Angaben des Deutschen Instituts für Ernährungsmedizin und Diätetik zufolge sind etwa 100000 Menschen an Magersucht und 600000 an Bulimie erkrankt. Inzwischen sind nicht mehr nur vorwiegend Frauen von Eßstörungen betroffen, sondern auch Männer, was die Frage der Geschlechtsspezifität mehr in den Hintergrund treten läßt.
Die Zahlen differenzieren allerdings nicht zwischen genuinen Eßstörungen und dem Heer von Eßgestörten, die sich das Symptom über den Mechanismus der hysterischen Identifikation zugelegt haben, sich aber schnell wieder davon trennen, wenn ein spektakuläres anderes die Runde macht. Die Krankheit lädt offenbar zur Identifizierung ein. Das wirft die Frage auf: Was ist an der Krankheit so begehrenswert, welchen Gewinn verspricht sie? Zum einen dürfte die Diagnose die Krankheit produzieren, zum anderen genießt das Symptom große öffentliche Aufmerksamkeit, weil Eß- und Schlankheitsprobleme allgegenwärtige Themen sind. Und schließlich lassen sich über das Agieren mit Lebensmitteln allerlei Konflikte austragen.
Genuin Eßgestörte unterscheiden sich von den hysterisch Identifizierten durch eine deutliche Prämorbidität. Ihre Ätiologie reicht weit in die Kindheit zurück und sucht sich unter dem Eindruck der Pubertät eine neue Ausdrucksform, die fortan als Eßstörung imponiert. Bis heute ist es nicht gelungen, die unter der Diagnose "Eßstörung" subsumierten Krankheiten, insbesondere die Bulimie, nosologisch hinreichend sicher einzuordnen. Das namensgebende Symptom ist eher eine beliebige Etikettierung. Viele andere Symptome oder klinische Bilder, z.B. Angst oder Aggression, könnte man ebenso zur nosologischen Einteilung heranziehen.
Verbreitet ist die Auffassung, die Kranken hätten das geregelte Essen verlernt und müßten demzufolge geschult werden, sich gesund zu ernähren und Nahrungsmittel in ausgewogener und verträglicher Menge zu sich zu nehmen. Kernpunkt vieler therapeutischer Programme sind deshalb Techniken zur Einübung und Modifikation des Eßverhaltens.
Die klinische Erfahrung widerspricht dieser Einschätzung. Sie zeigt, daß die Patienten in Anwesenheit anderer Personen, also in Gesellschaft, normal essen, meist etwas zurückhaltend. Aber nicht nur dieses klinische Faktum widerspricht der Auffassung, das Essen müsse erlernt werden, sondern auch die Tatsache, daß es über Tage und Wochen eßanfallfreie Phasen gibt, in welchen die Patienten normal essen können. Noch ein weiterer Umstand läßt die These vom verlernten Essen fraglich werden. Das Erbrechen erfolgt unabhängig vom hastigen Verschlingen und vom Füllungszustand des Magens. Auch wenn in Gesellschaft anderer nur ein Salat gegessen wird, suchen die Patienten anschließend die Toilette auf, um zu erbrechen.
Zu Eßanfällen kommt es, wenn die Patienten alleine sind, wenn kein Aufpasser zugegen ist. Ein Eßanfall ist ein einsames, hinter schamhafter Heimlichkeit verborgenes Symptom. Der Verlust der Impulskontrolle bei fehlender Aufsicht deutet in eine andere, nicht konsumbedingte Richtung: Es stimmt etwas mit der Kontrollfunktion bei den Patienten nicht, bei Patienten, die in anderen Situationen durchaus kontrolliert, oft überkontrolliert, auftreten, z.B. bei der Überwachung des Körpergewichtes.
Ist man nicht bereit, diese klinischen Phänomene zu vernachlässigen, stellt sich die Frage, was es mit dem "geheimnisumwitterten" Symptom, wie es in der Fachliteratur gelegentlich genannt wird, auf sich hat.
