Die Migrationsbewegung der letzten Jahrzehnte aus der islamischen Welt hat in den westlichen Ländern neben einer kulturellen Bereicherung auch eine Vielzahl an Integrationsproblemen mit sich gebracht, die einer ernsthaften Auseinandersetzung bedürfen. Die Integration ist infolge divergierender Wertvorstellungen -den religiös geprägten Überzeugungen der muslimischen Einwanderer auf der einen, den säkular ausgerichteten westlichen Gesellschaften auf der anderen Seite - von erheblichen Konflikten begleitet. Ergänzend zu den politischen und soziologischen Ansätzen, die um Erklärungen und Lösungsvorschläge für diese Konflikte bemüht sind, können Psychoanalytiker auf die unbewußte Dimension der Tradition im Sinne einer kollektiven Übertragung aufmerksam machen. Mit dieser Dimension ist nicht eine archaische Erbschaft gemeint, die in der individuellen Psyche lokalisiert ist, sondern vielmehr ein Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, in das jeder einzelne auf seine Weise hineingeboren und hineinsozialisiert wird.
Auch die Tradition der Gesetzesreligion Islam kann als transgenerationaler Übertragungs- und Prägungsprozeß und damit als Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, einschließlich seiner unbewußten Dimension, betrachtet werden. Dieser transgenerationale Prozeß ist vom Verlauf der individuellen Sozialisation abhängig und als fester Bestandteil des Bewußten und Unbewußten im einzelnen Individuum wirksam.
Die islamische Kultur ist patriarchalisch ausgerichtet und in Hadithe (die Überlieferung über die Gewohnheiten des Propheten) und Sunna (die überlieferten Worte des Propheten) eingebettet. Die rituellen Einzelheiten ebenso wie die rechtlichen und sozialen Fragen werden entsprechend dieser Tradition behandelt. Da dem Islam neben der religiösen auch eine politische Rolle zugewiesen ist, kommt dem gesellschaftlichen Umfeld die Aufgabe zu, die Einhaltung dieser religiös verankerten Gesetze zu regulieren und zu überwachen. In diesem Sinne ist die Einhaltung der islamischen Werte und Gesetze nicht nur eine individuelle und familiäre Angelegenheit, sondern ebenso Aufgabe der Gemeinschaft bzw. der Gesellschaft.
Die Familienstruktur in islamischen Gesellschaften ist durch die väterliche Autorität und die strikte Geschlechtertrennung zwischen Männern und Frauen geprägt. Diese Trennung, die mit der Geburt des Kindes beginnt und später durch die Aufspaltung des Lebensraumes in eine öffentliche Männer- und eine private Frauenwelt weiter verfestigt wird, stellt eine entscheidenden Faktor der Sozialisation und zugleich eine tragende Säule der Gesetzesreligion Islam dar.
Eine weitere tragende Säule der Gesetzesreligion Islam ist die patriarchalische Struktur, die in der psychischen Matrix des Knaben durch die Besonderheit seiner Sozialisationserfahrungen von Beginn an verankert wird. Es gehört zu den gesellschaftlichen Aufgaben, diese psychische Struktur aufrechtzuerhalten und der mit ihr verbundenen männlichen Identität einen haltenden Rahmen zu geben. Dafür sorgen zum Beispiel ein gesamtgesellschaftliches brüderliches Zusammengehörigkeitsgefühl, sowie der Glaube an väterliche Autoritätsfiguren, wie religiöse und/oder politische Führer oder ältere weise Männer in Familie und Gesellschaft.
Den Wegfall der gesellschaftlichen Regulierung und Stützung dieses Wertesystems in der westlich-säkularen Kultur erleben viele Migranten als Bedrohung ihrer Identität. Für sie bedeutet dieses Wegbrechen der gewohnten kulturellen Regulationsmechanismen im westlichen Einwanderungsland, daß das vormals in sich geschlossene Wertesystem ihrer islamischen Kultur brüchig wird. Je divergierender die Wertvorstellungen zwischen Herkunftskultur und der Kultur des Migrationslandes sind, um so unvereinbarer werden die innerfamiliären mit den außerfamiliären Erwartungen.
Ein Kind aus einer muslimischen Familie spürt sehr früh, daß es im Migrationsland einen massiven Widerspruch zwischen innerfamilären und außerfamiliären Werten gibt. In der Familie erfährt das Kind Anerkennung und Zuspruch für die Anpassung an die elterlichen Gebote und Verbote, was ihm eine sichere Orientierung und Identität gibt. Doch was innerhalb der Familie Anerkennung findet, kann in Konflikt mit außerfamiliären Normen stehen und zu einer ablehnenden gesellschaftlichen Reaktion führen. Es entstehen auf diese Art und Weise im Kind zwei miteinander unvereinbare Identifizierungen, was zu einer psychischen Destabilisierung und Desorientierung führt. Es gerät unter psychischen Druck, diesen Widerspruch innerpsychisch zu ordnen und zu integrieren. Diese Aufgabe kann das Kind ohne eine integrative Hilfe der elterlichen wie auch der außerhäuslichen Umwelt (Hort, Kindergarten und später die Schule) nicht bewältigen.
Wenn diese integrative Lösung nicht gelingt, wird das Kind oder später der Jugendliche dieses Dilemma eines Lebens in einer gespaltenen Welt mit unvereinbaren Identifizierungen entweder mit einer Unterwerfung unter die elterlichen Gebote und Verbote bewältigen, oder im Gegenteil, sich radikal von ihnen abwenden. In der Regel orientiert sich das Kind/ der Jugendliche jedoch aufgrund von Verlustängsten wie auch Schuld- und Schamgefühlen gegenüber der Familie an seiner Ursprungskultur, was zu einem Scheitern der Integration, zu einer Perpetuierung der gesellschaftlichen Spaltung von Migranten und Einheimischen und im Extremfall zu einer Radikalisierung führt.
Eine Auseinandersetzung mit den Problemen der Integration kann nur fruchtbar sein, wenn es gelingt, sich diesem Konflikt zwischen divergierenden inner- und außerfamiliären Werten zu stellen. Für die Migranten bedeutet das zu akzeptieren, daß sie sich nach zweierlei Gesetzen zu richten haben - zum einen nach den familiären und religiösen Gesetzen, zum anderen nach den Gesetzen der Gesellschaft, in der sie leben. Dabei muß die Kultur des Migrationslandes der brüchigen Orientierung vor allem der jungen Migranten mit eindeutiger und bestimmter Haltung begegnen. Mit einer klaren Forderung nach Akzeptanz der hiesigen Gesetze würde die Politik an der patriarchalisch strukturierten Kultur der Migranten selbst, nämlich am väterlichen Gesetz anknüpfen.
Juli 2006
* Autorin: Mahrokh Charlier, Diplompsychologin, niedergelassene Psychoanalytikerin in Frankfurt am Main