I Einige Passagen zum Thema „Erinnern“ aus Friedländers Buch „Versuche, dein Leben zu machen“.
„An einem Nagel hing noch ein Kleid, das eine Frau vergessen hatte. Ein Becher stand auf einem Tisch, als hätte eben noch jemand daraus getrunken. Ein halb geschlossener Koffer, aus dem Kleiderfetzen quollen.“ (S.196)
„Es gab sie nicht mehr. Nur die Dinge, die sie zurückgelassen hatten, konnten noch von ihnen erzählen.“ (S.198)
„Immer lagen Papier und Bleistift an meinem Bett. Ich wollte jeden Gedanken festhalten, der mir in den Nachtstunden kam. Viele Erinnerungen, die ich in diesen Nächten aufschrieb, wären am anderen Morgen wieder verblasst…
Ich bin keine Schriftstellerin. Eine Geschichte habe ich. Aber diese Geschichte ist verknüpft mit dem Leiden und Sterben von vielen Millionen Menschen. Wie kann ich darüber schreiben?“ (S.253)
„Deutsche hatten mein Leben zerstört, Deutsche hatten es gerettet. Deutsche hatten mich versteckt, Juden mich ausgeliefert.“ (254)
„Meine Heimat ist ein Land, das es nicht mehr gibt.“ (S.256)
„Den schlimmsten Augenblick meines Lebens hatte ich hier in dieser Straße erlebt: den Moment, als ich begriff, dass ich meine Mutter vielleicht nie wieder sehen würde. Erst lange nach meiner Emigration erfuhr ich, was mit meiner Familie geschehen war… Es schien, als seien sie verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen.“ (S.257)
„Mein innerer Kampf mit dem Schuldgefühl als Überlebende und der Schmerz über das Schicksal meiner Familie – beides begleitet mich mein Leben lang und kostet mich viel Kraft.“ (S.259)
„Doch immer stärker verlangten meine Gefühle nach der Sprache meiner Kindheit. In den ersten Jahrzehnten meines Lebens hatte ich deutsch gesprochen, gedacht und gefühlt. Um diese Zeit nachempfinden zu können, begann ich, wieder auf Deutsch zu schreiben. Nach und nach kehrte die Sprache zu mir zurück – vor allem nachts, wenn meine Vergangenheit mich nicht schlafen ließ.“ (S.265)
„Manchmal sitze ich da und betrachte die Gegenstände, die mir aus meinem früheren Leben geblieben sind. Die Bernsteinkette und das kleine Adressbuch: Sie sind die letzten, die mir von diesem Leben erzählen können. Ich kann sie berühren, in die Hand nehmen. Sie haben mit mir überlebt – die Dinge, die mir meine Mutter hinterlassen hat.“ (S.268)
II Der Freud‘sche Wunderblock
Zwischen Freuds Epoche und uns liegt die Shoah. Dies hat das Wissen vom Menschen verändert. Und die Psychoanalyse? Der Blick auf die Wiederkehr des Verdrängten zeigt, dass die Erinnerungsarbeit mit der Täterforschung verknüpft werden muss, um aufmerksam bleiben zu können gegenüber einer „Produktion der Unbewusstheit“ (Erdheim) im Sog erbarmungsloser Gier nach Ehre, Ruhm, Reichtum und Macht. Die Spuren des Völkermords sind in unser Gedächtnis für immer eingegraben wie die Furchen einer dunklen Schrift, wie die Gravuren in der Wachsschicht des „Wunderblocks“, mit dem Freud lange davor den „Erinnerungsapparat“ veranschaulichte.