Ohne Zweifel sind die Eßanfälle und das Erbrechen von eminenter psychodynamischer Bedeutung für die Patienten. Das pathologische Essen erfüllt eine Reihe von Funktionen, die das prekäre psychische Gleichgewicht stabilisieren sollen. Von daher gibt es Bedenken, den therapeutischen Hebel gleich zu Beginn an der Ventilfunktion des Essens anzusetzen, weil die Gefahr der Dekompensation droht, die zur Verschlimmerung des Gesamtzustandes führen könnte.
Das Eßsymptom ist das Ergebnis einer Verschiebung. Alle jene Affekte und Wünsche, die die Kranken in einer Beziehung zu einer anderen Person auszuleben nicht wagen, werden ersatzweise an und mit dem Nahrungsmittel ausgelebt.
Zunächst wird die Nahrung idealisiert, wie den Phantasien zu entnehmen ist, die die Patienten haben, wenn sie ihre Eßanfälle planen. Bald darauf tritt zwangsläufig Enttäuschung ein, weil die Nahrung die Erwartungen nicht erfüllt. Ab diesem Moment wird aus dem normalen Essen eine Eßattacke, in der die Nahrung wütend zerstört und schließlich durch Erbrechen in die Toilette entwertet wird. Der Umgang mit dem Liebesobjekt erfolgt auf ähnliche Weise. In der Phase der Verliebtheit wird es idealisiert, man hat es zum Fressen gern und es wird mit hohen Erwartungen befrachtet. Keine Person kann indes auf Dauer die an sie gerichteten Erwartungen erfüllen, so daß die Patienten wütend werden und sich trennen. Der "Scheißtyp" landet in der Toilette. Die auffällige Äquivalenz im Umgang mit der Nahrung und mit Personen legt die Interpretation nahe, die "Freßattacke" sei eine Ersatzattacke und richte sich gegen eine Person, unbewußt gegen ein Muttersurrogat. Eine personengerichtete Attacke würde jedoch Schuldgefühle machen, weshalb auf die Nahrung ausgewichen werden muß. Die Schuldgefühle bleiben jedoch trotz Verschiebung erhalten, und die Eßanfälle müssen wegen ihrer unbewußten aggressiven Bedeutung verheimlicht werden. Dem entspricht, daß die Kranken dazu tendieren, aggressive Auseinandersetzungen bzw. Differenzen zu vermeiden. Die Enttäuschung und die resultierende Wut, die den Eßattacken zugrunde liegen, ähneln den Tobsuchts- bzw. Jähzornsanfällen in der Kindheit dieser Patienten, allesamt extreme Affektsituationen. Der Eßanfall zeigt noch etwas von dem Trotz, wenn "verbotene" Lebensmittel verschlungen werden, der häufig rituelle Charakter der Anfälle hingegen, daß der Affektansturm unter Kontrolle gebracht werden soll.
Die Eßstörung entpuppt sich als Beziehungsstörung. Das Eßsymptom ist Ausdruck einer inzwischen als gesichert geltenden sozialen Phobie, die bereits in der Kindheit diagnostiziert werden kann, also lange vor Ausbruch der Eßsymptomatik. Die der Phobie eigentümliche Verschiebung, hier von einer Person auf das Lebensmittel, zeigt auch die Nähe der Erkrankung zum Fetischismus.
Freßanfälle beinhalten immer einen Kontrollverlust, der als Niederlage im Kampf gegen das Muttersurrogat empfunden wird und für den die Patienten sich schämen. Solche Kontrollverluste werden stets antizipiert, was zur Vermeidung von Situationen führt, in denen Scham droht. Auch hierin ist die soziale Phobie begründet.
