1. Vorbemerkung:
Die 2020 erfolgte Novellierung des Psychotherapeutengesetzes betraf sowohl das Psychologie-Studium als auch die Weiterbildung künftiger Psychotherapeut:innen. Im Psychologie-Studium wurde für den Master-Studiengang, in Anlehnung an das Medizinstudium und die ärztliche Berufsordnung, ein Abschluss mit Approbation eingeführt; die Student:innen müssen sich zu Beginn des Master-Studiums für den Schwerpunkt Klinische Psychologie/Psychotherapie entscheiden, um das Studium mit der Approbationsprüfung abschließen zu können.
Zugleich mit dieser Reform des Studiums wurde, ebenfalls in einer gewissen Anlehnung an die ärztliche Weiterbildung, auch die Weiterbildung der Absolvent:innen dieses Studiums verändert. Die neue Weiterbildungsordnung sieht eine hauptberufliche Tätigkeit vor, teilweise in Kliniken, teilweise in ambulanter Tätigkeit im Zusammenhang mit den Instituten und deren Ambulanzen. Neben allen Detailfragen ist ein zentraler Punkt bisher nicht zufriedenstellend geklärt, nämlich die Finanzierung dieser Weiterbildung. Denn die vorgesehene Kostenübernahme der Ausbildungsbehandlungen durch die Krankenkassen deckt nur einen Teil der Kosten, die für die Honorare der Ausbildungsteilnehmer:nnen und der Lehrenden anfallen werden.
Diese Reform stellt die psychoanalytischen Institute vor grundlegende Probleme, denn sie werden den ambulanten Teil der fachpsychotherapeutischen Weiterbildung tragen müssen – sofern sie sich entscheiden, an dieser Weiterbildung grundsätzlich mitzuwirken.
In der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) und ihren einzelnen Instituten sind seit Jahren Arbeitsgruppen aktiv, die sich mit dieser Herausforderung auseinandersetzen; die Kenntnisse der Details und der verschiedenen Optionen ist Voraussetzung für die Institute und ihre Entscheidung: zum einen grundsätzlich dafür oder dagegen, zum anderen geht es bei einer positiven Entscheidung auch um die verschiedenen Modelle einer Beteiligung.
Ich möchte im Folgenden einige grundsätzliche Gedanken vortragen, welche die Position der Psychoanalyse in solchen Situationen beleuchten sollen. Dazu will ich einige historische Beispiele anführen, um Perspektiven für die jetzige Lage zu gewinnen.
2. Psychoanalyse als Beruf
Wenn wir darüber nachdenken, wie sich die Psychoanalyse zu der neuen Reform des Psychotherapeutengesetzes positionieren soll – ob sie sich daran beteiligen soll oder nicht, und wenn ja, in welcher Form – dann stellt sich die Frage, wie es überhaupt zu dieser grundsätzlichen Problemstellung kommt. Wäre die Psychoanalyse eine medizinische Disziplin wie, sagen wir, die Chirurgie oder die Kardiologie, würde sich die Frage in dieser Form gar nicht stellen. Sicher, die Chirurgen und Kardiologen würden sich dafür engagieren, dass sie angemessen bezahlt werden und entsprechende Arbeitsmöglichkeiten im System erhalten, aber sie würden kaum die Frage stellen, ob sie sich grundsätzlich beteiligen. Selbst wenn ein einzelner Chirurg oder Kardiologe beschlösse, nur mehr ganz spezielle Behandlungen ausschließlich in Privatfinanzierung durchzuführen, so würde doch die Gruppe der Chirurgen oder Kardiologen ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass sie ein Teil des Gesundheitswesens sind, der gebraucht wird und einen anerkannten Platz im System beanspruchen kann.
Für die Psychoanalyse ist diese Selbstverständlichkeit nicht gegeben. Das hängt mit ihrem zentralen Gegenstand, dem Unbewussten, zusammen und kann von zwei Seiten aus betrachtet werden.
Der Blick von außen:
Von außen betrachtet, ist die Psychoanalyse – ich schließe hier alle methodisch abgeleiteten Verfahren mit ein – eine sehr aufwendige Spezialform der Psychotherapie, deren Platz im Gesundheitswesen immer wieder davon abhängt, wie das Verhältnis von ökonomischem Aufwand und Ergebnis bewertet wird und welche Kriterien die Entscheidungsträger dafür heranziehen. Außerdem wird die wissenschaftliche Fundierung von vielen Wissenschaftler:innen bezweifelt, die der Verhaltenstherapie – unter dem Forschungsparadigma der Randomisiert kontrollierten Studien – den Vorzug geben. Gegenwärtig ist die Psychoanalyse, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, an unseren Universitäten nicht vertreten.
Und auch im öffentlichen Bewusstsein führt die Psychoanalyse eher ein Schattendasein. Obwohl sie vermutlich wie kaum eine andere Theorie einen prägenden Einfluss auf das Selbstverständnis der modernen westlichen Zivilisation ausgeübt hat, bleibt ihr anthropologischer Entwurf, ihre Lehre vom Unbewussten, weitgehend unsichtbar.