Wir kennen dieses Kinderspielzeug heute unter dem Namen „Zaubertafel“. Es kam 1924 in den Handel und hat sofort Freuds Interesse erregt, weil er in ihm eine Analogie zu seiner Vorstellung vom Bau unseres „Wahrnehmungs- und Erinnerungsapparats“ sah: wie dieser Wunderblock ist unsere Seele immer wieder von neuem aufnahmefähig. Zugleich aber kann sie in den tieferen Schichten dauerhafte Erinnerungsspuren speichern, ähnlich wie auf der Wachsschicht der Zaubertafel, deren Spuren man bei schräger Beleuchtung entziffern kann. In einer sehr kompakten, nur 5 Seiten umfassenden „Notiz über den Wunderblock“ hat Freud 1925 seine bisherigen Vorstellungen von der Funktionsweise der Wahrnehmung, der Erinnerung und des seelischen Bewusstseins in genialer Anschaulichkeit zusammengefasst und dabei auf den Zweck und Nutzen der schriftlichen Aufzeichnung und des Archivs verwiesen. Das, was wir sonst unsichtbar in uns tragen, kann mit solchen Mitteln „materialisiert“ und an einem bestimmten Ort untergebracht werden. Die „Erinnerung“ - und es ist nicht ohne Bedacht, dass Freud dieses Wort in Anführungsstriche setzt -, ist dann „fixiert“.
Wenn man sich nur den Ort merkt, an dem diese materialisierte Spur aufbewahrt ist, kann sie jederzeit und nach Belieben „reproduziert“ werden, denn durch ihre Materialisierung in der Außenwelt – so fügt Freud hinzu – sind wir sicher, „dass sie unverändert geblieben, also den Entstellungen entgangen ist, die sie vielleicht in meinem Gedächtnis erfahren hätte“. Mit dem Wort „Entstellung“ bezeichnet Freud unsere Tendenz, die Wirklichkeit umzudeuten, d.h. nach unseren Wünschen aufzufassen, darum schöner zumeist, als sie ist, Entstellung also im Sinne von Maskerade, Fassade oder Verkleidung.
Der unbequemste Gedanke Freuds kommt gleich im ersten Halbsatz der kleinen Arbeit, wo Freud dem Neurotiker, der seinem Gedächtnis „in auffälligem Maße“ misstraue, den Normalen gegenüberstellt. Der Neurotiker ist für Freud verstehbar: in einer Vielzahl klinischer Beispiele hat Freud dargestellt, wie der Neurotiker unter seinem Misstrauen Unbehagen verspürt, wie dieses Misstrauen mit der Verdrängung zusammenhängt, und wie das Verdrängte in seinen neurotischen Symptomen schmerzlich wiederkehrt. Der Neurotiker sucht deshalb Hilfe, weil er mit dieser Heimsuchung durch die unerträgliche Wahrheit seelisch nicht mehr zurechtkommt, Angst oder Beklemmung empfindet. Beim Normalen ist das anders. Er glaubt hier in der Regel keine Hilfe zu brauchen. Aber gerade diesem Normalen begegnet Freud als Mahner: Gerade er, der Normale, habe „allen Grund dazu“, seinem Gedächtnis zu misstrauen. Diese Mahnung Freuds an den Normalen, der weniger zweifelt und leidet als der Neurotiker, können wir vielleicht erst heute in ihrer Weitsicht ermessen. Sie führt zu einer unheimlichen Frage. Wenn auch der Normale, ohne neurotischer Verdrängung und ihren Symptomen ausgesetzt zu sein, sein Gedächtnis entstellt, wie geht das dann, wie sieht das aus, wie kann es geschehen, und wie lässt es sich erklären?
