Jones, ein kerngesunder 39 jähriger Erzieher, ist gerade spielerisch mit seinen beiden pubertierenden Töchtern in einer lustvoll-aggressiven Keilerei verstrickt, als ein Nachbar an der Tür klingelt. Eine Tochter öffnet und Jones sinkt mit den Worten: Es tut mir leid! zu Boden. Herzstillstand.
Nach Wiederbelebung und Notversorgung wird Jones in die Klinik des weltberühmten Kardiologen Prof. Dr. Lown** eingeliefert, der sich wissenschaftlich mit dem Zusammenhang von plötzlichem Herztod und Streßfaktoren auseinandersetzt. Lown befragt den Patienten eingehend und hört unter anderem von dessen ehrgeizigen Berufsethos, seiner Wut auf die Treulosigkeit von Kollegen und von einer streng religiösen Erziehung mit moralischen Grundsätzen, die sich vor allem auf die Sündhaftigkeit der Sexualität bezieht. Ansonsten wirkt Jones entspannt und innerlich gefestigt. Dieses Musterbeispiel guter Gesundheit zeigt aber im EKG erhebliche Arhytmien des Herzens. Während im allgemeinen Extrasystolen des Herzens im Laufe des Schlafs abnehmen, zeigen sich bei Jones insbesondere morgens in der REM-Schlafphase, wenn er sehr ruhig und ausgeglichen zu schlafen scheint, Herzrhythmusstörungen. Noch im Krankenhaus erleidet Jones plötzlich nachts während einer REM-Schlafphase einen weiteren Herzstillstand. Nach erfolgreicher Wiederbelebung fleht er Dr. Lown an, ihn das nicht noch einmal erleben zu lassen. Unter dem Druck der Todesdrohung ist er bereit, seinen Traum, den er unmittelbar vor dem Herzflimmern-Herzstillstand hatte, preiszugeben. "Er hatte geträumt, er befinde sich mit einer vollkommen nackten Frau in einem Auto. Der Motor habe gelaufen und der Wagen habe gefährlich nahe an einer Klippe gestanden. Als es immer leidenschaftlicher zuging, sei er hemmungslos geworden. Plötzlich sei er erstarrt, als er im Rückspiegel einen herannahenden Polizisten bemerkt habe. Voller Entsetzen über sein Tun und Treiben habe er aus Versehen auf das Gaspedal getreten, das Auto sei über die Klippe gestürzt und alles sei schwarz geworden." (S. 66)
Normalerweise habe ich weder genügend inneren Raum noch Energie, mich klinischen Fachbüchern zuzuwenden, die außerhalb meines unmittelbaren Interessengebiets liegen. So war es eher Zufall, bzw. ein Vortrag, den ich vor zwanzig engagierten Ärzten hielt, der mir als Lohn unter anderem die Empfehlung dieses einzigartigen Buches eines amerikanischen Kardiologen von Weltrang einbrachte. Bernard Lown betätigte sich in der kardiologischen Grundlagenforschung und entwickelte neue Behandlungsformen bei Herzrhytmusstörungen und Vorhofflimmern. Parallel zu seiner ausgeprägten naturwissenschaftlichen Forschung kehrt er zu einer Leidenschaft seiner Jugend zurück, in der er sich von der Lehre Sigmund Freuds fesseln ließ. Eines seiner zentralen Forschungsgebiete wird der Zusammenhang zwischen emotionalen Faktoren und plötzlichem Herztod. Dabei bleibt er nicht bei der Hypothesenbildung stehen, sondern zeigt bis ins Detail auf, wie individuell unterschiedliche innere Stressfaktoren die biochemischen Abläufe des Zentralnervensystems beeinflussen, die in bestimmten Fällen wiederum Auswirkungen auf die Herzfunktion ausüben. Lown leitet mehrere Weltkongresse über den plötzlichen Herztod, bei denen er seine Forschungen zum Zusammenhang von tiefliegenden psychischen Problemen und gestörten Herzrhythmus darlegt. Neben seiner fachlichen Tätigkeit gründet er gemeinsam mit dem russischen Arzt Chazov 1980 die Organisation "International Physicians for the prevention of nuclear war"(IPPNW), für die er 1985 den Friedennobelpreis entgegen nimmt. Die Bedeutung Lowns für die Medizin lässt sich sicher nur zum Teil an der Zahl mehrerer hundert Veröffentlichungen und zwanzig Ehrendoktorwürden verschiedener Universitäten ablesen. Seine Bedeutung für die naturwissenschaftliche Forschung gibt seinem Wort ein besonderes Gewicht bei seinem leidenschaftlichen Plädoyer für die Bedeutung der Psyche bei Wohlergehen und Behandlungserfolg von Patienten.
