Das Internet verändert zunehmend das Leben. Vieles wird durch das Internet einfacher, schneller und effizienter. Demgegenüber erscheint die psychotherapeutische Krankenbehandlung, als in der persönlichen Begegnung zwischen Psychotherapeut und Patient verankerte Behandlungsform, nach wie vor als eine sehr aufwendige Angelegenheit. Daher nimmt es nicht wunder, daß die Idee entstanden ist, ob man nicht auch hier mit Hilfe des Internets Verkürzung und größere Effizienz erreichen könnte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die persönliche Begegnung wirklich als unabdingbare Voraussetzung für die Psychotherapie anzusehen ist bzw. ob unter "virtuellen" Bedingungen überhaupt Psychotherapie im Sinne von Krankenbehandlung möglich ist.
Beziehung als Grundlage psychotherapeutischer Behandlung
Während man lange Zeit Erfolg oder Mißerfolg von psychotherapeutischen Behandlungen von bestimmten Interventionsstilen des Psychotherapeuten her zu begründen suchte, hat man sich heute wieder der Alltagserfahrung von der berühmten "Chemie", die stimmen muß, angenähert. So rückte auch in der Psychotherapieforschung mehr und mehr die Beziehung zwischen Patient und Psychotherapeut in den Mittelpunkt. Die relevanten Veränderungen während einer Psychoanalyse beispielsweise ergeben sich dabei aus der Beziehung selbst, d. h. aus dem emotionalen und empathischen Kontakt zwischen Patient und Analytiker, so wie aus der Übereinstimmung des Analytikers mit seiner eigenen Methode, d. h. seiner Überzeugung von dem, was er tut. Dies kann mittlerweile sogar als schulenübergreifend abgesicherte Erkenntnis gelten. So zitiert Buchholz (Psycho-News-Letter Nr. 6) den renommierten amerikanischen Psychotherapieforscher Wampold: "Es zeigt sich, daß jene Therapeuten die besseren Erfolge haben, die nicht auf Technik setzen, sondern auf den Kontakt; die nicht eine quasi-biologische, sondern eine psychologische Hypothese verfolgen; die nicht glauben, das Problem sei durch Psycho-Technik rasch zu lösen, sondern die von Anfang an wissen, das psychische Entwicklung Zeit braucht und verbraucht."
Psychotherapie im Internet?
Sucht man nach "Internetpsychotherapie", so wird man im Web erstaunlicherweise wenig finden. Denn die meisten Anbieter kennzeichnen ihr Angebot nicht als "Psychotherapie", sondern als "Beratung". Ganz offensichtlich geht es ihnen darum, Schwierigkeiten mit der ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Berufsordnung zu vermeiden. Dabei diskutieren sie das Verhältnis von Psychotherapie vs. Beratung, ohne dabei zu einer Klärung zu kommen. So heißt es auf der Website der Psychotherapeutischen Praxis Paffrath in Düsseldorf lakonisch: "Therapie ist, was ein Therapeut tut. Alles andere ist Beratung. Es gibt also Therapie, von Therapeuten eben, die eher Beratung ist, und eine Beratung, von nicht staatlich zugelassenen Behandlern, die sehr wohl Therapie ist." (www.paffrath.de).
Man kann sich des Eindrucks nur schwer erwehren, daß solche Anbieter sich die Unklarheit der Grenze zwischen Beratung und Therapie zunütze machen. So schreibt beispielsweise der Hamburger Diplom-Psychologe Christian Hilscher auf seiner Internetseite (www.onlineberatung-therapie.de): "Sicher kann die Onlineberatung bei bestimmten Problemen keine vis a vis Psychotherapie ersetzen. Aber das ist oft auch nicht nötig, denn viele Probleme benötigen keine solche und vor allem keine jahrelange Therapie beim Psychotherapeuten. Oft reichen auch Beratung oder Coaching, Ratschläge und Betreuung aus, daß der Ratsuchende sein Problem und sein Leben wieder in den "Griff" bekommt. Und Angststörungen werden heute schon sehr erfolgreich psychotherapiert, ohne daß der Patient den Therapeuten jemals zu Gesicht bekommen hat!" Dieser Ton, in dem die "klassische" Psychotherapie unterschwellig als antiquierte Verschwendung zeitlicher und finanzieller Ressourcen hingestellt wird, kann als prototypisch gelten.