Der Blick von Innen:
Aber auch von Innen, von der Berufsgruppe der Psychoanalytiker:innen her, ist es nicht selbstverständlich, einen Platz im öffentlichen Gesundheitswesen zu beanspruchen. Die bestehenden Vorbehalte stammen, wie ich meine, aus zwei Wurzeln: aus der Natur des psychoanalytischen Berufes und aus der Geschichte der Psychoanalyse.
Grundzüge der psychoanalytischen Situation
Die therapeutische Absicht
Die therapeutische Tätigkeit bildet bis heute einen Angelpunkt der professionellen Identität des Analytikers. Allerdings soll diese therapeutische Tätigkeit ein besonderes Kennzeichen aufweisen: sie soll tendenzlos sein. Tendenzlosigkeit scheint indes – zumindest auf den ersten Blick – jeder Definition von Therapie zu widersprechen, denn eine Therapie ist im Allgemeinen durch die Absicht definiert, eine Erkrankung oder ein Leiden zu lindern bzw. zu heilen.
Diese Widersprüchlichkeit findet sich schon bei Freud. Beispielsweise heißt es in der Epikrise zur Analyse des kleinen Hans: "Eine Psychoanalyse ist eben keine tendenzlose, wissenschaftliche Untersuchung, sondern ein therapeutischer Eingriff; sie will an sich nichts beweisen, sondern nur etwas ändern" (1909 b, S. 91). Andererseits formuliert er 1919 in einem Brief an Ferenczi: "Wir sind und bleiben tendenzlos, bis auf das eine: zu erforschen und zu helfen" (Freud & Ferenczi, 1980, 149).
Freud war in seiner beruflichen Praxis zeitlebens an den Fragen der Symptombildung und des Behandlungserfolges interessiert. Alle klinisch tätigen Analytiker teilen ein solches Interesse: sie haben leitende Annahmen über Gesundheit und Krankheit und entwickeln eine Vorstellung von der Richtung, in die der analytische Prozess gehen soll (Strenger, 1998,48f). Sandler und Dreher haben ausgeführt, dass alle Analytiker, ob sie es wüssten oder nicht, therapeutische Ziele mit ihrer Tätigkeit verfolgten (Sandler & Dreher 1996, 3 ff).
Tendenzlosigkeit als ein Grundelement des
psychoanalytischen Prozesses
Worin besteht dann die Tendenzlosigkeit, wenn sie nicht bedeutet, auf therapeutische Absicht zu verzichten? Sie bezeichnet eine Offenheit der analytischen Situation, die durch das Konzept der freien Assoziation und der ihr komplementären gleichschwebenden Aufmerksamkeit entsteht. Dieses Arrangement spricht dem Analysanden die Aufgabe und das Vorrecht zu, sein Leben möglichst frei zu erzählen und seine Affekte so unverstellt wie möglich zu äußern; dem Analytiker kommt im Gegenzug Aufgabe und Privileg zu, sein Leben nicht zu erzählen und sich mit seinen Affekten zurückzuhalten. Mit einer solchen Asymmetrie wird die Konvention, die Übereinkunft über die Regeln der Alltagskommunikation, außer Kraft gesetzt. Solche Bedingungen schaffen eine prinzipiell offene Situation: kein Ziel, keine Absicht, keine Richtung, keine Beurteilung – eben tendenzlos. Nur in dieser Offenheit kann sich ein psychoanalytischer Prozess entwickeln.
Die Patienten bringen die Bewegtheit des äußeren Lebens, ihrer Geschichten und Lebensereignisse in das Behandlungszimmer des Analytikers. Dort aber wird das äußere gegenwärtig-praktische Leben suspendiert. Der Analytiker entwickelt eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die neben dem Zuhören das ganze Spektrum der Wahrnehmung umfasst; neben dem Inhalt der gesprochenen Worte nimmt der Analytiker den Klang der Stimme, das Tempo, die Motorik und Gestik, die Kleidung, den ganzen Habitus des Patienten wahr und, so vollständig wie möglich, auch seine eigene Beteiligung an der Interaktion. In zeitlicher Hinsicht richtet sich die Wahrnehmung des Analytikers nie ausschließlich auf die "reale" Gegenwart, sondern stets auch auf die Wurzeln dieser Gegenwart in der Vergangenheit
Im Laufe des analytischen Prozesses entwickelt sich, der Tendenzlosigkeit dialektisch entgegengesetzt, eine Sinnstruktur: Ein Zusammenhang zwischen der Kindheitsbiografie, der gegenwärtigen Lebenssituation und der Übertragung wird sichtbar und bildet die Grundlage der Deutung.
Der notwendige Freiraum
Psychoanalytiker sind kontinuierlich mit dem Unbewussten ihrer Patienten befasst, mit jenen entscheidenden primären Lebenserfahrungen, die normalerweise aus dem Bewusstsein ausgeschlossen bleiben. Ihre Aufgabe verlangt ein Offenhalten des Zugangs zum eigenen Unbewussten, dem die normalen Abwehrmaßnahmen entgegenstehen. Mit jeder neuen Behandlung übernimmt der Analytiker den Auftrag, für die Zeitstrecke der Analyse ein bedeutungsvoller Anderer (Mead 1934) für seinen Patienten zu sein.