Neben der Funktion, aggressive Affekte ersatzweise im Eßanfall zu erledigen - die Ventilfunktion des Symptoms -, erfüllt das Symptom noch eine weitere Aufgabe: es dient keineswegs der Sättigung, sondern der Verdauung von un(v)erträglichen Affekten. Über das Essen wollen die Patienten sich leer machen, sich von als zu intensiv empfundenen Gefühlen und Erlebnissen, von Wut, Neid, von Scham, Schuldgefühlen, aber auch von Liebesgefühlen, Sehnsucht und Dankbarkeit, erleichtern. Schon die Tatsache, daß die Patienten nach einem Salat erbrechen, daß das Erbrechen von der verzehrten Menge unabhängig ist, deutet eher auf eine Verdauungsstörung als auf eine Eßstörung hin. Die Verdauungsstörung fängt bei diesen Patienten bereits beim Essen an, denn die Eßanfälle erfolgen, um erbrechen zu können. Der Eßanfall fungiert jetzt als Digestif. Erbrechen ist von Anfang an eingeplant und eigentliches Ziel der Eßattacke, weil es eine Reihe von Aufgaben zu erfüllen hat. Es dient zum einen der Reinigung, denn die Patienten fühlen sich durch das wahllose Verschlingen von Lebensmitteln beschmutzt. Zum anderen soll es den unbewußt aggressiven Angriff gegen eine Person ungeschehen machen. Ein Fettansatz wäre aus der Perspektive der Patienten ein für jedermann sichtbares Zeichen einer vorausgegangenen Attacke. Ferner soll das Erbrechen der Angst vor körperlicher Entgrenzung zuvorkommen, dient mithin der Schlankheit. Schlankheit wiederum ist aber nur vordergründig Ausdruck des Wunsches nach Attraktivität. Dahinter steht einesteils der Wunsch nach Abgrenzung vom Körper der Mutter, andernteils will und muß die Patientin attraktiv für den Vater sein, der in der Pubertät die körperliche Entwicklung seiner Tochter beäugt und oft unzufrieden kommentiert. Die Phantasien der Patienten zeigen indes, daß dem Wunsch nach Attraktivität für den Mann bzw. nach Erfüllung männlicher Vorstellungen noch ein anderes Motiv zugrunde liegt: Angst. Die Kranken versuchen, über die attraktive Schlankheit den Vater als Komplizen im Kampf gegen die als gefährlich erlebte Mutter, der sie sich ohnmächtig ausgeliefert fühlen, zu gewinnen. Ihre Sexualität zeigt solche unbewußten Motive: der Akt als Exorzismus, bei dem die böse innere Mutter ausgetrieben werden soll. Schlankheit steht im Dienst des Schutzes vor der Mutter und ist für diese Patienten von existentieller Bedeutung. Deshalb sind sie stets in alarmiertem Zustand, was ihr Gewicht anbetrifft.
Symptomorientierte therapeutische Verfahren, die am Eßverhalten ansetzen, seien es ernährungsphysiologische Maßnahmen, Eßtagebücher, Kalorienlisten etc., dürften diese unbewußten Schichten des Symptoms kaum erreichen. Gleichwohl sind sie nicht ohne Effekt, denn sie bedeuten Zuwendung und Impulskontrolle, allerdings auch Einübung in wünschenswertes, tugendhaftes, vorbildhaftes und manierliches Essen, in domestizierte Aggressionsabfuhr, wozu Mädchen schon immer angehalten wurden. Das ist eines der Probleme bei der Behandlung dieser Patienten.
Das Eßverhalten der Patienten sowie der epidemieartige Anstieg der Erkrankung verführen dazu, zur Erklärung die Konsumorientierung, den Überfluß an verfügbarer Nahrung und das kollektive Eßverhalten in den westlichen, hochtechnisierten Gesellschaftssystemen heranzuziehen. Der erste Augenschein legt das nahe und mag auch durchaus für die Modeerkrankten gelten. Zweifellos begünstigt die Griffnähe der Nahrung ihren Mißbrauch, und die Modediagnose "Eßstörung" dürfte für viele eine Einladung zum großen Fressen sein. Bei den genuinen Erkrankungen jedoch stoßen solche Erklärungsmuster alsbald auf Hindernisse.
Die Versuche, die Erkrankung auf ihrem gesellschaftlichen Hintergrund zu verankern, bewegen sich auf der Ebene einfacher Parallelisierungen oder punktueller Assoziationen, die über das Niveau plakativer Vergleiche von objektiven und subjektiven Strukturen nicht hinauskommen. Bislang gibt es keine Untersuchungen, die die Zusammenhänge hinreichend befriedigend hätten darstellen können. Zwar liegen theoretische Konzepte vor, diese Vermittlungsschritte zu erfassen, aber sie haben noch keine konkrete Anwendung auf die klinischen Bilder der Eßstörungen gefunden.