Doch wie läßt sich ohne persönlichen Kontakt feststellen, ob eine Internetbehandlung "ausreicht"? Die meisten Internetbehandler verlangen, daß die Hilfesuchenden Fragebögen zur Symptomatik ausfüllen. Es bleibt jedoch offen, wie solche Fragebögen dem Behandler die nötige Sicherheit der Diagnose- und Indikationsstellung vermitteln sollen. Schließlich sind es gerade seine nonverbalen Beobachtungen, welche dem Psychotherapeuten helfen, die verbalen Ausführungen des Patienten einzuordnen: Wie der Patient gekleidet ist, wie er riecht, wie sein Händedruck ist, was er für Umgangsformen hat, wie seine Stimme klingt, etc. ... Daß all dies via Internet nicht "rüber" kommt, ist als Umstand von nicht zu unterschätzender Bedeutung anzusehen, insofern es diagnostisch von hoher Relevanz ist, ob ein Patient z. B. schreckliche Dinge mit einem Lächeln berichtet oder sich äußerlich verwahrlosen läßt.
Die Bedeutung eines Behandlungskonzepts
Die Frage nach der Indikation ist auch die Frage nach dem Behandlungskonzept generell, da sich Psychotherapie als "systematische" Beeinflussung des Seelenlebens versteht. Bei der Frage nach dem Konzept sind die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen von Bedeutung. Entgegen populärer Auffassung sind diese auch heute keineswegs verzichtbar. Ihre Bedeutung hat der Präsident der Hessischen Psychotherapeutenkammer, Dr. Jürgen Hardt herausgestellt: "Die Schulen bieten also ein erlaboriertes Verstehen von seelischen Zusammenhängen - Gegenstandsbildungen - an, die wir brauchen, um die unzureichenden Alltagspsychologie überschreiten zu können, sie zu übersetzen, um dann wieder an sie anzuschließen." Es erscheint daher wichtig, daß ein Psychotherapeut sich einer Schule zugehörig fühlt - um so ein identitätsstiftendes Referenzsystem zu haben, das sowohl ihn selbst, als auch den Patienten vor willkürlichem Vorgehen schützt.
Denn die Durchführung einer "psychotherapeutischen" Behandlung verlangt, daß man ein Grundkonzept vom Seelischen hat, aus dem heraus man auch die Handhabung der psychotherapeutischen Beziehung ableiten kann. Daraus ergibt sich für die psychotherapeutische Beziehung eine grundlegende Asymmetrie zwischen dem Psychotherapeuten und seinem Patienten. Die Asymmetrie der Beziehung gilt jedoch allein in Bezug auf die psychische Erkrankung - hier ist der Patient der Hilfsbegehrende, während der Psychotherapeut der "Fachmann" ist. In anderen Hinsichten ist dagegen von einer Symmetrie des Verhältnisses zwischen zwei erwachsenen Personen auszugehen, z. B. wenn es darum geht, bestimmte Dinge wie Termingestaltung, Ausfallhonorar etc. miteinander auszuhandeln.
Das Behandlungssetting und die entsprechenden Rahmenvereinbarungen sind nicht nur Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung, sondern zugleich auch ein methodisches Hilfsmittel zur Installierung eines "gemeinsamen Werkes". Auf diese Weise wird versucht, in den seelischen Strudel, in dem sich ein Patient befindet, zunächst einmal einen Pflock einzuschlagen, um einen Teil des Grundes zu befestigen.
Das Konzept von Internetbehandlung?
Befragt man die Websites der Anbieter von Internetbehandlung nach deren Behandlungskonzepten und den Vor- und Nachteilen derselben, so fällt auf, daß überhaupt nicht mit der Qualität der eigenen Arbeit "geworben" wird. So nennt beispielsweise die "Cyber-Praxis Andreas von Wallenberg Pachaly" (www.pachaly.com) 8 "gute Gründe" für eine Internetbehandlung, die sich ausschließlich auf die "Convenience" beziehen, "anonym" mit einem Behandler in Mail-Kontakt aufnehmen zu können, statt mit einem "leibhaftigen" Psychotherapeuten in Beziehung treten zu müssen. Dabei sind schon die betont joviale Sprache der einschlägigen Websites und das übliche Duzen des Internet-Users darauf angelegt, die Eingangsschranke zur Internetbehandlung niedrig zu halten. Hinzu kommt, daß der Hilfesuchende sich seinen Behandler anhand von Photos aussuchen kann ("Psychologie.de"). Meistens kann er der Website seines Behandlers auch einiges über dessen Lebenslauf und über seine familiären Verhältnisse entnehmen, manchmal bis hin zu Kinderphotos.