Für diese Aufgabe benötigt der Analytiker eine Abgeschirmtheit von der äußeren Gegenwart, einen geschützten Beziehungs-Raum, der von den Rahmenbedingungen her garantiert werden sollte. Dieser notwendige Freiraum ist nie absolut, denn Analytiker und Analysand begegnen sich stets in einem örtlichen und zeitlichen Rahmen und unter vorbestehenden gesellschaftlichen Bedingungen, welche die analytische Situation unvermeidlich von außen beeinflussen.
Aber die sehr spezifische Art der beruflichen Praxis bestärkt stets den Wunsch, möglichst ungestört von äußeren Einflüssen zu bleiben. Dies ist eine Wurzel für die Skepsis und den Vorbehalt der Psychoanalytiker:innen gegenüber einer Tätigkeit im öffentlichen Gesundheitswesen. Denn ein solches Engagement bedeutet immer, zusätzliche Regeln, Verträge, Auflagen beachten zu müssen. Von der psychoanalytischen Situation her gesehen, sind das alles Störungen.
Ich komme nun zu meinem zweiten Punkt, der Geschichte der Psychoanalyse.
3. Einige historische Wegmarken der Psychoanalyse
In der Gründungszeit der Psychoanalyse haben Freud und seine ersten Schülerinnen und Schüler wenig Vertrauen darauf gesetzt, dass die Psychoanalyse ihren angemessenen Platz im Gesundheitssystem, in den Universitäten und Berufsorganisationen erringen könnte. Sie sahen sich mit einem feindseligen Widerstand konfrontiert, den sie mit Recht unmittelbar auf ihre Erkenntnisse über das Unbewusste beziehen konnten. So war es nicht verwunderlich, dass spätestens ab 1910 die Vorstellung einer besonderen Verletzlichkeit ihrer Profession vorherrschte und die Analytiker es als notwendig ansahen, eine geschlossene Front zu bilden (Cooper 2001).
Mag angesichts der historischen Provokation von Freuds Entdeckungen eine solche Art der Gruppenbildung unvermeidlich gewesen sein, so barg sie von Anfang an die Gefahr von Professionalisierungsdefiziten, denn die psychoanalytischen Berufsvereinigungen erhielten so den Charakter von Bündnisgruppierungen, den sie bis heute nicht ganz abgelegt haben. Die Dynamik der Gruppe und des Vereinslebens kann Schattenseiten ausbilden, hier sind die Abkapselung, die Idealisierung, das dogmatische Festhalten an Traditionen zu nennen (Bruns 1996, Pollak 2014).
Auf der anderen Seite hat die Psychoanalyse in ihren Vereinigungen spezifische Standards entwickelt. Sie kann als Profession im Sinne von Parsons (1967) angesehen werden. Professionen verfügen über eine relative gesellschaftliche Autonomie und bevorzugen oft mündliche Formen der Wissenstradierung (Stichweh 1996). Das ist in der Psychoanalyse besonders deutlich: Lehranalyse und Supervision stellen eine spezielle Form mündlicher Berufstradition dar.
Im Folgenden sollen, wie angekündigt, einige historische Beispiele benannt werden, wie sich die Psychoanalyse in Bezug auf das Gesundheitswesen – und damit auch auf die Ausbildung für die Tätigkeit im Gesundheitswesen – positioniert hat.
Erste Schritte ins öffentliche Gesundheitswesen
Schon früh in der Geschichte der Psychoanalyse gab es Initiativen, psychoanalytische Behandlungen auch ärmeren Patienten zu ermöglichen, die nicht, wie die meisten Patienten Freuds, wohlhabend genug waren, um ein entsprechendes Privathonorar aufzubringen. Bereits in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurden an der Poliklinik des Berliner Psychoanalytischen Institutes (Danto 1999) und am Wiener Psychoanalytischen Ambulatorium (Danto 1998) psychoanalytische Behandlungen für wenig Geld bzw. unentgeltlich durchgeführt. Den Anfang machte Berlin und dieser Weg soll etwas genauer beschrieben werden. (Ich folge bei der Darstellung der Berliner Poliklinik dem ausführlichen Bericht von Michael Schröter [Schröter 2023, 291- 299].)
1918 hatte Freud, in seiner Ansprache auf dem 5. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest, die Forderung aufgestellt: "Irgend einmal wird das Gewissen der Gesellschaft erwachen und sie mahnen, dass der Arme ein ebensolches Anrecht auf seelische Hilfeleistung hat wie bereits jetzt auf lebensrettende chirurgische. (.....) Diese Behandlungen werden unentgeltliche sein. Es mag lange dauern, bis der Staat diese Pflichten als dringende empfindet. (...,) aber irgendeinmal wird es dazu kommen müssen. (…) (Freud 1919a, 192f).
Er hatte dabei ein für Budapest geplantes philanthropisches Projekt von Anton von Freund vor Augen, das aber durch dessen frühen Tod nicht zustande kam. Eitingon übernahm die Idee und gründete mit der Berliner Gruppe die Berliner Psychoanalytische Poliklinik. Sie wurde 1920 eröffnet, Freuds Budapester Ansprache gilt als ihr Gründungsmanifest.