III Die Techniker der Endlösung
2006 fand im Essener Ruhrlandmuseum eine ungewöhnliche Ausstellung statt, die der Frage nachging, wer eigentlich die Öfen für die Shoah gebaut hat. Sie wurde kuratiert vom damaligen Leiter der Gedenkstätte Buchenwald Prof. Volkard Knigge und befasste sich – so könnte man sagen – mit dem Unbewussten tüchtiger Deutscher, normaler Bürger ihrer Zeit, Angestellte einer ganz normalen deutschen Firma, die 1878 von Braumeister Topf in Erfurt als feuerungstechnisches Baugeschäft gegründet wurde und mit der Herstellung von Mälzereianlagen für Brauereien vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Betrieb mit über 500 Mitarbeitern wuchs. Dampfkessel-, Schornstein- und Silospeicherbau kamen dazu, im gleichen Zuge Be- und Entlüftungsanlagen und schließlich mit der wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz der Feuerbestattung nach dem ersten Weltkrieg auch die Krematoriumstechnologie, wobei sich die Firma, die seit längerem auch fahrbare Kadaververnichtungsöfen für die Weidewirtschaft entwickelt hatte, in ihren Werbeanzeigen für eine besonders würdige, am sakralen Wesen der traditionellen Bestattungskultur orientierte Feuerbestattung warb und so zum Branchenführer dieser Krematoriumsanlagen wurde. Denn der zuständige Ober-Ingenieur Kurt Prüfer betonte, dass die Kremierung „nicht auf die Stufe der Kadaververnichtung sinken dürfe, sondern vor allem die Gründe der Hygiene und Pietät berücksichtigen“ müsse.
Der drohende Konkurs der Firma während der Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre wurde durch die steigenden Umsätze durch die Aufrüstung des deutschen Reiches unter dem Nationalsozialismus abgewendet. Die Konstrukteure von Topf&Söhne – so lautete mittlerweile der Firmenname – arbeiteten unter der stolzen Devise des Hauses, Erfindungsgeist, Schaffensfreude und Tüchtigkeit miteinander zu verbinden und innovative Lösungen für spezielle Kundenwünsche zu finden. „Isis“, der Markenname der Zeichenmaschinen in den Konstruktionssälen verweist auf die ägyptische Schutzgottheit der Erfinder, die etwas Brauchbares für die Menschen herstellen. Zur „Betriebsgemeinschaft“ zählten vor dem 2.Weltkrieg auch KPD-Mitglieder und als „Halbjuden“ Verfolgte, die bereits Hafterfahrungen gemacht hatten.
Einige Monate vor dem Einmarsch in Polen wurden „Topf und Söhne“ von der SS, die sich um diese Zeit auf einen starken Anstieg der Häftlinge in den Konzentrationslagern einstellte, mit der Entwicklung und Lieferung von zunächst mobilen, dann stationären Verbrennungsöfen beauftragt. Technisch entsprachen diese Öfen den Kadaververnichtungsöfen der Weidewirtschaft und sollten schnelles, effektives, ständiges und kostengünstiges Verbrennen von Leichen ermöglichen. Die Abteilung „Spezialofenbau“ im 3.Stock des Verwaltungsgebäudes in Erfurt arbeitete seit 1939 am intensivsten für die SS. Von den Fenstern aus hatte man einen freien Blick auf den Weimarer Ettersberg, wo sich das KZ Buchenwald befand. In diesem Konzentrationslager kam es nach dem Überfall auf Polen Ende 1939 durch das Zusammenpferchen und Aushungern der Häftlinge auf dem Appellplatz zum Ausbruch der Ruhr und zum ersten von der SS herbeigeführten Massensterben. Dies wurde als Anlass genommen, das Lager mit neu entwickelten Verbrennungsöfen auszurüsten. Bis zum Frühjahr 1941 verkaufte Topf&Söhne die Anlagen an Buchenwald, Dachau, Mauthausen, Gusen und Auschwitz. Einzige Konkurrenzfirma war die Kori-GmbH in Berlin. Als habe Topf&Söhne die Grundsätze würdiger Einäscherung nie vertreten, ließ sie sie gleichsam über Nacht und ohne Zwang mit dem ersten Tag des KZ-Geschäfts fallen.
