abläufe werden immer mehr in Leitlinien konzipiert. Die Leitlinien besitzen nach juristischer Auffassung eine normative Potenz, die im Falle von Regreßforderungen relevant wird. Die Abweichung von den Leitlinien muß gut begründbar sein, wenn ein Regreßanspruch abgewiesen werden soll. Das birgt die Gefahr, daß die Erfüllung der Leitlinien in der ärztlichen Praxis mehr zählt, als die auf den Patienten individuell abgestimmte Behandlung, die mit Hilfe von Leitlinien eventuell verfeinert und überprüft werden könnte. Auch diesem Verständnis ärztlichen Handelns liegt ein industrielles Denken zugrunde, nämlich die Annahme, individuelle Prozesse des Lebendigen seien in Diagnostik und Therapie standardisierbar zu steuern wie industrielle Prozesse.
1.2. Strukturelle Industrialisierung
Die strukturelle Industrialisierung wird von zwei Seiten verfolgt: Zum einen von den Zahlern im Gesundheitssystem, d.h. von den Krankenkassen, die sich in diesem Falle durch die Bundesregierung vertreten lassen. Das Interesse der Krankenkassen und der Bundesregierung ist es, durch die Schaffung von größeren Struktureinheiten Kosten einzusparen.
Zum anderen von Investoren und Kapitalgebern, die daran interessiert sind, die im Gesundheitswesen zu erzielenden Gewinne für sich zu requirieren. Tatsächlich gibt es im Gesundheitssystem erhebliche Rationalisierungsreserven, die zu aktivieren sind, wenn die Zersplitterung des Gesundheitswesens in viele unterschiedliche Subsysteme und Kleinststrukturen überwunden wird. Allerdings geht dabei in den meisten Fällen auch die persönliche Beziehung zwischen Arzt und Patient verloren.
Ein Beispiel für die Schaffung großer, auf Rationalisierungsgewinne zielender Strukturen ist der Fresenius Konzern. Hervorgegangen aus einem mittelständischen Betrieb für die Produktion von Krankenhausbedarf mit einem Schwerpunkt auf Dialyseprodukten, ist er inzwischen zu einem Gesundheitskonzern mit mehr als 10 Milliarden EUR Umsatz jährlich geworden, bei weiterhin rasanten Wachstumsraten. Er erzielt ungeheure Rationalisierungsgewinne dadurch, daß er eine ganze Produktions- und Versorgungskette sich in einer Hand bündelt: Produktion von medizinischen Produkten, Durchführung medizinischer Dienstleistungen im stationären und ambulanten Bereich für Dialysepatienten, stationäre Akut- und Reha-Behandlungen in den Helios-Kliniken bzw. den Wittgensteiner Kliniken. Der nächste Schritt ist der Einstieg in die ambulante Versorgung durch die Einrichtung medizinischer Versorgungszentren, der MVZs. Damit wäre ein geschlossener Versorgungskreislauf vorhanden: ambulante Behandlung, Zuweisung zu den Spezialdiensten wie Dialyse, Belieferung der Dialyseeinheiten mit eigenen Produkten, eventuell Einweisung in eine Akutklinik des Konzerns, Anschlußheilbehandlung in einer Rehaklinik des Konzerns, Rückverweisung bei Entlassung an das MVZ des Konzerns.
Eine ähnliche Entwicklung nimmt der Röhn-Klinikum-Konzern, der seinen Ausgang von Reha-Kliniken genommen hat, inzwischen der größte private Klinikkonzern in Deutschland geworden ist und mit den Unikliniken Gießen/Marburg ein Universitätsklinikum erworben hat.
Auch andere Großkonzerne haben den Gesundheitssektor als ungewöhnlich lukrativ entdeckt.
Ich möchte dazu ein Beispiel aus der medizinischen Hochtechnologie nennen, nämlich den Siemenskonzern, und einen chemischen Großkonzern, Bayer, der seit langem in der Pharmaproduktion tätig ist.