Poliklinik bedeutete: eine Klinik für die Armen. Die Tätigkeit dort wurde von den Analytiker:innen und Ausbildungskandidat:innen in der Regel unentgeltlich geleistet. Von den Patienten wurde ein Honorar nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten verlangt, was im Extremfall auch Gratisbehandlungen einschloss. Krankenkassenbeiträge spielten wohl noch keine Rolle; insgesamt deckten die Einnahmen höchstens ein Drittel der Kosten, das Defizit wurde lange Zeit durch große Zuschüsse von Eitingon ausgeglichen.
In der erwähnten Ansprache hatte Freud am Schluss hinzugefügt: "Wir werden auch sehr wahrscheinlich genötigt sein, in der Massenanwendung unserer Therapie das reine Gold der Analyse reichlich mit dem Kupfer der direkten Suggestion zu legieren. (...) Aber wie immer sich auch diese Psychotherapie fürs Volk gestalten, aus welchen Elementen sie sich zusammensetzen mag, ihre wirksamsten und wichtigsten Bestandteile werden gewiss diejenigen bleiben, die von der strengen, der tendenzlosen Psychoanalyse entlehnt worden sind" (Freud 1919a, 193f).
Die Erfahrungen der Berliner Poliklinik haben Freuds Vorbehalte nicht bestätigt. Wie Eitingon zwei Jahre nach Eröffnung der Poliklinik berichtete, hatte die Frage der Bezahlung oder Nicht-Bezahlung den Gang der Behandlung nicht erkennbar beeinflusst (Eitingon 1922, 510-513).
In der damaligen psychoanalytischen Community wurde die Geschichte der Berliner Poliklinik als Erfolgsgeschichte wahrgenommen, prinzipielle Zweifel spielten meines Wissens keine Rolle.
Psychoanalyse in der Zeit des Nationalsozialismus
Ich möchte dieses problematische Kapitel im vorliegenden Rahmen nicht übergehen, weil die Erinnerung daran jeder Diskussion darüber, wie sich Psychoanalytiker im Gesundheitswesen und in der Gesellschaft positionieren sollen, einen traumatischen Akzent verleiht. Eine Reihe von Veröffentlichungen über diesen Teil der deutschen psychoanalytischen Geschichte liegen vor und ich beschränke mich hier auf eine ganz knappe Darstellung der Vorgänge in Berlin.
(Aus der Vielzahl von Texten möchte ich den Sammelband von Lohmann [Lohmann 1984] nennen, der viele Aufsätze enthält, die in der Zeitschrift Psyche namentlich in den 1980er Jahren erschienen sind, ferner die Arbeiten von Lockot (1984, 1994) und das umfangreiche Kapitel in Schröter (2023). Zu erwähnen ist ferner die Ausstellung „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter…“, die während des IPA-Kongresses in Hamburg 1985 gezeigt wurde [Brecht u.a. 1985].)
Die Berliner Psychoanalytiker-Gruppe gründete 1910 die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft (DPG), 1920 die erwähnte Poliklinik und 1923 das mit ihr eng verbundene Berliner Psychoanalytische Institut (BPI). Die Berliner Gruppe bestand 1932 noch aus 56 Kolleg:innen aus 5 Ländern, 70 Prozent von ihnen waren Juden. 1933 erfolgte eine erste große Emigrationswelle. Eitingon, der als Gründer der Poliklinik und Leiter des Instituts – und großzügiger Finanzier beider Institutionen – eine zentrale Figur war, trat 1933 von seinem Vorstandsposten in der DPG zurück, er emigrierte im selben Jahr nach Palästina und gründete in Jerusalem eine Zweigvereinigung der International Psychoanalytical Association (IPA). Für ihn war „eine ganze alte Welt in Trümmer gegangen“ (Schröter 2023, 579). 1935 wurden die jüdischen Mitglieder der DPG, die noch nicht emigriert waren, zum „freiwilligen Austritt“ genötigt; das betraf mit 15 Personen etwa die Hälfte der aktuellen Mitgliedschaft und geschah in einer Vorstandssitzung, zu der Jones, damals Präsident der International Psychoanalytical Association (IPA) extra aus London angereist war. Die verbliebene Gruppe der nichtjüdischen Analytiker:innen trat später in das gleichgeschaltete „Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie“ ein, das sogenannte „Göring“-Institut, und übernahm dort teilweise Ausbildungs- und Leitungsfunktionen (Schröter 2023, 571- 717; Hermanns 2022, 677-680).
Anna Freud schrieb Ende 1946 an August Aichhorn über die in Deutschland verbliebenen Kollegen: „Es ist ganz sicher, dass sie keine Nazis waren. Ich glaube, es ist ebenso sicher, dass sie keine Helden waren. Aber es hat nicht viel Sinn, von Menschen zu verlangen, dass sie Helden sein sollen, besonders da sie ja alle tot wären, wenn sie es gewesen wären (…)sie haben jedenfalls an der Analyse festgehalten, soweit sie konnten“ (Freud, A, & S Aichhorn, A. [2012, 221]). Michael Schröter zitiert diese Passage in seiner ausführlichen Darstellung der Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Er sieht in diesen Worten eine Richtschnur, das Verhalten der damaligen DPG-Akteure realistisch-human zu beurteilen (Schröter 2023, 717).
