Angela Köhler-Weisker und Cornelia Wegeler-Schardt: Entgleisungen und Heilung des präverbalen Dialogs zwischen Mutter und Baby.

Über die Arbeit einer Babyambulanz

Lassen Sie uns, mit einer Geschichte beginnen - der "Geschichte vom weinenden Kamel". In leisen, zurückhaltenden Bildern wird sie von der aus der Mongolei stammenden Münchener Filmstudentin Byambasuren Davaa und ihrem Kollegen Luigi Farlorni erzählt. Sie spielt am Rande der Wüste Gobi in der Mongolei und handelt von einer Gruppe traditioneller Nomaden, die in Jurten zusammen mit ihren Kamelherden, Schafen und Ziegen leben. Ein Kamel wird geboren. Es ist eine lange qualvolle Geburt. Zuletzt muss das Fohlen vorsichtig mit Stricken an den Gliedmassen herausgezogen werden, weil die Stute schreiend, schon ganz erschöpft am Boden liegt. Als das Fohlen auf wackligen Beinen zu ihr kommt und trinken möchte, spuckt und schreit sie, stößt es immer wieder weg, tritt es und trabt schließlich davon, anders als die Kamelstuten rundum. Sie kann ihr Fohlen nach der sehr schweren ersten Geburt nicht annehmen. Die Nomadenfrau und auch ihr Vater versuchen die beiden immer wieder sanft und vorsichtig zusammen zu führen und miteinander zu befreunden. Die Stute trabt dann weit in die Steppe davon. Das Fohlen stolpert hinterher, kann seine Mutter aber nicht erreichen. Sie wirkt so, als hätte das Fohlen ihr etwas Schlimmes angetan. Das Fohlen ist dazu auch noch weiß, es sieht anders aus als die dunkle Stute und all die anderen Kamele. Es ist fremd und vielleicht ist die Stute auch von ihm befremdet. Als das Fohlen zunehmend schwächer wird und alle Versuche scheitern, daß die Stute es annimmt, beschließen die besorgten Nomaden das "Hoos-Ritual" zu versuchen, um damit den entgleisten Dialog zwischen ihr und dem Fohlen zu heilen. Von weither wird ein Musiklehrer geholt, der ein spezielles Saiteninstrument spielen kann. Im Kreis der versammelten Nomaden-Großfamilie, unter deren gesamter gespannter Aufmerksamkeit, hängt die junge Nomadenfrau das Saiteninstrument erst so an den Bauch der Stute, daß der Abendwind in den Saiten Töne erzeugt. So als sollten die Töne im Bauch der Stute, da, wo sie sich verletzt fühlte, Resonanz finden. Dabei wird die abwehrend verschreckte Stute sichtbar ruhiger und beginnt zu lauschen. Da gibt die junge Frau dem Musiker das Instrument und er beginnt zu spielen. Nach einer Weile singt die junge Frau dazu ein Lied in hohen langgezogenen Tönen und streicht dabei immer wieder fest und sanft über den Bauch der Stute. Alle hören aufmerksam zu. Sogar die anderen Kamele wenden ihre Köpfe, angezogen von den Tönen des Duos. Es ist, als versuchten die beiden mit der Musik und dem Gesang der nun ganz still gewordenen Stute und dem bereits apathisch wirkenden Fohlen die richtigen Töne beizubringen. Die Sängerin und der Geiger sind ein Paar in Harmonie. Sie zeigen, wie schön es zwischen der Stute und ihrem Jungen sein könnte. Die Stute wehrt sich erst noch gegen das Junge, das auch schon widerstrebend zu ihr geführt wird, bis sie endlich das Fohlen erstmals trinken läßt. Dabei kullern Tränen aus ihren Augen, wie nach aufgegebenem Trotz. Schließlich gibt die Stute hohe zärtliche Töne von sich und das Fohlen antwortet. Beide sind geborgen in der Großfamilie und der Herde. Alle um sie herum haben ihre Verletzung anerkannt, beachten sie und verstehen ihre Ablehnung und ihre Aggression. Der Dialog zwischen ihr und dem Fohlen ist geheilt.