Die über die Sozialisation erfolgenden frühen Internalisierungsprozesse, die zur Bildung der Selbststruktur führen, sind schwer zu untersuchen, und die spätere Assimilation der Außenwelt an diese bereits existierende Selbststruktur ist außerordentlich komplex und erfährt eine Reihe von je individuellen Brechungen, die eine einfache Parallelisierung verbieten. Ohne Zweifel haben wir es bei den Eßstörungen weder mit einem nur psychologischen noch einem nur politischen Problem zu tun, aber die Schnittstellen zur Gesellschaft sind andernorts als im Konsum zu suchen.
Eine solche Brechung stellt z.B. die Heimlichkeit dar, zentrales Merkmal dieser Erkrankungen. Sie liegt quer zum legitimierten öffentlichen Konsum. Büchertische biegen sich unter Stapeln von Kochbüchern, und allenthalben werden Kontrollverluste und das Intimste hemmungslos ausgebreitet. Man könnte jedoch in dem der Erkrankung inhärenten hohen moralischen Impetus eine Anklage an die öffentliche Abwesenheit von Scham erkennen.
Aber die schamhaft verborgenen Phantasien jener Patienten, die uns Zugang zu den tieferen Schichten der Eßstörung erlauben, zeigen, dass die Erkrankung eine gänzlich andere Funktion als die der Befriedigung von Konsumbedürfnissen hat. Und Phantasien setzen den Forschungsbemühungen ohnehin Grenzen. Phantasien erlauben es nicht, die komplexen Vermittlungsschritte und Rückkoppelungsmechanismen der elterlichen Praxis, über die einsozialisiert wird, zurückzuverfolgen. Die Verschränkung von subjektivem und objektivem Faktor ist auf dieser Ebene nicht mehr entzifferbar. Sowenig in der Behandlung Originalereignisse aus der Lebensgeschichte ausfindig gemacht werden können, können wir in den Phantasien gesellschaftliche Originalfakten, also Wirkfaktoren, ausfindig machen. Hier liegen die Begrenzungen im Gegenstand.
Aber auch konkrete klinische Fakten einer genuinen Eßerkrankung widersetzen sich einer umstandslosen Parallelisierung von Konsumgesellschaft und Eßverhalten. Wir haben es bei den Eßstörungen mit einer eher willkürlichen nosologischen Einteilung zu tun, die sich am lärmenden Symptom orientiert, aber in die Irre führt. Man könnte, wie gesagt, die Patienten z.B. ohne Mühe und zutreffender den Scham- oder Zwangserkrankungen oder besser den Phobien zuteilen, zieht man die Gewichtsphobie oder die soziale Phobie in Betracht. Eßstörungen gibt es überdies auch bei anderen Krankheitsbildern wie der Depression oder der Angst. Man könnte also ebensogut von einem epidemischen Anwachsen der Angststörungen oder Depressionen sprechen. Die Überbewertung des Eßverhaltens wäre vom Tisch, zumal auch für die Patienten das Lebensmittel als solches ohne Bedeutung ist. Schon die manifeste Ebene des Symptoms zeigt, daß es nicht ums Essen geht, wie die Magersüchtige vorführt: Sie weist die Nahrung verächtlich von sich. Die Bulimikerin ihrerseits entwertet sie, indem sie sie gleich wieder erbricht. Lebensmittel sind für Eßgestörte keine hochbesetzten Konsumgüter, die liebevoll zubereitet würden, um dann hingebungsvoll in einer kalorienreichen Lieblingsmahlzeit zu versinken. Lebensmittel imponieren einzig durch schnelle Verfügbarkeit und eignen sich damit ohne Widerständigkeit zum Objekt der Wutabfuhr. Überdies ist das Objekt der Wut austauschbar, was deutlich wird, wenn die Patienten am Essen gehindert werden. Sie greifen dann zu anderen Objekten, an denen sie ihre Wut abhandeln, wenn es sein muß zum eigenen Körper, an welchem sie knabbern und herumschneiden. Nicht umsonst wollen die symptomorientierten therapeutischen Ansätze mehr oder weniger ausgesprochen wegen der Mißachtung der Nahrung gerade größere Aufmerksamkeit für die Nahrung erzielen, damit die Patienten sie libidinös besetzen können.