Der Siemenskonzern ist ein in vielen Feldern tätiger Konzern, der sich von einem Elektrotechnik-Konzern zu einem in nahezu allen modernen Technologien tätigen Konzern weiterentwickelt hat. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat er sich zunehmend in der Medizintechnik engagiert und ist z.B. inzwischen einer der weltweit führenden Hersteller von Geräten zur Computertomographie. Die medizintechnischen Aktivitäten sind im Konzern zusammengefaßt in dem Bereich Medical Solutions. Dieser Bereich ist einer der ertragreichsten des Konzerns, sein Anteil am Konzerngewinn beträgt inzwischen über 20% und seine Aktivitäten sollen gemäß den Entwicklungsplänen vorrangig ausgebaut werden. Auch im Bayer-Konzern trägt der Gesundheitsbereich überproportional zum Konzerngewinn bei.
Der medizinbezogene Umsatz allein der drei Firmen Fresenius, Siemens und Bayer betrug im Jahre 2006 EUR 30,728 Milliarden. Das sind 5 Mrd Euro mehr, als für ärztliche Leistungen im GKV-System gezahlt worden ist, nämlich 25,87 Mrd Euro. Der gesamte industrielle Umsatz im Bereich des Gesundheitssektors in Deutschland liegt natürlich um ein Mehrfaches höher. Das macht deutlich, welche ökonomischen Interessen inzwischen im Gesundheitssektor wirken und wesentlich zu seiner Ökonomisierung beigetragen haben. Gleichzeitig wird deutlich, wohin inzwischen ein großer Teil der Gelder aus dem Gesundheitssektor fließt. Denn die Bezahlung der Konzerne erfolgt über verschiedene Zwischenstufen aus dem Gesundheitssektor - die duale Finanzierung der Krankenhäuser ist seit längerem zusammengebrochen, so daß sie auch ihre investiven Ausgaben aus den Leistungseinnahmen bestreiten müssen. Im ambulanten Bereich gilt das seit jeher.
In der Vergangenheit war es ein Prinzip der medizinischen Versorgung, zumindest im ambulanten Bereich kleine Strukturen zu fördern, auch um den Beruf des Arztes und des Apothekers als freie Berufe zu erhalten. Freiberuflich zu sein heißt ja nicht nur, ökonomisch frei zu sein, sondern auch von einflußnehmenden Interessen frei zu sein. Diese Position hat dem Arzt seine Vermittlerrolle zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ermöglicht, etwa bei der Frage einer Krankschreibung. So konnte er gemäß medizinischen Kriterien und nicht gemäß der Auftragslage eines Arbeitgebers über die notwendigen Behandlungsmaßnahmen entscheiden. Der Status des freien Berufes für Ärzte wird mit der strukturellen Industrialisierung immer weiter eingeschränkt und immer seltener. Dadurch, daß Großorganisationen und Gesundheitskonzerne über Ambulanzen und MVZs in die ambulante Versorgung einsteigen, wird der selbständige Arzt verschwinden. Es ist eine Kombination von ökonomischen und gesetzlichen Einflüssen, die das bewirken. Ohne Zweifel liegt eine solche Entwicklung im Interesse der Großindustrie, zum einen, weil sie dadurch die bisher in den Arztpraxen verbliebenen Gewinne akquiriert, zum andern, weil damit der medizinische Sektor als extraterritoriales Gebiet in den gesellschaftlichen Machtkämpfen verschwindet, bisher geschützt durch Einrichtungen wie die Schweigepflicht, die ärztliche Unabhängigkeit und die freie Arztwahl. Der angestellte Arzt ist natürlich kein unabhängiger Arzt mehr, sondern er unterliegt unterschiedlichen Einwirkungen, im Sinne seines Arbeitgebers zu entscheiden.