Sie wussten von Anfang an genau, wozu die von ihnen bereitgestellte Technik diente, und sie hätten die Geschäftsbeziehung zur SS jederzeit und ohne gravierende Konsequenzen abbrechen können. Stattdessen war die Firma noch einige Wochen vor Kriegsende bereit, der SS bei der Errichtung einer Vernichtungsanlage in Österreich nahe Mauthausen tatkräftig zur Seite zu stehen. Die finanziellen Vorteile aus dem KZ-Geschäft waren gering. Der Umsatz betrug nur 1-2 Prozent des Gesamtumsatzes und fiel so wenig ins Gewicht wie persönliche Vorteile, die erstens auf Wenige aus der Firma beschränkt waren und zweitens allein in innerbetrieblichen Statusverbesserungen, Prestigegewinnen, Prämien, kleinen Gehaltssteigerungen sowie im Einzelfall Freistellungen von der Einziehung zur Wehrmacht lagen. In der Abteilung von Oberingenieur Kurt Prüfer machten die Geschäfte mit der SS nur 40% des Umsatzes aus. Als der Krematoriumsfachmann Kurt Prüfer, mit dem das Geschäft mit der SS stand und fiel, aufgrund von Kränkungen wegen schlechter Bezahlung und ungenügender Provisionen und Führungsbeteiligung kündigen wollte, hielt ihn die Firma mit der Begründung, er arbeite an „dringlichen Aufgaben“. Prüfer selbst erhielt zu seinem Grundgehalt von 360 RM eine Provision von 2% des Bruttogewinns und arbeitete für die SS am Ende für eine monatliche Aufstockung seiner Bezüge um 24 RM (5,6% seines Einkommens).
Die Dokumente von den Firmenabläufen geben keinerlei Hinweis auf innere Widerstände oder ethisch-moralische Schranken, noch auf einen länger dauernden Prozess von Abstumpfung und Verrohung. Von Anfang an wussten die Firmeneigentümer, Ingenieure und Monteure, wozu die gelieferten Verbrennungsöfen gebraucht und genutzt wurden. Die Beteiligten waren weder fanatische Nationalsozialisten noch zu allem bereite Antisemiten, taten sich auch in der Partei nicht weiter hervor, so dass man sagen könnte, sie hätten sich von Millionen anderer Deutscher unterschieden oder wären in besonderer Weise für den Holocaust disponiert gewesen. Die KZ-Geschäfte wurden weder anders behandelt als andere Geschäfte, noch unterlagen sie irgendeiner Geheimhaltung. Vielmehr wurden sie wie andere Großaufträge von mehreren Firmenabteilungen wie Verwaltung, Kalkulation, Fertigungswerkstätten, Versandabteilung, Frachtverkehr, Buchhaltung bearbeitet, mit unverhohlenen Begriffen wie „Gaskeller“. Ohne Kenntnis des Einsatzzwecks hätten die lagertypischen Verbrennungsöfen nicht konzipiert und optimiert werden können, und sie wurden vor Ort erprobt und bei der Inbetriebnahme und Reparatur begleitet. Die Monteure der Firma nahmen auch direkt an den ersten Massentötungen und –Verbrennungen teil, um die installierten Anlagen zu überprüfen und weiter verbessern zu können, was aufgrund der sprunghaft steigenden Todeszahlen vor allem in Auschwitz-Birkenau erforderlich war. Nach Aussagen eines ehemaligen Häftlings in Buchenwald habe einer der Monteure von Topf&Söhne, Wilhelm Koch, mitangesehen, wie ein sowjetischer Kriegsgefangener bei lebendigem Leibe in der Ofenkammer verbrannt wurde.
