Mahrokh Charlier: Integration ohne Vorbilder

Die Integration muslimischer Migranten ist in Folge divergierender Wertvorstellungen - der religiös geprägten Tradition der muslimischen Einwanderer auf der einen, den säkular ausgerichteten westlichen Gesellschaften auf der anderen Seite - von erheblichen Schwierigkeiten begleitet. Zu einer ernsthaften Auseinandersetzung darüber gehört auch eine Betrachtung der Rolle der Migranten selbst. Wie können diejenigen Migranten, denen eine Integration gelungen ist, sich positionieren, um zu einer Auflösung der Parallelgesellschaft beizutragen?

Die zweite Generation der Migranten erlebt ihre Rolle in der hiesigen Gesellschaft als äußerst konflikthaft. Sie ist aufgewachsen in Familien, die ihr Ideal in einem gepackten Koffer sahen, mit dem sie eines Tages glücklich, sei es mit erworbenen Wohlstand und/oder der Hoffnung auf verbesserte politische Bedingungen, in ihre Heimat zurückkehren wollten. Ihr Leben im Migrationsland war von vornherein als eine Übergangszeit gedacht.

Die familiäre Sozialisation der muslimischen Migrantenkinder wurde bestimmt durch die Tradition der patriarchalisch ausgerichteten, religiösen Gewohnheiten und Wertvorstellungen der Eltern. In der Herkunftskultur der Eltern hätten sich diese familiären Wertvorstellungen im Einklang mit den äußeren, soziokulturellen Normen befunden und ihre Funktion als Wegweiser und Orientierungsgeber für die junge Generation erfüllen können. 
Die neue Kultur kann jedoch diese Übereinstimmung zwischen kulturellen Regulativen und innerfamiliärem Wertesystem nicht gewährleisten, was für die jungen Migranten, vor allem für die männlichen Jugendlichen, eine große Verunsicherung darstellt. Sie erfahren sehr früh eine gespaltene Welt, in der Familie und gesellschaftliche Umwelt unterschiedliche Ideale vertreten. Von den gesellschaftlichen Idealen der neuen Kultur können sie nicht Gebrauch machen, ohne in Widerspruch zu den Werten der Eltern zu geraten, müssen also in einer Welt nach Orientierung suchen, die aus der traditionellen Sicht der Eltern eine fremde, falsche, oder sogar feindliche Welt darstellt. Das bedeutet für die Jugendlichen eine Herausforderung, die mit einem enormen inneren Druck einhergeht, was die Entwicklung einer stabilen Identität erschwert und ohne gravierende psychische Konflikte kaum zu bewältigen ist.

Aus wissenschaftlichen Untersuchungen und vielfältigen psychotherapeutisch-psychoanalytischen Erfahrungen wissen wir, daß Ängste vor Trennung und Objektverlust eine fundamentale Bedrohung für das Kind und auch noch für den Erwachsenen darstellen. Gerade die zweite Generation der Migranten hat nicht selten traumatische Erfahrungen früher Trennungen von den Eltern erleben müssen, mit den damit einhergehenden psychischen Folgen. Die Einordnung in die elterliche Welt mit ihrem ethnisch-religiösen Wertesystem bekommt vor diesem Hintergrund eine schützende und stabilisierende Funktion, und zwar sowohl für die junge Generation als auch für deren Eltern, denn Trennungsängste werden gemildert, wenn man an einander festhält. Ein sinnvoller psychischer Schutzmechanismus, der allerdings die Entstehung von Parallelgesellschaften begünstigt.