Diese magisch anmutende Geschichte zeigt in eindrucksvollen Bildern, was wir auch in der Mutter-Baby-Therapie unter Einbeziehung des Vaters erreichen möchten. Wir nehmen uns des Leids der Eltern mit ihrem Baby an, versuchen mit Empathie und analytischem Wissen zu verstehen und Mutter und Baby einander nahezubringen. Das Baby ist für die Mutter zunächst immer ein fremdes Wesen, das sie annehmen muß. Das gelingt ihr aufgrund von Verletzungen durch die Schwangerschaft und Geburt, oder aus Erlebnissen in ihrer eigenen Kindheit und Lebensgeschichte oder durch den Partner unterschiedlich gut. So groß die intuitive Fähigkeit von Eltern ist, sich auf ihr Baby einzustimmen, so komplex und vielschichtig ist dieser Vorgang und damit auch störanfällig und schutzbedürftig. Die Medizinalisierung der Geburt sichert nur eine Ebene des Gelingens. Für die sehr spezifischen psychischen und sozialen Bedürfnisse von Mutter und Kind in der hoch empfindlichen Phase der Beziehungsaufnahme zueinander fehlt mitunter die hinreichend gute, haltende und schützende Umgebung. Die Eltern fühlen sich dann auf sich selbst zurückgeworfen und allein gelassen mit ihren Sorgen und Nöten. Hinzukommt, daß der regressive Zustand, der nötig ist, um sich auf ein so abhängiges Wesen einzustellen, es ohne Worte verstehen zu lernen und mit ihm mitgehen zu können, immer wieder in Konflikt gerät mit all den anderen Anforderungen nach beruflicher Autonomie und Verfügbarkeit von Frauen. Der Konflikt zwischen Beruf und Muttersein ist nicht leicht zu bewältigen, ohne Hilfe anderer, die der Mutter in der ersten Zeit mit ihrem Baby sowohl Raum als auch narzißtische Anerkennung geben. Mit der Baby-Ambulanz am Institut für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Frankfurt/M versuchen wir etwas institutionell zu ersetzen, das in manchen bäuerlichen Kulturen von der Großfamilie aufgefangen wird, von der die Mutter in dieser Zeit begleitet, gehalten und vor Anforderungen der Außenwelt geschützt wird.

Unsere Arbeit basiert auf der teilnehmenden Mutter-Baby-Beobachtung, die an unserem Institut seit über 20 Jahren ein wichtiger Teil der Ausbildung ist. Das ganze erste Lebensjahr hindurch in einer wöchentlichen Sitzung mitzuerleben, wie Mutter und Baby zueinander finden, sich aufeinander abstimmen und einspielen, gibt uns wertvolle Aufschlüsse und eindringliche Bilder an die Hand, nicht nur für die therapeutische Arbeit mit älteren Kindern und ihren Familien, sondern auch mit Erwachsenen. Die so gewonnenen Bilder erlauben uns, wie der amerikanische Säuglingsforscher Daniel Stern sagt, die sehr spezifischen, spontanen und nicht bewußten "Schemata des Zusammenseins mit einem anderen" besser wahrnehmen und in Worte fassen zu können. Denn die alltägliche Versorgung des Babies, es zu halten, zu tragen, zu füttern, zu wickeln, zu beruhigen und in den Schlaf zu begleiten, die kleinen Spiele, die Laute und Worte, also die gesamte Art und Weise des Miteinanders mit ihrem je eigenen Tempo und Rhythmus bilden die erste Umwelt des Säuglings. Sie regt sein Wachstum und seine Entwicklung an oder hemmt sie an bestimmten Stellen. Diese regelmäßig wiederkehrenden Ereignisse legen die ersten Affektrhythmen und durch die ständige Wiederholung erste präsymbolische Erinnerungsspuren, die wiederum zu Erwartungshaltungen des Säuglings an seine Umwelt führen. Wie die Mutter sich mit ihm abstimmt und auf die von ihm ausgehenden Reize eingeht, prägen auch seine ersten Erfahrungen des Zusammenseins mit einem Anderen. Zugleich ist der Säugling offen für immer neue Erfahrungen, die die alten gewissermaßen überspielen, sodaß eine Änderung im Umgang mit ihm auch seine Reaktionsweisen und Erwartungen verändert. Über das dauernd wechselnde und aufeinander sich einstimmende Zusammensein mit dem bedeutsamen Anderen wächst sein Bild von ihm und von sich selbst.