Im Bereich der pharmazeutischen Versorgung scheint die Entwicklung etwas weiter fortgeschritten zu sein als in der ärztlichen Versorgung. Der pharmazeutische Großhandel hat sich in den zurückliegenden 10 - 15 Jahren immer weiter konzentriert. Aus einer genossenschaftlichen Handelsorganisation für Apotheker wurde irgendwann eine Aktiengesellschaft, die Gehe AG. Sie expandierte, indem sie andere Großhändler übernahm. Ab Beginn der 90er Jahre übernahm sie auch Pharmafirmen wie Jenpharma, Aliudpharma u.a.m. Dann kaufte sie eine Apothekenkette in Großbritannien, übernahm weitere Pharmagroßhandelsfirmen und benannte sich schließlich um in Celesio AG. Im Jahre 2006 erzielte die Celesio AG einen Umsatz von 21,6 Mrd Euro. Um auch in Deutschland, wo Apothekenketten noch verboten sind - die maximale Größe sind hier 4 Apotheken - in den Einzelhandel einsteigen zu können, kaufte im April d.J. Celesio die größte europäische Internet- und Versand-Apotheke, Doc Morris, mit Firmensitz in den Niederlanden. Damit ist jetzt die Kette von der Produktion über den Großhandel bis zum Einzelhandel innerhalb eines Konzerns geschlossen. Ein maximal profitabler Großkonzern ist entstanden, der bei einer weiteren Öffnung des Apothekenmarktes mit Sicherheit auch Standortapotheken übernehmen wird. Auch im Pharmabereich verschwindet mit den Apothekern ein freier Beruf des Gesundheitsbereiches.
Angesichts dieser Entwicklungen ist es sinnvoll, von einem medizinisch-industriellen Komplex zu sprechen, der die Entwicklungen und künftigen Strukturen im Gesundheitssektor wesentlich prägen wird.
1.3. Ideologische Industrialisierung
Die Industrialisierung braucht eine ihr entsprechende Denkweise. Die Entwicklung entsprechender ethischer und moralischer Maximen nenne ich die ideologische Industrialisierung. Ideologische Industrialisierung meint, ein Wertesystem zu schaffen, das den Grundsätzen der Industrialisierung auch außerhalb der Produktionssphäre in den sozialen Beziehungen der Menschen Geltung verschaffen will, also: ökonomische Rationalisierung, Quantifizierung, Funktionalisierung und Technisierung, Standardisierung. Das wird paradoxerweise erreicht durch eine Entwicklung, die gerade das Gegenteil zu versprechen scheint, einem gesellschaftlichen Individualisierungsprozess (Beck 1986). Er führt zu einer Freisetzung der Menschen aus ihren traditionellen sozialen Bindungen, vereinzelt sie, aber damit werden sie zu den neuen, von der modernen industriellen Produktion verlangten flexiblen Menschen (Sennett 1998).
Merkmale der ideologischen Industrialisierung in der Medizin sind
- Orientierung medizinischen Handelns an ökonomischen Zielen,
- Aufgabe des Ideals der Humanität in der Medizin, d.h. der Erhaltung und Verbesserung von menschlichem Leben ohne Rücksicht auf Kostenerwägungen,
- Ein maschinelles oder technisches Menschenbild,
- Die Berechnung des Wertes menschlichen Lebens nach einem ökonomischen Wert anstelle der Betonung seines absoluten ideellen Wertes,
- Die Rationierung medizinischer Leistungen auf der Grundlage von Wertzumessungen für ein Restleben,
- Die Rechtfertigung einer gezielten Beendigung für "wertlos" erachteten Lebens.
Seit Jahren gehen alle Reformdiskussionen in der und um die Medizin nur noch um Fragen der Kostensenkung. Auch die Ärzte selbst haben es inzwischen anscheinend aufgegeben, den Gesichtspunkt der Humanität in der öffentlichen Diskussion zu betonen und präsent zu halten, so daß die Medizin inzwischen fast völlig von rein ökonomischen Denken beherrscht wird.
Viele Fachgebiete in der Medizin haben sich zu technisch dominierten Fächern entwickelt, in denen die Honorare durch technische Leistungen erhöht werden können. Vielfach ist daher die Technik in der Diagnostik zwischen Arzt und Patient getreten, sie ersetzt in vielen Spezialgebieten die Anamnese, die körperliche Untersuchung und die Arzt-Patienten-Beziehung. Nicht wenige Ärzte haben ein Maschinenbild vom Menschen, das hervorragend mit den Zielen der Industrie korrespondiert.
Auch in einigen Ländern Westeuropas haben sich inzwischen Rationierungen medizinischer Leistungen entwickelt. In Großbritannien etwa erhalten Patienten, die älter als 65 Jahre sind, keine Herzoperationen mehr. In den Niederlanden wird die ambulante Versorgung weitgehend von Hausärzten versehen, die in ihren Praxen eine Basisausstattung besitzen, mit der eine teure Diagnostik nicht durchgeführt werden kann. In Kombination mit einem Einschreibsystem, das einen bestimmten Betrag pro Patient pro Jahr garantiert, der auch andernorts erbrachte diagnostische Leistungen beinhaltet, rationiert jeder Arzt selbst die Maßnahmen, um seinen Überschuß möglichst wenig zu schmälern.