Diese Richtschnur sollte uns aber nicht daran hindern, uns ein möglichst genaues Bild von den Vorgängen zu machen. Eine überhebliche moralische Verurteilung, die aus einer hier und heute ungefährdeten Situation allzu leicht vorzunehmen wäre, verbietet sich: denn niemand kann mit Sicherheit sagen, wie er sich unter damaligen Umständen verhalten hätte. Umso wichtiger scheint es mir, die schwerwiegenden Konzessionen zu sehen, auf die sich die verbliebenen Analytiker:innen eingelassen haben (Lockot 1994, 9). Aus meiner Sicht haben die Protagonisten versucht, das institutionelle Fortleben der Psychoanalyse dadurch zu retten, dass sie alles Jüdische daraus zu entfernen versuchten. Das betraf nicht nur die Personen und Autoren, sondern auch alle Begrifflichkeiten und Konzepte. Mit diesem Bestreben eliminierten sie aber auch den Wahrheitsgehalt der Psychoanalyse. Mit anderen Worten, das Bemühen, eine öffentliche Position der Psychoanalyse aufrecht zu erhalten, war mit der Auflösung zentraler Werte verbunden.
Innerhalb der Berufsgruppe hat die kritische Aufarbeitung der Geschichte der Psychoanalyse während der NS-Zeit zu wesentlichen Teilen erst in den 80er Jahren begonnen. Vieles wurde verschwiegen, viele Dokumente gingen nach dem Krieg verloren oder wurden vernichtet (Lockot 1994, 12). Brainin und Kaminer sprechen von einem „realen Trauma“, das der Nationalsozialismus in der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung darstelle (Brainin & Kaminer 1982, 1009). Bruns erwähnt, dass die beiden Hauptakteure der Anpassung an den Nationalsozialismus und der Illoyalität gegenüber den jüdischen Kollegen, Boehm und Müller-Braunschweig, von 1950 bis 1958 erneut den deutschen psychoanalytischen Vereinigungen vorstanden, Böhm als Vorsitzender der DPG, Müller-Braunschweig als Vorsitzender der DPV (Bruns 2019, 50).
Mit diesen knappen Hinweisen möchte ich es belassen; es ist hier nicht der Ort, auf die komplexe Nachkriegsgeschichte der deutschen Psychoanalyse näher einzugehen. (Aus der umfangreichen Literatur dazu seien genannt: Lockot 1994, Lockot 2000, Hermanns 2001, Focke 2010, Holmes & Müller 2016.)
Die Verbrechen des Nationalsozialismus haben die Psychoanalyse besonders betroffen, weil die meisten Analytiker:innen jüdischer Herkunft waren. Unsere Erinnerung und die historische Aufarbeitung dieser Zeit ist, wie in anderen Berufsgruppen auch, unweigerlich mit der Frage verknüpft, wie sich die eigene Zunft verhalten hat.
Für unsere heutige Fragestellung können wir zum Glück ganz andere gesellschaftliche Bedingungen voraussetzen.
Psychotherapeutische Behandlungen im Rahmen der Krankenversicherung
(Nachfolgend beziehe ich mich überwiegend auf meine Überlegungen zur Psychoanalyse im Richtlinien-Korsett [Pollak 2020].)
Die 1967 eingeführte Finanzierung psychotherapeutischer Behandlungen durch die Gesetzliche Krankenversicherung stellt eine sozialstaatliche Errungenschaft dar, die nur in wenigen westlichen Ländern in vergleichbarer Form vorliegt; sie ermöglicht bis heute einer Vielzahl von Patient:innen den Zugang zu solchen Behandlungen. Die überwiegende Zahl der niedergelassenen Analytiker:innen ist innerhalb dieses Richtlinien-Systems tätig und bezieht daraus den größeren Teil ihres Berufseinkommens. Wenn die Psychoanalyse somit einen gewissen Frieden mit der Anwendung ihrer Methode im Rahmen der Krankenversicherung geschlossen hat, möchte ich im Folgenden den Korsett-Charakter dieser Richtlinien verdeutlichen.
Zur Vorgeschichte
1965 veröffentliche Annemarie Dührssen, die damalige Leiterin des Instituts für psychogene Erkrankungen der AOK in Berlin, mit Eduard Jorswieck eine Untersuchung zur "Leistungsfähigkeit" psychoanalytischer Behandlungen; darin konnten sie nachweisen, dass bei Patienten, die psychoanalytisch behandelt worden waren, signifikant weniger Krankenhausaufenthalte pro Jahr zu verzeichnen waren, als bei der unbehandelten Vergleichsgruppe (Dührssen & Jorswieck 1965).
Dieser Nachweis eines volkswirtschaftlichen Gewinns hatte den letzten Ausschlag dafür gegeben, dass im Mai 1967 der damalige Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen den wegweisenden Beschluss faste, psychotherapeutische Behandlungen in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufzunehmen. Vor der Beschlussfassung gab es Bedenken und Skepsis, sowohl von Seiten der Analytiker als auch der Krankenkassen.