Verfolgt man die Krankengeschichten zurück, so zeigt sich, daß die Nahrung als Objekt, an welchem die Wut abgehandelt werden kann, in der Pubertät nicht gesucht, sondern - von der Griffnähe begünstigt - gefunden wird. Dasselbe gilt für das Erbrechen. Als Eßstörungen noch nicht so publik waren, erfuhren die Patienten meist von Freundinnen von der Möglichkeit des Erbrechens. In den prämorbiden Phasen der Kindheit spielen Essen und Erbrechen ohnehin keine auffällige Rolle, ganz im Gegensatz zu Psychopharmaka übrigens. Und so wie das Essen nicht gesucht wird, wählen sie auch nicht aktiv das Liebesobjekt, sondern springen demjenigen auf den Schoß, der sie anlacht. Im gesellschaftlichen, kollektiven Eßverhalten oder Konsumismus den Wirkfaktor des Symptoms zu vermuten scheint deshalb eher abwegig. Mit gesellschaftlichem Eßverhalten läßt sich auch nicht klären, warum z.B. zumeist die ersten Töchter in der Familie eine Eßstörung entwickeln, während die anderen Geschwister diesbezüglich symptomfrei bleiben.
Die Konzentration auf das gestörte Essen und damit auf das aktuelle gesellschaftliche Eßverhalten kann leicht den Blick dafür trüben, daß es sich bei den Eßstörungen um eine transgenerationelle Erkrankung handelt. Das bedeutet, die Forschungen müssen bis in die Großelterngeneration, also von der Gegenwart bis in die unmittelbare Nachkriegszeit, ausgedehnt werden. Dabei gilt es, die Rolle des Kindes in der Gesellschaft im Auge zu behalten. Selbstrepräsentanz und Phantasien der Patienten weisen nämlich in eine ganz bestimmte Richtung: Sie empfanden sich durchweg als ekelhafte, schmutzige, lästige Kinder, die ihre Eltern nur störten und ihnen Schwierigkeiten machten, weil sie deren Interessen und Bedürfnissen im Wege standen. Als Erwachsene sind sie ängstlich darauf bedacht, anderen nicht zur Last zu fallen. Der lästige Teil wird abgespalten, in der Heimlichkeit über das Symptom ausgelebt oder/und auf den Körper projiziert. Der Körper übernimmt in diesem Falle die Rolle des "lästigen Kindes" und wird von den Patienten fortan auch so erlebt. Er stört, weil er sich mit seinen Bedürfnissen, seinen Regeln (der "Regel") quer stellt. Die Patienten behandeln ihren Körper demzufolge ähnlich unwirsch und verärgert, wie sie selbst einst von den Eltern behandelt wurden. Dazu paßt, dass die Eßgestörten gemeinhin als schwierige Patienten gelten. Sie bereiten behandlungstechnische Probleme, "erbrechen" immer wieder das Erarbeitete und verbreiten bei Therapeuten das Gefühl eines therapeutischen Nihilismus.
Nur unter großem Ächzen läßt sich die Selbstrepräsentanz "lästiges Kind" mit der Konsumgesellschaft erklären, zumal sie nicht nur die der Indexpatienten ist, sondern schon die ihrer Eltern war und sich bis in die Großelterngeneration zurückverfolgen läßt. Diese Selbstrepräsentanz wird von den Eltern über deren Instrumentalisierung des Kindes tradiert. Hier dürften die eigentlichen sozio-kulturellen Wirkkomponenten zu finden sein.