Die meisten Internetbehandler scheinen die Konzeptlosigkeit sogar zur Tugend zu erheben, da niemand "die alleinige Wahrheit" kenne und daher nicht das Recht habe, "dogmatisch" andere Schulen zu "stigmatisieren" (Website Dipl.-Psych. Christoph Hilscher). Polemisch ließe sich zuspitzen: Wir haben zwar kein Behandlungskonzept ("Wahrheit"), aber dafür bereiten wir unseren Patienten am wenigsten Unannehmlichkeiten. Da das Angebot von Internetbehandlung so "niederschwellig" daher kommt, ist jedoch die Wahrscheinlichkeit hoch, daß sich davon vor allem Patienten angesprochen fühlen werden, bei denen Scham- und Schuldgefühle besonders stark ausgeprägt sind. Solche Patienten wünschen sich einerseits hohe Authentizität und Intimität, andererseits möchten sie aber die Kontrolle darüber, was gezeigt und was verborgen gehalten wird, immer aufrechterhalten. Auf diese Weise soll ein fragiles Selbst verborgen und geschützt werden.
Hohe narzißtische Gratifikation für den Hilfesuchenden
Die niedrige Eingangsschwelle zur Internetbehandlung geht damit einher, daß sich der "Patient" nicht als solcher bekennen und eine Aussage wie die folgende nicht treffen muß: "Ich bin krank und komme allein nicht mehr zurecht. Daher brauche ich einen Fachmann, der mir hilft." Auf diese Weise bleibt dem Patienten die narzißtische Kränkung erspart, seiner Hilfsbedürftigkeit einzugestehen. Dies stärkt sicherlich auch die häufig bei Patienten anzutreffende "Wasch'-mir-den-Pelz,-aber-mach'-mich-nicht-naß"-Haltung. Wenn dem "Patienten" sogar noch angeboten wird: "Das Online-Setting können Sie sich selber aussuchen: Email, Chat, Videokonferenz," (www.psychotherapie-net.de) so bestärkt ihn das noch mehr in seiner narzißtischen Abwehr. Mit den eher "patriarchalen" Strukturen der "Richtlinienpsychotherapie", in denen der Psychotherapeut das Setting setzt, so wie der Arzt die Medikation verordnet, hat dies wenig zu tun. So wird das Setting offenbar nicht methodisch genützt, um einen veränderungseinleitenden Behandlungsrahmen zu installieren.
Da der Behandler zum reinen Dienstleister zu mutieren scheint, der sich primär um die Convenience seiner Patienten verdient macht, sprechen manche Autoren sogar von einer "Machtverschiebung" in der Internetbehandlung. Die Asymmetrie der psychotherapeutischen Beziehung scheint aufgelöst zu sein. Das heißt aber auch: Der Behandler fällt als Beziehungspartner, der den Patienten spiegelt, ihn zu Auseinandersetzungen anregt und ihn konfrontiert, ihm Grenzen aufzeigt und ihm hilft, neue Spielräume zu erschließen, weitgehend aus. Dies meint jedoch nicht, daß im Zuge von Internetbehandlung überhaupt keine Beziehung zwischen Behandler und Hilfesuchendem entstehen kann - sondern eben keine professionell gehandhabte, psychotherapeutische Beziehung.
Das "Netz" tritt an Stelle des Behandlers
Um so mehr stellt sich die Frage, welche "Qualität" die Beziehung zwischen Behandler und Behandeltem bei der Internetbehandlung hat. In einer Arbeit über Beziehungsformen im Internet (Der Nervenarzt, Bd. 73) meinen die Hamburger Psychotherapeuten Lindner und Fiedler daß die haltgebende Funktion personaler Beziehung ("Containment"), im Rahmen von Internetbehandlung auf das Netz selbst übergeht. Der Behandler wird dabei nicht als personales Gegenüber, sondern als Teil des Netzes erlebt. Warum das Netz allerdings kein Containment im psychotherapeutischen Sinne leisten kann, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, daß Containment kein rein passiver Vorgang ist. Vielmehr werden dabei die Impulse des Patienten, die der Psychotherapeut bzw. Psychoanalytiker aufgenommen hat, von ihm verarbeitet und dem Patienten in verarbeiteter Form zurückgegeben. Handelt es sich z. B. um destruktive Impulse, so wird der Analytiker sie dem Patienten nicht 1:1 zurückspielen, indem er den Patienten seinerseits angreift, sondern in "entgifteter" Form. Auf diese Weise kann der Patient etwas darüber erfahren, wo seine Destruktion Grenzen verletzt, ohne daß dies zu einem Teufelskreis von Destruktion führen würde. Darüberhinaus kann er auf diese Weise die ich-stärkende Erfahrung verinnerlichen, daß man Destruktion aushalten kann.