Eine Distanzierung von den Eltern und Abwendung von ihren Idealen durch Annäherung an die neue Kultur löst bei der junge Generation der Migranten aber auch Schuld- und Schamgefühlenaus, weil sie sich, entsprechend der Tradition ihrer Herkunftskultur, für das Wohlergehen der Eltern verantwortlich fühlen. Auch die Eltern reagieren auf eine Distanzierung ihrer Kinder mit Angst, Trauer und Zorn. Eine Ablösung aus dem Familiensystem wird als Auflösung der Familie empfunden, was für die jungen Migranten mit großen Ängsten und psychischem Druck verbunden ist. Die Kinder und Jugendlichen erleben auf diese Weise zwei miteinander unvereinbare Welten, mit denen sie nur zurechtkommen können, indem sie sich einer der gespaltenen, parallelen Welten zuordnen: Entweder der elterlichen, familiären Welt oder aber der außerfamiliären, gesellschaftlichen Umwelt. Die jeweils andere dieser beiden Welten wird dann infolge der als unmöglich empfundenen Integration verächtlich abgewertet und in projektiver Weise zum Feindbild stilisiert. Eine gelungene Integration von Herkunftskultur und Kultur des Migrationlandes kann auf der Basis derartiger Spaltungen nicht gelingen. Auch wenn es von außen und oberflächlich betrachtet bei denjenigen, die sich ganz von ihrer Herkunftsfamilie und -kultur abgrenzen, so aussieht, als wäre hier eine Integration gelungen, handelt es sich tatsächlich doch nur um eine äußerliche Anpassung. Diese kann infolge der Verleugnung der eigenen kulturellen Wurzeln keine Basis für eine stabile Identität bilden, sondern trägt vielmehr den Keim einer psychischen Dekompensation bereits in sich.

Die Debatte über Migrationsprobleme, die in den letzten Jahren auch unter den Migranten endlich in Gang gekommen ist und an der sich vor allem Frauen beteiligen, verläuft nicht selten nach dem gleichen Grundmuster der Spaltung, wie es sowohl den Sozialisationserfahrungen der Migrantenkinder als auch der gesellschaftlichen Aufspaltung in Parallelgesellschaften entspricht. Protagonisten dieser Debatte sind Migranten, denen es gelungen ist, die Meinungsfreiheit in der hiesigen Kultur zu nutzen, um ihre Position darzustellen und zu vertreten. Sie sind bemüht, sich in dieser Debatte über Integration auf Seiten der einen oder der anderen Kultur einzuordnen, wo sie kämpferisch ihre Positionen vertreten. Sie bieten sich zwar den jungen Migranten als Vorbilder an, aber meines Erachtens laufen sie Gefahr, durch ihre Entweder-Oder-Positionen nicht als integrierende Vorbilder zu wirken, sondern die Spaltung in parallele Gesellschaften weiter zu verfestigen.

Trotz der Integrationsprobleme gibt es aber auch Migranten, denen eine Integration in die neue Kultur gelungen ist. Sie fühlen sich der deutschen Kultur zugehörig, haben aber eine bikulturelle Identität, weil sie sich auch ein Zugehörigkeitsgefühl zu ihrer Herkunftskultur bewahren konnten. Mit ihren nicht spaltenden, sondern integrierenden Aktivitäten sollten sie sich zu ihrer Bikulturalität bekennen und diese aktiv vertreten. Sie können als ein konstruktives Ideal für diejenigen fungieren, die sich aus einer Spaltung in Parallelgesellschaften bisher nicht haben lösen können. An ihrem Beispiel können junge Migranten erfahren, daß es möglich ist, die Gesetze und die Wertvorstellungen ihrer neuen Kultur zu respektieren, ohne dadurch die Verbindung zur Herkunftskultur verlieren zu müssen. Nur dadurch kann dem Mythos, dass man als Migrant dem Fremdsein nicht entkommen kann, entgegen gewirkt werden. Mir ist die Mühe dieses Weges durchaus bewußt, aber ohne das aktive Engagement solcher Vorbilder werden wir in den Gräben der Parallelgesellschaften verharren.

November 2006

* Autorin: Mahrokh Charlier, Diplompsychologin, niedergelassene Psychoanalytikerin in Frankfurt am Main