Sein Buch besticht neben der auch für Laien gut verstehbaren Tiefe wissenschaftlicher Erkenntnisbildung vor allem durch die bewegende Darstellung seines Entwicklungsprozesses als Arzt. Für ihn steht die Arzt-Patient-Beziehung im Mittelpunkt, wobei das wichtigste diagnostische Handwerkszeug die Kunst des Zuhörens ist, denn: "Die Ausübung der medizinischen Kunst erfordert nicht nur die ausgezeichnete Erkenntnis der Erkrankung selbst, sondern auch die Wahrnehmung intimer Einzelheiten aus dem emotionalen Leben des Patienten" (S. 30). Mit Zuhören meint Lown weder das anamnestische Erfragen der Krankheitsgeschichte noch das Verständnis vorgaukelnde Zuhören des netten Arztes von nebenan. Zuhören heißt für ihn, die Mitteilungen des Patienten und seiner Angehörigen mit allen Sinnen aufnehmen und mit ihnen arbeiten, d.h. nicht davor zurückschrecken, den Patienten auch mit unangenehmen Deutungen psychosozialer Zusammenhänge zu konfrontieren. Für ihn steht neben der fachmedizinischen Behandlung die Bedeutung des Wortes im Mittelpunkt ärztlichen Handelns. Er zeigt eindrucksvoll auf, wie das Wort des Arztes heilen, aber auch zerstören kann. Der Patient ist für ihn ein menschliches Individuum, das mit einzigartiger psychosomatischer Gestaltungskompetenz ausgestattet ist. Den Sinn seiner Symptomatik gilt es jeweils individuell in einer vertrauenswürdigen Arzt-Patient Beziehung zu entschlüsseln. Dabei sind für ihn die objektiv nicht erfassbaren Emotionen ebenso Bestandteil ärztlicher Diagnostik und Behandlung wie die scheinbar objektivierbaren körperlichen Funktionsstörungen. Inhaltlich dicht und humorvoll untermauert Lown sein Plädoyer für das Umdenken in der Medizin mit einem Fundus persönlicher Erfahrungen und spannend erzählter Falldarstellungen, wie ich sie in dieser Dichte noch nicht gefunden habe. Mit eindrucksvollen Episoden und Kasuistiken wird der Leser mitgenommen in die aufreibende Entschlüsselungsarbeit des medizinischen Arbeitsalltag eines engagierten und nachdenklichen Arztes. Dabei beschreibt die Leseerfahrung einen ähnlichen Weg wie der Entwicklungsprozess des Arztes Lown.
Ist man als Leser zunächst beeindruckt von den spannenden, bisweilen spektakulären Fallgeschichten des stets Zuversicht vermittelnden Arztes bei seinem Kampf gegen den Tod, so nimmt man beim weiteren Lesen Teil an der allmählichen Reifung eines Arztes, der zunehmend die Vielfältigkeit des menschlichen Leidens an sich heranlässt und in sich aufnimmt. So wird schließlich die Auseinandersetzung mit dem Altern, dem Sterben und dem Tod gegen den eigenen medizinischen Widerstand Teil seines Denkens. "Ich bin davon überzeugt, dass man mit zunehmenden Alter an Wissen verliert, aber an Weisheit gewinnt" (S. 313), schreibt der mehr als achtzig Jahre alte Lown. Die Darstellung seiner persönlichen Erfahrungen und Reflektionen über den Tod und das Sterben ist sicherlich eines der bewegensten Kapitel in einem Buch, das voll ist von beeindruckendem Nachdenken nicht nur über den Arzt und den Patienten, sondern über das Menschsein schlechthin.
Lown versteht es, seine großartigen Heilungserfolge wie seine bittersten Mißerfolge in einfühlsamen und sogleich fesselnden Geschichten zu erzählen, die gleichermaßen das Gehirn aktivieren und das Herz berühren. Man lernt auch viel über das Herz in seiner konkret biologischen Funktion und in seiner symbolischen Bedeutung.
Das Buch ist ein ausgesprochen komplexes, verstehbares und leidenschaftliches Plädoyer für psychosomatische Zusammenhänge körperlichen Leidens, das für alle heilenden und pflegenden Berufe Pflichtlektüre sein sollte.
September 2007
** Autor: Autor: Dr. phil. Frank Dammasch, Diplom Soziologe und Pädagoge,
analytischer Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeut in Frankfurt am Main
* Bernard Lown, Die verlorene Kunst des Heilens. Anleitung zum Umdenken,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, 400 Seiten, € 12,50