Bedenken der Analytiker
Die Analytiker fragten sich, ob eine ausreichende Motivation, die sie bei einer privaten Finanzierung als gegeben ansahen, bei einer Kassenfinanzierung überhaupt noch gegeben sei. Auch die Einbeziehung einer dritten, der Analyse fremden Instanz und die Einbindung in eine bürokratische Verwaltungswelt wurde kritisiert.
Derartige Zweifel, die sich, wie erwähnt, schon bei der Berliner Poliklinik nicht bestätigt hatten, sind inzwischen auch in anderen Untersuchungen entkräftet worden. Sandell u. a. (2001) fanden in ihrer großen Stockholmer Studie keine Bestätigung für die Annahme, dass die finanzielle Eigenbeteiligung einen Einfluss auf das Behandlungsergebnis habe.
Bedenken der Krankenkasse
Auf der anderen Seite gab es, sowohl von den Krankenkassen als auch von einigen Psychotherapeuten bzw. Analytikern die Skepsis, mancher Analytiker könnte eine Kassenfinanzierung dazu benützen, um endlos vier- und fünfstündige Analysen mit ausgewählten Patienten auf Kosten der Allgemeinheit zu betreiben.
Auch diese Bedenken können inzwischen als widerlegt gelten. Der gesamte Bereich der ambulanten Psychotherapie bewegte sich laut einer Untersuchung von 1995 in einer Größenordnung von etwa 0,17% aller Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV); die Analytische Psychotherapie selbst machte nur 0,009% aller GKV-Leistungen aus (Herold 1995, S. 475 ff).
Die Zahlen der Studie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) von 2011 belegten darüber hinaus, dass die Psychotherapeut*innen in ihrer Gesamtheit sehr zurückhaltend waren, was die Budget-Belastung der GKV betrifft: Zwei Drittel der Patienten wurden mit Kurzzeittherapie behandelt und in der Hälfte der Fälle wurde das bewilligte Kurzzeit-Kontingent nicht ausgeschöpft. Am andern Ende des statistischen Spektrums, bei den Analytischen Psychotherapien, zeigte sich, dass weniger als die Hälfte der Behandlungen mehr als 100 Sitzungen umfasste (Kremser 2014, Bowe 2014).
Die Psychotherapie-Richtlinie
Mit der Einführung der Kassenfinanzierung wurde 1967 eine Psychotherapie-Richtlinie verabschiedet – inzwischen vielfach erweitert und verändert – welche die Anerkennung und Verwaltung solcher Behandlungen regelt. Dührssen und die von ihr vertretene psychoanalytische Schule, die den Auffassungen ihres Lehrers Schultz-Hencke sehr verbunden blieb, prägten den Zuschnitt dieser Richtlinie. Die bewusste und systematische Strukturgebung erhielt gegenüber der freien Assoziation und der gleichschwebenden Aufmerksamkeit ein besonderes Gewicht: kürzere Analysedauer, niedrigere Frequenz, bewusstere Zielsetzungen, engerer Bezug zwischen Diagnose und Behandlungstechnik sollen damit ermöglicht werden. Dies möchte ich etwas eingehender erörtern.
Die standardisierte Zuordnung von Diagnose und zugehörigem Verfahren
Der Krankheitsbegriff der Richtlinie ist stark an einen organischen Krankheitsbegriff angelehnt. Ähnlich wie z.B. bei einer akuten bakteriellen Blasenentzündung eine antibiotische Medikation für einen festgelegten Zeitraum indiziert ist, strebt die Richtlinie nach einer Standardisierung von Diagnose und zugehörigem Verfahren.
Dies zeigt sich beispielhaft an den beiden Verfahren Analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Sie bezeichnen im Grunde die Anwendung der psychoanalytischen Methode in einem hochfrequenten bzw. niederfrequenten Setting. In der Richtlinie werden sie aber darüber hinaus durch die Festlegung ihrer diagnostischen Indikation bzw. des Behandlungsumfangs definiert.
Diese Festlegungen sind meines Erachtens willkürlich und entsprechen in keiner Weise der psychoanalytischen Theorie und Praxis. Sie stellen einmal gefundene soziale Kompromisse dar, die im Rahmen der Richtlinientherapie eine Art Eigenleben entfaltet haben.
Der Begriff der "Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie" wurde 1967 von Theodor Winkler vorgeschlagen und in die Richtlinie aufgenommen, mit anderen Worten mit der Richtlinie erst geschaffen, um die dort angeführten Therapieformen zu differenzieren (Rüger u.a. 2015, S. 42). Der Begriff ist ursprünglich eine Kompromissformel gewesen, mit der in der Richtlinie niederfrequente Therapieformen von mittlerer Behandlungsdauer bezeichnet wurden.
In der historischen Entwicklung hat die Ausbildung für die Zusatzbezeichnung "Psychotherapie" für Ärzte und die später parallel konzipierte Ausbildung für Psychologen die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie aus dem engen Zusammenhang mit höher frequenten psychoanalytischen Verfahren herausgelöst. Der ursprüngliche Zweck war, gegenüber der langwierigen psychoanalytischen Ausbildung eine kleinere Variante aufzubauen. Als "Zusatz"-Ausbildung für Ärzte und Psychologen, die zusätzlich zu ihrer Haupttätigkeit gelegentlich psychotherapeutisch tätig sein wollten und hierfür eine solidere Grundlage suchten, machte dies Sinn. In der Praxis aber wurde diese Ausbildung von beiden Berufen als Ausbildung zu einer vollen psychotherapeutischen Berufstätigkeit genützt. Die Absolvent*innen dieser Ausbildung erfüllten z. T. wichtige psychotherapeutische Versorgungsaufgaben, die von manchem Analytiker mit Schwerpunkt auf der 4-stündigen Analyse nicht wahrgenommen wurden.