Verschiedene therapeutische Richtungen haben sich die Unabhängigkeit des Patienten zum Behandlungsziel gesetzt. Fraglos haben die Patienten außerordentliche Probleme mit der Abhängigkeit. Dabei gilt es allerdings zu bedenken, daß diese Patienten bereits von Kindesbeinen an jeder Abhängigkeit mit Unabhängigkeit gegenzusteuern versuchten. Insbesondere die Magersucht, aber auch die Bulimie führt eine Unabhängigkeit vor, für die sogar der Tod riskiert wird. Es handelt sich um eine Pseudounabhängigkeit, die nur als pathologische Unabhängigkeit bezeichnet werden kann. Wäre das Therapieziel die Unabhängigkeit des Patienten, bestünde die Gefahr, daß diese Pathologie nur noch begünstigt würde. Sinnvoller wäre es, die Fähigkeit zu fördern, natürliche Abhängigkeiten, wie sie der Körper z.B. auferlegt, angstfreier und ohne Kränkung ertragen zu können. Andernfalls würde die Behandlung fatalerweise exakt jenes pädagogische Klima reproduzieren, in welchem die Patienten aufgewachsen sind: "Sei selbständig, aber esse, was ich für richtig halte" oder allgemeiner: "Mach das selbst, aber nur so, wie ich es will und gebrauchen kann". Es gilt als gesichert, daß Eßgestörte von beiden Elternteilen auf je unterschiedliche Weise instrumentalisiert wurden. Dort, wo sie nicht funktionabel waren, wurden sie von ihnen als lästig empfunden oder ignoriert, weshalb die Patienten ihr Elternhaus als latent feindselig erlebten. Als Kinder flüchteten sie sich in eine vorzeitige, forcierte pathologische Autonomie - Symptom des lästigen Kindes -, damit sie den Eltern nicht länger zur Last fielen. Allerdings bildeten sie in ihrer Kindheit vielfältige andere Symptome, in denen ihre Wut über die Instrumentalisierung, die forcierte Autonomie und die elterliche Ignoranz ihrer Bedürfnisse zum Ausdruck kam. Meist handelte es sich um Symptome eines Kontrollverlustes, vorwiegend im Bereich der Sphinkterkontrolle. Wie unter starkem Affektdruck nicht ungewöhnlich, wurden sie anal/urethral inkontinent und auf diesem Wege wieder zu lästigen, schmutzigen, ekelhaften Kindern. Die Eltern schämten sich ihrer Kinder und reagierten uneinfühlsam auf die peinlichen Inkontinenzerfahrungen. Hier liegt der Grund, weswegen die Patienten bereits als Kinder eine soziale Phobie entwickelten und als Erwachsene mit der Scham über Kontrollverluste so große Problem haben, so daß sie in die Heimlichkeit ausweichen müssen.
Die Frage, wie in der Gesellschaft aggressive Themen verhandelt werden, deutet auf die eigentliche Schnittstelle zwischen Eßstörungen und Gesellschaft. In den Phantasien nämlich lagert, schamhaft verborgen, hochbrisantes aggressives Material: Szenen der Beschämung und der Rache, Straf- und Mordszenen, Szenen der Gewalt, von denen sich die Patienten mit Hilfe des Erbrechens befreien und reinigen zu können hoffen. Diese Phantasiewelt erfordert so viel Gegenbesetzung, sichtbar am Ruminieren über das Essen, daß sie sich wegen des hohen Aufwandes an Verdrängungsenergien psychoökonomisch schnell von den alltäglichen emotionalen Anforderungen überfordert fühlen und die psychische Verdauungsarbeit von Erlebnissen und Affekten nicht mehr leisten können. Die beeinträchtigte Impulskontrolle hängt mit der Notwendigkeit zur Gegenbesetzung zusammen. Das geschwächte Ich bedarf des Hilfs-Ichs, eines Aufpassers, der am Tisch die Impulskontrolle übernimmt. Oder familial ausgedrückt: Das Kind bedarf des Vaters, um vor seinen Affekten gegen die Mutter geschützt zu sein. Hier scheitern die Eßgestörten.
November 2006
* Autor: Thomas Ettl, Dr. phil., Diplom-Psychologe, niedergelassener Psychoanalytiker in Frankfurt