Die Mutter kommuniziert spontan und nonverbal durch ihren Körpertonus, ihre Berührung, ihre spielerische oder ernste Mimik und Stimmlage mit dem Baby. Sie nimmt die rohen, das Baby bestürmenden Zustände von Hunger, Durst, Unwohlsein, Kälte, Müdigkeit, Langeweile, Schmerz, Panik und Wut in sich auf und teilt sie mit ihm. Sie verwandelt diese Stürme, indem sie sie spiegelt , benennt und mit Handlungen mildern oder ganz auflösen kann. Der ständige Austausch der Affekte des Babies mit den dadurch ausgelösten Gefühlen der Mutter, deren Übersetzung und Verwandlung in mütterliche Gedanken, Handlungen und Worte teilen dem Baby auch etwas von ihren Einstellungen und Gefühlsmustern mit. So weckt und formt die mütterliche Pflege allmählich das seelische Leben ihres Babies und bestimmt die Qualität seiner Bindung an sie.

Störungen in der Beziehung zum Baby zeigen sich beim Kind als sogenannte Regulationstörungen, für die kein medizinischer Grund zu finden ist: Wenn es z.B. dauernd schreit, nicht schläft, nicht trinkt und Fütterprobleme hat, apathisch zurückgezogen scheint, oder gar nicht zur Ruhe kommen kann. Die Fähigkeiten zur Selbstregulation des Säuglings entwickeln sich erst allmählich, sodaß er auf die Co-Regulationsfähigkeiten seiner Betreuungspersonen angewiesen ist. Das Baby kann nur psycho-somatisch reagieren. Es drückt seine seelischen Zustände körperlich aus. Der körperliche Ausdruck, der von Rückzug bis zu Übererregtheit, Unruhe und muskulärer Verspannung reicht, ist in gewisser Weise gleichförmig. Wir versuchen diese relativ gleichförmigen Symptome in ihrer höchst unterschiedlichen Bedeutung mit ihrer je eigenen Entstehungsgeschichte zu verstehen. Die Ursachen der Symptome sind individuell ganz verschieden, ähnlich wie bei den psychosomatischen Erkrankungen. Das heißt nicht, daß diese Babies psychosomatisch krank sind. Psychosomatische Erkrankungen können aber auf schwere seelische Verletzungen oder erlittene Deprivation im ersten Lebensjahr, der praeverbalen und praesymbolischen Zeit, in der das Baby sich nur mit Hilfe seines Körpers ausdrücken kann, zurückgeführt werden. Solche tieferen seelischen Verletzungen führen meist erst später im Leben in Entwicklungskrisen, z.B. der Adoleszenz, zu psychosomatischen Leiden. Im Säuglingsalter dagegen erkranken diese Kinder zunächst körperlich: Sie haben schwere, wiederkehrende Infekte verschiedenster Art, Pseudokrupp-Anfälle oder reagieren mit der Haut.

Das Ziel unserer Arbeit ist ein präventives, nämlich die ersten Anfänge von psychischer Strukturbildung beim Säugling positiv beeinflussen zu können, indem wir die Beziehung zwischen Eltern und Kind behandeln. Wenn die Mutter in ihren Gefühlen und Gedanken festgefahren oder eingesperrt, der Austausch mit ihrem Baby entgleist ist, kann der Therapeut mit seinen Gefühlen und Gedanken, die sich auf Mutter und Kind beziehen, weiterhelfen, indem er diese öffnet und wieder zum fließen bringt. Die Möglichkeiten der Eltern zu erweitern, über die Zustände ihres Kindes nachzudenken und ihr Kind als ein fühlendes und verstehendes Wesen wahrzunehmen, indem wir gemeinsam über seine Zustände und über die Einstellungen der Eltern zu ihm nachdenken, ist das Feld unserer Arbeit. So können positive Interaktionen zwischen Eltern und Kind vermehrt und der Dialog vom Mißverstehen befreit werden. Das Mißverstehen kann von alten unbeantworteten Wünschen und "Gespenstern" aus den Kinderzimmern der Eltern herrühren, die sich unbemerkt eingeschlichen haben.