Auch heute gibt es in der Psychoanalyse eine gewisse Polarisierung zwischen denjenigen, die eine hochfrequente 4- bis 5- stündige Behandlung für die einzig legitime Anwendung der Psychoanalyse halten und denjenigen, die auch niederfrequente Formen zu den legitimen Setting-Formen der Psychoanalyse zählen. Manche Befürworter der niederfrequenten Behandlungen werfen den von ihnen als zu orthodox betrachteten Hochfrequenz-Befürwortern vor, sie verstünden nichts von den niederfrequenten Anwendungsformen. Umgekehrt werfen die 'Orthodoxen' ihren Kritikern vor, sie verwässerten die Psychoanalyse.
In der Richtlinie und später im Psychotherapeutengesetz hat die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie den Rang eines eigenen Verfahrens erhalten.
Der Begriff der "Analytischen Psychotherapie" hat eine ganz ähnliche Funktion wie die "Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie", er dient der Zuordnung von Frequenz und Behandlungsumfang zu einer diagnostischen Indikation und versucht, dieses Verfahren von einer höher frequenten Psychoanalyse abzugrenzen.
Das Gutachterverfahren
In unserem Medizinsystem besitzt normalerweise der behandelnde Arzt die Entscheidungsbefugnis über sein Handeln. Das Gutachterverfahren ist in dieser Form nur auf dem Gebiet der Psychotherapie vorhanden und stellt eine besondere Form der Kontrolle dar; es hat die Aufgabe, die Einhaltung der Richtlinie zu überwachen. Die Gutachter belassen es indes häufig nicht bei einer solchen Überprüfung, sondern versuchen, eine supervisorische Funktion auszuüben. Sie interpretieren dann die Richtlinie subjektiv und erteilen dem Behandler Ratschläge, wie er die Behandlung zu führen und zu konzipieren habe. Ablehnung und Zustimmung hängen demnach auch von persönlichen Steckenpferden und Präferenzen der Gutachter ab, die sie mit ihrer gutachterlichen Tätigkeit auch weiterverbreiten wollen. Der Behandler sieht sich gezwungen, sein Behandlungskonzept in einer Richtliniensprache zu formulieren und der Gutachter kann dies entsprechend seinen Präferenzen entziffern, gutheißen oder ablehnen
Der Gegensatz zur Psychoanalyse
Die generelle Zuordnung von Frequenz und Behandlungsumfang zu einer diagnostischen Indikation ist aus psychoanalytischer Perspektive insofern problematisch, als sie eine diagnosebezogene standardisierte Behandlungstechnik voraussetzt.
Zwar hat auch der Analytiker/die Analytikerin zu Beginn einer Analyse ein diagnostisches Konzept über die Erkrankung, die erforderliche Frequenz und die voraussichtliche Dauer der Behandlung. Die in der Richtlinie vorgesehenen Stundenkontingente sind jedoch, unabhängig von der geplanten Frequenz, in der Regel viel zu gering, um eine psychoanalytische Behandlung sinnvoll planen zu können.
Dies hängt damit zusammen, dass die Dauer der Behandlung, als Zeit der Beziehung und des Erlebens, in der Psychoanalyse eine so große Bedeutung hat. Die psychoanalytische Methode geht mit ihrem zentralen Konzept der Übertragung davon aus, dass für die Behandlung psychischer Störungen primäre Kindheitserfahrungen reaktiviert werden müssen. Das individuell erworbene "implizite Beziehungswissen" gilt als Grundlage psychischer Störung und kann verändert werden, sofern die Behandlung eine entsprechend intensive Beziehungserfahrung ermöglicht (Stern et al. 1998, Boston Change Process Study Group 2007). Dazu braucht der Patient/die Patientin aber genügend Entwicklungszeit. Innerhalb des Richtliniensystems ist der Analytiker/die Analytikerin oft gezwungen, einen Kompromiss zu finden zwischen der erforderlichen Frequenz und der zugleich notwendigen Zeitstrecke.
Hier manifestiert sich der Gegensatz zwischen einem versicherungspolitischen Denken und einem psychoanalytischen Konzept, das auf der Freiheit der Beteiligten beruht, sich möglichst ohne äußere, von vornherein feststehende Begrenzung auf den Prozess einzulassen.
Zu der hier vorgetragenen Kritik der Psychotherapie-Richtlinie möchte ich gleichwohl hinzufügen, dass in manchen Wechselfällen der gesundheitspolitischen Debatte eine Verteidigung der Richtlinie durchaus angebracht ist. Nämlich dann, wenn neuere Reformideen eine größere Einschränkung der Stundenkontingente und eine noch stärkere Kontrolle von außen, etwa durch regelmäßige Tests, vorschlagen; dann ist das Richtliniensystem samt Gutachterverfahren eine Errungenschaft auch für die Psychoanalyse, die gegen weitere Einschränkungen verteidigt werden sollte.