Die Niederlande sind auch das Land, zusammen mit Belgien, das bisher am weitesten mit der gezielten Beendigung von Leben gegangen ist. Man könnte es so formulieren, daß sich dort eine "Lebensaustrittstechnologie" entwickelt hat, die die möglichst nebenwirkungsfreie Tötung der Menschen anstrebt. Die gesetzlichen Bestimmungen erlauben die Tötung von Menschen, die unheilbar krank sind und selbst den Tod wünschen. Dazu ist die Untersuchung und Dokumentation durch zwei von einander unabhängige Ärzte erforderlich, ferner die Meldung der Tötungen sowie die gute Kenntnis des Kranken durch den Arzt. Anonyme Befragungen haben jedoch ergeben daß in jedem Jahr einige tausend Tötungen erfolgen, ohne daß diese Bedingungen erfüllt worden wären. In den offiziellen Statistiken der Niederlande sind 40% der euthanasierten Patienten Heiminsassen. Ihr Anteil unter den verschwiegenen Tötungen ist unbekannt (Bruns 2001).
1.4. Industrialisierung von Dienstleistungen
Lange Zeit herrschte in der Arbeits- und Industriesoziologie die Meinung, Dienstleistungen ließen sich nicht industrialisieren. Die Entwicklungen der letzten 3 bis 4 Jahrzehnte haben diese Meinung widerlegt. Eine berühmte und zumindest im Titel witzige Untersuchung dazu hat der amerikanische Soziologe George Ritzer (1993) vorgelegt. Er hat "die McDonaldisierung der Gesellschaft" beschrieben, Vorbild dafür war ihm die Arbeitsorganisation der Fast Food-Kette McDonalds, die die gesamte Abfolge von der Beschaffung der Nahrungsgrundstoffe über die Verarbeitung und Zubereitung bis zum Verkauf in einem industriellen Stil rationalisiert und standardisiert hat.
Auch andere Dienstleistungsbereiche werden zunehmend in einer solchen Weise rationalisiert. Ich habe bereits die Versandapotheke Doc Morris erwähnt, dort wird die Abgabe von Medikamenten rationalisiert. In Bremen hat in den letzten Wochen ein privater Pflegedienst den Start unter dem Namen McPflege versucht. Nach breiten öffentlichen Protesten hat er sehr schnell wieder geschlossen. Die Verantwortlichen wurden kritisiert, weil sie billige Arbeitskräfte aus Osteuropa zu einem Lohn von 2 Euro/Stunde beschäftigten. Aber der Billiglohn ist ein Merkmal der Rationalisierung. Auch ärztliche Leistungen werden rationalisiert, wenn Ärzte sich immer weiter spezialisieren, ihr begrenztes Feld aber mit einer maximalen Routine ausüben. Eine junge Kollegin erzählte mir kürzlich nach einem Aufenthalt in Toronto von der dortigen hochgradigen Spezialisierung. In einer neurologischen Klinik z.B. wurde die neurologische Untersuchung so aufgeteilt, daß ein Arzt zum Beispiel nur noch Lumbalpunktionen durchführt.
2. Auswirkungen auf die Psychotherapie
Welche Bedeutung haben diese Industrialisierungsprozesse für die Psychotherapie? Als Psychoanalytiker verstehe ich seelische Erkrankungen als Ausdruck eines unbewußten Konfliktes, der in der Biographie des Patienten wurzelt. Um ihm helfen zu können, muß ich den Zusammenhang zwischen der Erkrankung, der Biographie und der aktuellen Lebenssituation verstehen. Es ist also ein ganzheitliches Verständnis des Patienten als Person mit seinen sozialen Beziehungen, seiner persönlichen Geschichte und seinem Unbewußten notwendig, die psychische Symptomatik kann daher nicht isoliert betrachtet werden. Ihre Überwindung ist in der Regel nur durch Berücksichtigung und Veränderung weiterer Lebensumstände des Patienten möglich.