Da das Internet Grenzen auflöst, ist jenen Autoren beizupflichten, die konstatieren, daß die Internetbehandlung regressionsfördernd wirkt. Dieser Verdacht wird bereits dadurch geweckt, daß in eMails in aller Regel weitaus weniger Rücksicht auf Etikette genommen wird, als es in persönlichen Begegnungen oder in Briefen der Fall ist. So beschreiben Lindner und Fiedler, daß mit der "Anonymität" des Internets eine Distanz geschaffen wird, "die den Ausdruck regressiver Wünsche zumindest auf diese Weise partiell erlaubt". Weiter führen sie aus, daß die Kontaktaufnahme im Internet "Unmittelbarkeit suggeriert, die aber gar nicht besteht, da der "Briefkasten" nicht sofort geleert und gelesen wird." Offenbar wird das Internet - wie die Eltern in der "Omnipotenzphase" während der psychischen Entwicklung des Kleinkindes - als ein Medium erlebt, das dem User das Gefühl gibt, allmächtig zu sein und die (virtuelle) Welt selbst erschaffen zu haben. Aufgrund der regressionsfördernden Funktion von Internetbehandlung sprechen Lindner und Fiedler davon, daß der Behandler im Vergleich zur klassischen Psychotherapie verstärkt idealisiert oder abgewertet werde. Sie fassen ihre Auffassung im Konzept des "virtuellen Objekts" zusammen: Virtuelle Objekte ersetzen natürliche Objekte, die Übertragungsprozesse im Internet beziehen sich auf den Computer und das Internet selbst.
Das Netz ist kein "Verwandlungsobjekt"
Lindner und Fiedler berichten über zwei Patientinnen, die sich erst nach einem langen eMail-Kontakt mit ihrem Behandlungszentrum zu einer persönlichen Behandlung entschließen konnten. Bei diesen Patientinnen habe zumindest unbewußt der Wunsch nach einem allzeit erreichbaren und verfügbaren Objekt vorgelegen, das aber nicht zu nahe kommen, nicht kränken, nicht lächerlich machen oder enttäuschen würde. Dabei bestehe andererseits "das Gefühl großer und sicherer Distanz". Zur Genese der zugrundeliegenden Problematik führen Lindner und Fiedler aus: "Beide hatten schon früh die Tendenz, unerträgliche Gefühle der Verlassenheit bzw. Abweisung mit Phantasien von Nähe und Verschmelzung mit einem omnipotenten Objekt abzuwehren".
Eine Internetbehandlung wird solchen Patienten sicher nicht helfen, solche starken, pathologischen Omnipotenzgefühle abzubauen. Hierzu müßten die Internet-"Patienten" lernen können, den Behandler als Objekt zu erfahren und zu verwenden. Das Subjekt kann das Objekt jedoch nur dann verwenden, wenn es das Objekt auch als ein reales Objekt gibt. Denn nur ein reales Objekt und nicht etwas Projiziertes entzieht sich der omnipotenten Kontrolle im Inneren des Patienten. Ganz auf dieser Linie liegen Untersuchungen des Psychotherapieforschers Krause, denen zu Folge es wenig hilfreich ist, wenn Psychotherapeuten den Affektausdruck des Patienten in der eigenen Gesichtsmimik "kopieren". Im Gegenteil: Erst wenn der Psychotherapeut einen Affekt des Patienten "markiert", indem er eine Differenz herstellt, die sich auch mimisch ausdrücken kann, wird der Patient in die Lage versetzt, diesen Affekt als seinen eigenen wahrzunehmen und nicht als den des Psychotherapeuten.