Das Psychotherapeutengesetz
Das Psychotherapeutengesetz, (im vollständigen Wortlaut: Gesetz über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten), das in seiner ersten Fassung 1999 in Kraft getreten ist, und die gleichzeitig vom Bundesministerium erlassene Ausbildungs- und Prüfungsverordnung haben als Reform die psychoanalytischen Institute vor große Anforderungen gestellt; die angestrebten Veränderungen waren vielleicht nicht ganz so schwerwiegend wie die jetzige Novellierung dieses Gesetzes, aber die Aufgabenstellung, die Skepsis und die Angst vor den Veränderungen von damals sind wohl mit heute vergleichbar. Lassen Sie mich diese Veränderungen, mit denen die Institute ja seither leben, kurz zusammenfassen:
- Das Gesetz vollzog eine seit Jahrzehnten angestrebte Gleichstellung von Psychologen und Ärzten in der Psychotherapie. Die psychotherapeutisch ausgebildeten Psycholog:innen erhielten einen von der bisherigen ärztlichen Delegation unabhängigen Zugang zum kassenfinanzierten Gesundheitswesen, sie wurden Mitglieder der kassenärztlichen Vereinigungen und bildeten eigene Kammern.
- Den staatlichen Gesundheitsbehörden wurde die berufsrechtliche Regelung der Ausbildung bis zur Approbation zuerkannt. Die Kassenärztlichen Vereinigungen blieben sozialrechtlich zuständig für die Zugangsberechtigung zum Leistungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung. Beide Institutionen haben für eine hohe Regelungsdichte gesorgt, die auch die Struktur der psychoanalytischen Ausbildungsinstitute erfasst hat.
- Die neuen gesetzlichen Vorgaben schrieben vor, dass alle Ausbildungsbehandlungen im Rahmen von Ambulanzen der Institute organisiert und abgerechnet werden mussten. Während bisher ein beauftragender Arzt die rechtlich-institutionelle Verantwortung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung übernahm, übernahm nunmehr das Institut direkt diese Verantwortung.
- Die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie wurde als eigenständiges Therapieverfahren anerkannt, dass als „vertieftes Verfahren“ den Zugang zur Approbation und zur Kassenpraxis eröffnete.
25 Jahre später hören sich diese Veränderungen nicht mehr so dramatisch an, wie sie damals empfunden wurden. Sie haben die Institute zu umfangreichen institutionellen Reformen gezwungen, die bis heute nachwirken. Auch die Strukturreform der DPV, die 2002 begonnen und 2008 abgeschlossen wurde, war vermutlich in Teilen eine Reaktion auf diese Veränderungen.
5. Schlussbemerkung
In ihrer Geschichte hat sich die Psychoanalyse von einem anfänglich sehr privaten Club zu einer Profession entwickelt, die hierzulande auch einen Platz im öffentlichen Gesundheitswesen einnimmt. Diese Entwicklung war dadurch gekennzeichnet, dass der relativ große Freiraum einer privaten Vereinigung zunehmend durch staatliche und behördliche Vorgaben eingeengt wurde.
Ein Rückzug, heraus aus dem öffentlichen Gesundheitswesen in einen Elfenbeinturm, der einer kleinen Gruppe die Pflege und Weitergabe der „reinen“ Lehre erlaubte, ist, wie ich meine, keine realistische Option. Es wäre ein massiver Verlust für alle Patient:innen, die von der Analyse profitieren können. Es wäre aber, so meine ich, auch für die Psychoanalyse selbst ein Verlust. Sie würde sich dann aus einer Profession wieder zu sehr in eine soziale Bewegung zurückentwickeln.
Aber der Impuls, ein Stück Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen aufrechtzuerhalten, ist für die Psychoanalyse essentiell. Umso wichtiger scheint es, dass sie jene Freiräume, die sie bis jetzt verteidigen konnte, weiterhin behält. Die institutionelle Auseinandersetzung mit der neuen Reform des Psychotherapeutengesetzes beginnt ja erst und es wird die Anstrengung vieler brauchen, diesen Freiraum zu sichern.
Literatur
Boston Change Process Study Group (2007): Implicit process in relation to conflict, defense and the dynamic unconscious. Int J Psychoanal 88 (4), 843-860.
Bowe, N. (2014): Sparsam und effektiv, auch ohne Druck von außen. Projekt Psychotherapie, Heft 2/2014, 11-22.
Brainin, LE. & Kaminer, I. (1982): Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Psyche Z Psychoanal 989-1012.
Brecht, K., Friedrich V., Hermanns, L., Kaminer I., & Juelich, D. (1985): „Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter“…“ Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland. Katalog und Materialiensammlung zur gleichnamigen Ausstellung auf dem 34. Kongress der IPA in Hamburg 1985. Hamburg (Kellner).
Bruns, G. (1996): Spaltung und Entfaltung. Die doppelte Bedeutung wissenschaftlicher Entwicklungen in der Psychoanalyse. In: Bruns, G. (Hg.): Psychoanalyse im Kontext, Opladen (Westdeutscher Verlag), 101-123.
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