In der "Mutterschaftskonstellation", wie Daniel Stern (1998) die Phase nennt, in die eine Frau eintritt, wenn sie Kinder bekommt, ist sie u.a. auf der Suche nach einer mütterlichen Gestalt mit Erfahrung, die sie als gute und fähige Mutter bestätigt und anerkennt. So stellt sich gegenüber der Therapeutin leicht der Wunsch nach einer guten "Großmutter-Übertragung" her. Der Umgang mit diesem Wunsch erfordert ein emotional aktives und sich mit der Mutter identifizierendes Verhalten, da übermäßige Zurückhaltung gegenüber diesem Wunsch leicht als unausgesprochene Kritik verstanden werden und die therapeutische Arbeit schwer belasten kann. Mildert man in dieser Phase die spezifischen Ängste, als Mutter zu versagen, werden mütterliche Entwicklungskräfte freigesetzt.
Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf drei Ebenen: 
- auf die Aktivitäten des Kindes und sein Zusammenspiel mit den Eltern, sowie die Zustände, Gefühle und Gedanken, die dadurch im Therapeuten ausgelöst werden, 
- auf die Vorgeschichte des Kindes (Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt, Fehlgeburten, Geschwister) und 
- auf den transgenerationellen Austausch der Eltern zu ihren Herkunftsfamilien mit Blick auf unbewußte Phantasien und Projektionen. Denn der Umgang mit dem Baby weckt immer einen teils bewußten, teils unbewußten Erinnerungskontext an die eigenen Erfahrungen als Kind.

Durch das zugewandte und aufmerksame Zuhören der Therapeuten als von außen kommende Dritte entsteht ein Übergangsraum, der wie eine Bühne (Annette Wattillion-Naveau, 1993) wirkt. Das Gehandelte und Inszenierte kann im gelungenen Fall durch ihr Mitfühlen und ihr Aushalten der Gefühle in das Verstehen der Bedeutung der Symptome verwandelt werden. Indem die Therapeuten die Gefühle aufnehmen und verarbeiten, die alle Beteiligten bedrängen, ermöglichen sie den Eltern sich mit ihnen zu identifizieren und die Beziehung zum Baby wieder aufzunehmen. Auch das Kind fühlt in Gegenwart der Therapeuten die Möglichkeit, Botschaften zu senden, die es bisher nur im Symptom mitteilen konnte. Der Zeitpunkt, an dem das Kind sich meldet, "mit zu sprechen" bzw. zu handeln beginnt, wie und was es macht, trägt entscheidend zum Verständnis bei, wenn man es aufnehmen und schließlich zeigen kann, daß sein Tun bedeutsam und mit dem von den Eltern Vorgetragenen verknüpft ist. Indem es in der Sitzung zum Beispiel Trennungsangst oder Hunger zeigt, kann damit auch die Angst oder der Hunger der Mutter gemeint sein, weil das Baby über den nahen sensomotorischen Kontakt mit ihrem Erleben, wie oben dargestellt, so eng verbunden ist. Deutungen, die Mutter und Kind zugleich erreichen, wirken am meisten verändernd. So versuchen wir auch eher, zu dem Kind und für das Kind zu sprechen als über es. Auch das Baby macht in der Sitzung neue Erfahrungen mit den Therapeuten und den sich verändernden Eltern, die sich heilend auswirken: Kinder, die nicht schlafen, schlafen z. B. während der Sitzung, andere die dauernd schreien, sind ruhig, aufmerksam und zugewandt.

Die Dauer und die Frequenz der Behandlung richten sich nach dem Bedürfnis der Eltern und des Kindes. Denn bei Babies reichen meist einige wenige Sitzungen aus, um die Symptome zu beheben. Indem wir uns zur Verfügung stellen und es den Eltern überlassen, wann und wie sie uns als Analytiker gebrauchen möchten, bleibt ihre Autonomie erhalten. Wir achten darauf, die Eltern in ihrem Selbstwertgefühl als Eltern zu bestärken und ihre Schuldgefühle gemeinsam zu verstehen und zu bearbeiten. Wir analysieren nur das, was sie behindert, in die Elternschaft hinein zu wachsen und das, was die Beziehung zum Kind von elterlichen Projektionen entlasten kann. Wenn das gelingt, dann war unser spezielles "Hoos-Ritual" erfolgreich und der entgleiste Dialog zwischen Eltern und Baby kann heilen.

* Der Artikel ist ein Ausschnitt aus einem Vortrag über die Baby-Ambulanz am Frankfurter Institut für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, Myliusstraße 20, 60323 Frankfurt, Tel 069 72 14 45 Weitere Informationen über die Babyambulanz in Frankfurt oder in anderen Regionen können über das Institut bezogen werden.

01.07.2006

 

** Autorinnen: Angela Köhler-Weisker, Dr.med., Kinderärztin, Lehranalytikerin und niedergelassene Psychoanalytikerin in Frankfurt am Main;
Cornelia Wegeler-Schardt, Dr.phil., niedergelassene analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Frankfurt am Main