Das "Markieren" von Affekten ist Bestandteil von Prozessen affektiver Spiegelung, wie sie bereits zwischen einem Kind und seine primären Objekten stattfinden. Diese ermöglichen dem Kind die Ausbildung der Fähigkeit, überhaupt eigene Gefühlszustände als solche wahrnehmen zu können, was in der Psychoanalyse "Mentalisierung" genannt wird. Auf der Grundlage dieser Mentalisierungsprozesse wiederum wird es möglich, sich mit den eigenen Gefühlszuständen in sprachlich-symbolisierter Form auseinanderzusetzen und davon etwas mitzuteilen. Die Fähigkeit zur Symbolisierung entwickelt sich aber auch durch die Erfahrung von Versagung und zeitweiliger Abwesenheit des Objekts. So ermöglicht es dem Patienten gerade die zeitweilige Nicht-Verfügbarkeit und die professionelle Distanz ("Abstinenz") des Psychotherapeuten, sich mit ihm zu identifizieren. Im Wechsel von Behandlungsperioden mit therapiefreien Zeiten (Zeit zwischen den Stunden, Praxisferien) bildet sich eine Rhythmik, welche Symbolisierungsprozesse fördert, was vor allem bei Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen eine sehr wichtige Rolle spielt. Da der Behandler im Internet imaginär permanent verfügbar ist und das Internet keinen Zeitrhythmus kennt, sondern die Zeiten hier zu einer Art phantasierten Dauergegenwart zu verschmelzen scheinen, wäre dies besonders für Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen kontraproduktiv - doch gerade diese Gruppe scheint eine besondere Affinität zur Internetbehandlung zu haben.
Was für ein Objekt ist das "virtuelle" Objekt, auf das sich bei der Internetbehandlung die Übertragung an Stelle eines realen Objekts - des Psychotherapeuten - bezieht? Offenbar ist das Internet mit "ozeanischen" Qualitäten (vgl. die von Romain Rolland postulierten "ozeanischen Gefühle" als Quelle religiösen Empfindens) aufgeladen - rund um die Uhr erreichbar, unendlich groß, unendlich vielfältig, in stetiger Bewegung befindlich. Übertragung auf das Internet bedeutet insofern die Übertragung auf ein Objekt, das "alles" und damit gleichzeitig "nichts" ist. Das Internet als Objekt ist weder sinnlich erfahrbar, noch in Abwesenheit symbolisierbar, da es nie abwesend ist und damit in gewisser Weise auch nie anwesend. Damit ist es letztlich ein Objekt wie die psychisch "tote Mutter" in der Konzeption von Andre Green ("Psyche" 3/1993), die sich als unfähig erweist, in affektiv spiegelnder Weise auf ihr Kind einzugehen, da sie hierfür zu sehr in den eigenen Mustern narzißtischer Beschädigung befangen ist. Als nicht wirklich symbolisierbares Objekt ist das Internet im Gegensatz zu einer lebenden Person nicht geeignet, ein "Verwandlungsobjekt" im Sinne von Christopher Bollas zu sein ("Der Schatten des Objekts", Klett-Cotta, Stuttgart 1997), d. h. ein Objekt, das dem Subjekt dazu verhilft, sich zu "verwandeln" oder, neutraler ausgedrückt, sich zu verändern.
Aufhebung des "paradoxen" Charakters der psychotherapeutischen Beziehung
Daß der Internetbehandler als reale Person nicht existent ist, fällt vor allem auch deshalb ins Gewicht, da die psychotherapeutische Beziehung bei genauer Betrachtungsweise bereits eine "virtuelle" Beziehung ist. Es ist eine Pars-pro-toto-Beziehung, die stellvertretend für die sonstigen Objektbeziehungen des Patienten steht. Dabei hat die Übertragungsbeziehung einen paradoxen Charakter: Sie ist "irreal" - insofern auf den Therapeuten Objekte aus der Vergangenheit des Patienten übertragen werden, die mit diesem realiter nichts zu tun haben - und zugleich ist sie "real", weil dies vom Patienten als "real" erlebt wird. Die Paradoxie beruht darauf, daß die Übertragung zwischen dem Psychotherapeuten als realer Person einerseits und einer Phantasiegestalt andererseits oszilliert. Nach Manfred Schmidt, dem derzeitigen DPV-Vorsitzenden, ist die "Paradoxiefähigkeit" Kennzeichen seelischer Gesundheit, insofern sie die Fähigkeit kennzeichnet, unauflösbare Spannungen auszuhalten - jene Spannungen, welche die menschliche Natur und das menschliche Leben überhaupt kennzeichnen. Diese Paradoxiefähigkeit könnte sich in psychotherapeutischen Behandlungen nicht entwickeln, wenn die Oszillation zwischen Realität und Phantasie wegfiele, da sich "alles" allein im virtuellen Raum abspielt. Daher ist Internetbehandlung weder als Psychotherapie im Sinne von Krankenbehandlung anzusehen, noch dafür geeignet.