Diese Sichtweise steht jedoch konträr zu aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen, den Menschen zu instrumentalisieren, zu partikularisieren und zu funktionalisieren. Innerhalb dieser Tendenz ist es nicht das Ziel, Menschen zu einer Selbstverwirklichung kommen zu lassen, sondern sie optimal für Arbeitsabläufe einsetzen zu können. Arbeits- und Produktionsprozesse sowie Gewinnmaximierung stehen im Vordergrund. Bei Erkrankungen soll die ärztliche Behandlung sie wieder für den Arbeits- und Produktionsprozess fit machen, und zwar möglichst schnell. Dieses Ziel zeigte sich in den öffentlichen Diskussionen der letzten Jahre um Krankheits- und Fehlzeiten. Die Diskussion hat einen Druck sowohl auf Patienten wie Ärzte aufgebaut, die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit möglichst kurz zu halten. Tatsächlich liegt gegenwärtig der Krankenstand in Deutschland so niedrig wie noch nie seit 1970, nämlich bei 3,31 % nach einem langjährigen Schwanken in den 70er und 80er Jahren zwischen 4,4 und 5,7 % (BMG 2007 S. 2). Die Medizin wird in dieser Betrachtung lediglich als Reparaturbetrieb für vorübergehend ausgefallene Arbeitskräfte betrachtet. Krankheit als Ausdruck einer Lebenskrise, eines Sinnverlustes oder eines unabweisbaren Bedürfnisses nach Selbstbesinnung aufzufassen hat darin keinen Platz. Aus der psychosomatischen Medizin wissen wir aber, daß auch körperliche Erkrankungen oft Ausdruck solcher Krisen sind. Noch mehr gilt das für psychische Erkrankungen.
Diese Auffassung führt dazu, daß wir eine Behandlung mit dem Verschwinden der initialen Symptome nicht automatisch für abgeschlossen halten, sondern uns bewußt sind, daß die in ihnen geronnenen Konflikte jetzt erst zugänglich sind, in der Übertragung oder in anderen sozialen Beziehungen zu Menschen, die dem Patienten nahestehen. Jetzt werden sie auf dieser Ebene bearbeitbar, nämlich als Beziehungskonflikte. Diese Phase der Bearbeitung oder Durcharbeitung ist eine notwendige Phase, um symptomatische Verbesserungen zu stabilisieren. Aus der Psychotherapieforschung ist bekannt, daß die Stabilität von Behandlungserfolgen mit Dauer der Behandlung zunimmt, d.h. wenn nach der symptomatischen Besserung ein Durcharbeiten auf der Ebene der Beziehungen erfolgt. Tiefgreifende Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur der Patienten werden auch erst dann möglich.
Seitens der Geldgeber gibt es aber ein Interesse an kurzen Behandlungen, wie der Vorschlag der Techniker Krankenkasse zur Qualitätssicherung psychotherapeutischer Leistungen - das sogenannte TK-Modell - deutlich macht. Darin war vorgesehen, daß Patient und Therapeut regelmäßig Rückmeldungen an ein Team von Gutachtern geben, die jeweils in Kontingenten von 10 Stunden einer Fortsetzung der Behandlung zustimmen konnten. Bei einem Verschwinden der Symptome sollte die Behandlung sofort aufhören. In diesem Modell wird die Zerstückelung der Behandlung in kleine Partien, die Kontrolle von außen und die möglichst frühzeitige Beendigung unter isolierter Berücksichtigung der Symptome klar. Es geht nicht mehr darum, dem Patienten eine bessere Bewältigung seiner psychischen Konflikte zu ermöglichen, was nachhhaltig präventiv wirksam wäre, sondern nur um die Beseitigung dysfunktionaler Symptome.
Damit wird deutlich, daß es nicht nur um die Frage der Kostenminimierung für die psychische Reperatur eines konkreten Patienten geht, sondern um das grundsätzliche Konzept von psychischer Krankheit und Behandlung. Ist psychische Krankheit etwas, was im Auftreten störender Symptome, etwa von Panikattacken oder Zwangssymptomen besteht, oder sind die Symptome Ausdruck einer tiefergehenden Erkrankung, Erschütterung und Verunsicherung, die mit der Überwindung der Symptome nicht automatisch erledigt sind? Sollte Behandlung sich auf die Beseitigung der Symptome oder auch auf die Überwindung der Prädispositionen beziehen?
Dazu ein Fallbeispiel: Ein 42jähriger Mann sucht mich wegen Panikattacken auf. Er arbeitet im mittleren Management eines internationalen Konzerns, gilt dort als ein hoffnungsvoller Jungmanager, dem viele Möglichkeiten offenstehen, er wird für die Zukunft für verschiedene Posten gehandelt. Er selbst ist ehrgeizig und strebt auf die nächste Stufe der Betriebshierarchie. Bei einer Präsentation vor Kollegen in Anwesenheit seines Deutschland-Chefs gerät er erstmals in einen Panikzustand und muß abbrechen. Der Hausarzt untersucht ihn, schreibt ihn krank und verordnet Betablocker. Da damit kaum eine Besserung eintritt, überweist er ihn an mich. In der Untersuchung bei mir wird deutlich, daß er in den Wochen vor der ersten Panikattacke unter dem Einfluß einer mehrfachen Verunsicherung und Erschütterung stand. Er hat wenige Tage vor der Panikattacke das Angebot bekommen, auf eine Position in seinem Konzern im Ausland aufzusteigen; er steht unmittelbar vor dem Umzug in ein kurz zuvor erworbenes und mit erheblichem Aufwand umgebautes Haus; seine Frau möchte nicht ins Ausland; ein gleichaltriger Cousin ist mit einem Herzinfarkt zusammengebrochen und liegt seit Wochen komatös auf einer Intensivstation; der Vater eines Freundes seines Sohnes ist gerade an einer sehr schnell verlaufenen Krebserkrankung verstorben.
Es zeigt sich, daß die Krankheitsereignisse bei den gleichaltrigen Männern sein Körpergefühl der Unverletzlichkeit erschüttert haben. Er kann den Konflikt zwischen seinen Karrierewünschen und -aussichten auf der einen Seite, und der Ablehnung der Auslandsversetzung durch die Ehefrau, verbunden mit dem eigenen Wunsch nach dem Einzug ins neue Haus auf der anderen Seite, nicht lösen. Die Panikattacke mit Herzrasen, Blutdruckerhöhung, Todesangst verschafft ihm eine Auszeit in diesem Konflikt und drückt gleichzeitig aus, daß er in einer unbewußten Identifikation mit den zwei andern Männern sein Gefühl der körperlichen Integrität verloren hat.
Unter Fokussierung auf diesen aktuellen Konflikt habe ich mit dem Patienten eine Kurzzeittherapie (KZT) durchgeführt, obwohl es eine Reihe von Hinweisen auf eine tieferliegende Verursachung seiner Angstzustände gab. Die KZT verhilft ihm zwar zu einer Besserung, aber diese ist instabil. Bei Unterbrechungen der Behandlung wie im Sommerurlaub erlebt er erneut, wenn auch seltener, Panikzustände. Als dann eine kontinuierliche Behandlungszeit von drei Monaten zu einem längeren Verschwinden der Symptome führt wagt er es die Behandlung zu beenden. Aber bereits nach zwei Monaten meldet er sich wieder. Vor einer Präsentation sind erneut die Angstsymptome aufgetreten, er hat seine Teilnahme absagen müssen und hat sich krankschreiben lassen.
Ich schlage ihm eine längerfristige analytische Psychotherapie vor, der er jetzt zustimmt. Die regelmäßigen Termine bringen schnell eine Besserung, die sich nach etwa vier Monaten auch als beständig während der Sommerferien erweist. Der Patient befindet sich inzwischen in einem intensiven psychoanalytischen Prozeß, in welchem er auch in den Ferien durch einen inneren Dialog mit mir verbunden bleibt. Nach einer mehrwöchigen Ferienunterbrechung berichtet er, daß er sich in den Ferien häufig eine Analysestunde vorgestellt habe, wenn er über sich nachgedacht habe.