Die Angst des Behandlers
In den oben erwähnten Fallberichten von Lindner und Fiedler erlebt der Therapeut als Gegenübertragung jeweils "Beunruhigung" und die Befürchtung, "blind" zu sein, seine Patientin nicht zu verstehen. Dahinter liegend die Angst, ihren "überwältigenden Wünschen" nicht gewachsen zu sein. Allem Anschein nach wird die Angst des Behandlers durch das Medium Internet im Vergleich zu einer ambulanten Behandlung stark angefacht. Nicht nur daß der Ausschnitt, den der Behandler aus dem Leben seines Patienten mitbekommt, bei der Internetbehandlung noch beschränkter ist, als es bei der ambulanten Psychotherapie ohnehin schon der Fall ist. Hinzu kommt, daß er keine Handhabe hat, mit der Übertragung auf das Web zu arbeiten. Wie will er die übertragungskonstituierenden Momente erkennen können, wenn sie sich so weit von der eigenen Person und der eigenen Gegenübertragung entfernen können? Ein Behandler, von dem derartiges gefordert ist, müßte sich fühlen wie ein Pilot, den man anweist zu starten, nachdem man einen Großteil seiner Instrumente abgedeckt hat. Darin liegt eine große Gefahr von Fehleinschätzungen durch den Psychotherapeuten. Zugleich bietet die Internetbehandlung die Möglichkeit, diese Angst des Behandlers auf problematische Weise zu dämpfen. Indem das Internet den Omnipotenzwünschen des Patienten entgegenkommt, wird seine pathologisch-narzißtische Abwehrstruktur gestärkt, was ihn aus Sicht des Behandlers stabiler erscheinen läßt und so dessen Angst mindert.
Manualisierte Behandlung als Prototyp von Internetbehandlung
Angesichts der zu vermutenden Angst des Behandlers verwundert es nicht, daß im Rahmen von Internetbehandlung vielfach mit standardisierten Psychotherapiemanualen gearbeitet wird. So ergaben Studien von Schauben und Frazier (1995), daßTraumatherapeuten, die nach einem festen Therapieprotokoll gearbeitet haben "relativ gut gewappnet waren hinsichtlich möglicher aversiver Konsequenzen der Traumabehandlung". Das heißt, sie konnten das Manual gegen ihre eigene Angst in Stellung bringen.
Immerhin scheint die Internetbehandlung hier ihre bislang größten Erfolge vorweisen zu können. In einem Projekt an der Uni Amsterdam ("www.interapy.com") zeigte sich angeblich, daß sich bei posttraumatischen Belastungsstörungen eine Erfolgsquote von 80% symptomfreier Patienten ergeben habe. "Symptomfreiheit" allein ist allerdings noch kein Kriterium für die Güte einer Behandlung, da dies noch nichts über die Beeinflussung der symptomgenerierenden Strukturen aussagt.
Skepsis gegenüber manualisierten Behandlungen erscheint aus psychoanalytischer Sicht auch deshalb angebracht zu sein, da ein veränderungsrelevantes Verstehen in "Zwischenräumen" entsteht. Manfred Schmidt drückte es so aus: "Wir Analytiker sind Anwälte der Unschärfen-Relationen." Diese stellen einen Übergangsraum im Sinne Winnicotts bereit, indem verschiedene emotionale Einstellungen "durchgespielt" werden können. Innerhalb eines solchen Raumes bilden sich, in gestalthaft beschreibbaren Prozessen über eine mehr oder weniger große Zahl an Metamorphosen hinweg, psychische Einsicht und Verstehen aus. Nebenbei bemerkt ist es die generelle Funktion von Metaphern und Sprachbildern, entwicklungsfördernden Übergangsräume bereitzustellen. Von der Internetbehandlung scheint dagegen eher eine Verengung, denn eine Ausweitung von Übergangsräumen auszugehen. Damit wird sie unter der Hand zum Agenten des Zeit- und Effektivitätsdiktats, das dazu beiträgt vergessen zu machen, daß Seelisches Zeit für seine Entwicklung braucht.
Juli 2006
* Autor: Rupert Martin, Diplom-Psychologe, niedergelassener Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker in Köln