Wie ist das Wiederauftreten der Symptome bei Therapiepausen, die Besserung unter der kontinuierlichen Behandlung zu verstehen? Die Erklärung liegt in der unzureichenden Konstanz der inneren Objekte des Patienten. Die Funktion der Objektkonstanz beinhaltet zumindest drei Qualitäten: 1. Die Fähigkeit, Abwesenheiten eines signifikanten Objektes, d.h. einer emotional bedeutsamen Bezugsperson, zu ertragen. Sie bildet sich aus der Erfahrung der hinreichenden physischen Präsenz eines signifikanten Objektes in sensiblen Entwicklungsphasen. 2. Die emotionale Objektkonstanz, d.h. die Fähigkeit, starke emotionale Schwankungen eines signifikanten Objektes ohne Kontaktverlust oder eigene Einbrüche ertragen zu können. Sie entsteht aus der Erfahrung einer emotionalen Erreichbarkeit sowie Berechenbarkeit und Angemessenheit der frühen signifikanten Objekte. 3. Die Stabilität der eigenen Affekte und Emotionen, d.h. die Fähigkeit, von eigenen starken Affekten nicht unter dem Verlust von Ich-Funktionen überschwemmt zu werden. Sie entsteht aus der Erfahrung, daß in sensiblen frühen Entwicklungsphasen ein die Affekte und Emotionen aufnehmendes und entschärfendes, somit beruhigendes Objekt zur Verfügung gestanden hat.
Diese letzten beiden Qualitäten waren bei dem Patienten unzureichend ausgebildet. Als er etwa ein Jahr alt war, begannen die Eltern ein Haus zu bauen; die Mutter scheint sich in dieser Zeit überfordert gefühlt und an depressiven Erschöpfungszuständen gelitten zu haben und war dadurch für den Patienten immer mal wieder emotional nicht erreichbar. Den Vater hat er aus den frühen Jahren als jemanden in Erinnerung, dar unberechenbar war und ihn mit seinen affektiven Ausbrüchen ängstigte. Aufgrund ihrer eigenen depressiven Verfassung war die Mutter nicht in der Lage, seine Ängste vor dem unberechenbaren Vater aufzunehmen und zu entschärfen. Er erlebte also überwältigende Ängste vor einem bedrohlichen väterlichen Objekt sowie in solchen Zuständen oft das Fehlen eines beruhigenden mütterlichen Objektes. Später suchte er ein beruhigendes und präsentes Objekt in seiner Ehefrau, die er sehr früh heiratete, und in diversen Suchtritualen.
Bei seiner ersten Panikattacke hatte er die Zustimmung und Unterstützung seiner Ehefrau für seine Pläne, vor allem den Wechsel ins Ausland, verloren. Er fühlte sich jetzt bei der Präsentation allein und schutzlos seinem obersten Chef ausgeliefert und fürchtete unbewußt einen affektiven Ausbruch von ihm wie früher von seinem Vater. Seine Ängste waren in dieser Konstellation für ihn nicht kontrollierbar. Er erlangte eine Kontrolle über sie, als ich in der Psychotherapie die Funktion eines schützenden und beruhigenden Objektes wahrnahm. Dieser Mechanismus funktionierte aber nur, solange ich präsent war, die strukturelle Heilung, die Stabilisierung der Funktion der Objektkonstanz konnte in der KZT nicht erreicht werden. Daher traten bei etwas längeren Unterbrechungen der Behandlung und nach der Beendigung der KZT die Angstsymptome bald wieder auf.
Die Angsterkrankung dieses Mannes ist ein Beispiel dafür, daß die Beschränkung auf die Symptombeseitigung nicht ausreichend ist. Meine Befürchtung ist allerdings, daß zukünftig die Kostenträger im Gesundheitswesen immer mehr darauf dringen werden, Behandlungen nur bis zur Symptombeseitigung zu bezahlen, wie im TK-Modell geplant, und daß sie ein ätiologisch begründetes Behandlungskonzept, das auch die Dispositionen von Symptomen überwinden will, nicht mittragen werden.
Ein Druck zu kürzeren Behandlungen wird aber nicht nur aus den finanziellen Erwägungen der Kostenträger entstehen, verkleidet z.B. als Qualitätssicherungsmaßnahme, sondern auch aus verschärften Verteilungskämpfen. Sie werden zwischen den Ärzten und den anderen Berufen des Gesundheitswesens auf der einen Seite und dem medizinisch-industriellen Komplex auf der anderen Seite stattfinden. Tendenziell wird sich der medizinisch-industrielle Komplex einen wachsenden Anteil der Umsätze und Gewinne des Gesundheitssektors sichern, weil er die stärkere gesellschaftliche Macht ist. Von ihm geht längerfristig, auf Sicht von zwei bis drei Jahrzehnten, auch die Gefahr aus, daß der Arztberuf als freier Beruf unterminiert wird und gewissermaßen aushungert. Innerhalb der Gesundheitsberufe wird es ebenfalls Auseinandersetzungen um die Finanzmittel geben, weil ihr Anteil an den gesamten Umsätzen und Erlösen im Gesundheitsbereich abnehmen wird.
Mit dem stärkeren Auftritt des medizinisch-industriellen Komplexes im Gesundheitswesen wird sich die Medizin weiter in Richtung einer technischen Medizin entwickeln. Die sprechende Medizin, wie sie durch die Psychotherapie repräsentiert wird, wird verstärkt in Frage gestellt werden. D.h. daß die Psychotherapieverfahren unter einen stärkeren Legitimationsdruck geraten werden und ihre Wirksamkeit nachdrücklicher werden belegen müssen.
Die Infragestellung wird wesentlich durch Leitlinien zu psychischen Erkrankungen geschehen, die primär symptomorientiert konzipiert sind. Sie werden pharmakologische Behandlungen favorisieren, weil von Pharmafirmen gesponsorte Studien leichter und in viel größerer Zahl zu erstellen sind als Psychotherapiestudien - diese haben keine Geldgeber und sind methodisch komplizierter.
Bei einem allmählichen Verschwinden der Selbständigkeit unter den Gesundheitsberufen wird auch die psychotherapeutische Tätigkeit nicht unberührt bleiben. Ich kann mir vorstellen, daß sie in verstärktem Maße als Teil einer integrierten Versorgung im Rahmen von Gesundheitszentren stattfinden wird, seien es nun MVZs oder Formen der integrierten Versorgung aus einer Kombination von ambulant und stationär. Dort wird Psychotherapie in einem begrenzten Ansatz und stärker zielorientiert durchgeführt werden, vermutlich mit störungsspezifischen weitgehend vorgefertigten Behandlungsbausteinen. Längerfristige, nicht vorgeplante Psychotherapien, die nicht nur der Behandlung von Symptomen, sondern auch der Neuorientierung im Leben dienen, werden wahrscheinlich seltener werden.
Zusammenfassend vermute ich, daß auch psychotherapeutische Behandlungen einem Prozeß der gesellschaftlichen Rationalisierung unterworfen werden mit verstärkten Forderungen nach Effizienz, Vorhersagbarkeit, quantitativer Erfaßbarkeit und Kontrolle durch Modularisierung in Form von psychotherapeutischen Behandlungsmodulen. Damit könnte man die oben von mir genannten Formen der Industrialisierung - die technisch-prozessuale, die strukturelle und die ideologische - erweitern um den Begriff der interaktionellen Industrialisierung.
(Oktober 2007)
Literatur:
- Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt/M
- Bruns, G. (2001): Rationalisierung und Rationierung - ein neues Denken in der Medizin und seine Bedeutung
für die Psychoanalyse. Psyche 55 (2001), 738 - 751 - Bundesministerium für Gesundheit - BMG (2007): Gesetzliche Krankenversicherung - Krankenstand 1970 bis 2006
und Januar bis April 2007 - Ritzer, G. (1993): Die McDonaldisierung der Gesellschaft. Fischer TB 1997
- Sennett, R. (1998): Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin Verlag, Berlin
- Weber, M. (1920): Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Hrsg. von J. Winckelmann. Siebenstern,
Hamburg 1973 - Weber, M. (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5. Auflage,
J.C.B. Mohr (Siebeck), Tübingen 1980
Oktober 2007
* Leicht gekürzte Fassung eines Vortrags gehalten am 01.09.2007 vor der Akademie für Medizinische Fort- und Weiterbildung der Ärztekammer Schleswig-Holstein, Bad Segeberg. Die Ursprüngliche Fassung enthält detaillierte Kennzahlen zur Gewinnstruktur der im Text angeführten Unternehmen.
**Autor: Georg J. Bruns, Prof. Dr. med., Dr. phil. habil., Professor für Soziologie an der Universität Bremen, Nervenarzt, niedergelassener Psychoanalytiker und Lehranalytiker der DPV in Bremen