Die Ingenieur-Leistungen bestanden weniger in grundlegendem Erfindertum als in einer uneingeschränkten Anwendung bekannter Verbrennungsverfahren wie Müllverbrennung, Kadaverbeseitigung und industriellem Ziegelbrennen auf Menschen durch Wegfall aller Hemmungen. Es ging vor allem um die Beschleunigung des Kremierens. „Denn in den Lagern kam es nicht mehr darauf an, Menschen würdevoll einzuäschern, wichtig war allein, möglichst viele Menschen so brennstoffsparend und spurlos wie möglich verschwinden zu lassen“ (Knigge). Im Gegensatz zum Feuerbestattungsgesetz von 1934, das u.a. rauch- geruch- und überrestlose Einäscherung im Sarg ohne direkte Feuerberührung der Leiche sowie strenger individueller Identifizierung der Asche in einer dauerhaften und dichten Einzelurne vorsah, wurde das Feuer in den neuen Öfen durch die ohne Sarg verbrennenden Leichen selbst in Gang gehalten, war es nicht mehr wichtig, die Asche einzelner Toten zu identifizieren, und es genügte ein einfach entsorgbarer grober Leichenbrand. Statt Urnen wurden den Angehörigen auf Antrag und gegen Bezahlung von 3 RM Aschekapseln aus Blech zugeschickt, die wahllos mit anonymer Asche gefüllt waren und mit Schamottemarken über die wahren Verhältnisse hinwegtäuschen sollten. Wichtig war vielmehr, dass auf Grund der Dauerbeanspruchung an den Öfen keine Risse entstanden und die mitgelieferten Schürstangen nicht durch unsachgemäßen Gebrauch die Brennkammern beschädigten. Weder auf die Firmeninhaber noch auf die beteiligten Mitarbeiter treffen die Bezeichnungen „Rädchen im Getriebe“ sowie „Schreibtischtäter“ zu, denn sie haben die Anlagen nicht nur für den Zweck entworfen, sondern auch in Betrieb gesetzt.
Die Geschäftskorrespondenz zeigt, dass die Firma weder aus Angst vor der SS noch auf Befehl, sondern im Bewusstsein gleichwertiger Partnerschaft ohne Scheu vor Konflikten mit der SS bei Betriebsstörungen, Garantiequerelen oder schleppender Zahlungsmoral gehandelt hat. „Um mitzumachen, reichte es aus, dass Völker- und Massenmord staatlich gewollt waren, angeblich den Interessen Deutschlands dienten, und dass es um technische Herausforderungen ging, die den Ehrgeiz der Ingenieure anstachelten.“ (Knigge). Der Oberingenieur Kurt Prüfer und der Prokurist Fritz Sander entwickelten sogar aus eigener Initiative ohne Auftragserteilungen Ideen zu ringförmigen unterirdischen Verbrennungsanlagen und einen gigantischen mehrstöckigen Riesenofen mit vertikalem Durchlauf für „kontinuierlichen Massenbetrieb“. In einem Schreiben Sanders an die Geschäftsleitung heißt es: „Der starke Bedarf an Einäscherungsöfen für Konzentrationslager … veranlasste mich zu einer Prüfung der Frage, ob das bisherige Ofensystem…das richtige ist…[In der] idealen… Bauart… würden die zu verbrennenden Leichen oben – ohne Störung des Verbrennungsvorgangs – in entsprechenden zeitlichen Zwischenräumen aufgegeben, auf dem Weg durch den Ofen zünden, brennen, ausbrennen und veraschen, und in Form ausgebrannter Asche in der Aschekammer unter den Ausbrennrost landen. Dabei bin ich mir vollkommen klar darüber, dass ein solcher Ofen als reine Vernichtungs-Vorrichtung anzusehen ist, dass also die Begriffe Pietät, Aschetrennung sowie jegliche Gefühlsmomente vollständig ausgeschaltet werden müssen. All das ist aber wohl auch schon jetzt bei dem Betriebe mit zahlreichen Muffel-Öfen der Fall. Es liegen eben in den KZ-Lagern besondere kriegsbedingte Umstände vor, die zu derartigen Verfahren zwingen…[Es] ist anzunehmen, dass die infrage kommenden Behördenstellen auch andere Ofenbaufirmen wegen Lieferung gut und schnell arbeitender Einäscherungs-Öfen in Bewegung setzen… Aus diesem Grunde halte ich es für dringend notwendig, meinen Vorschlag zum Patent anzumelden, damit wir uns die Priorität sichern.“
Das intensive Hineindenken in die technisch-praktische Seite der Vernichtung machte bei den Öfen nicht halt. Prüfer und Schultze von der Abteilung Gebläsebau entwickelten und lieferten auch die „Be- und Entlüftungsanlagen“ für die Gaskammern, ohne die der rasche Austausch von vergifteter und frischer Luft in den fensterlosen Räumen nicht möglich gewesen wäre. Februar 1943 unterbreitete Kurt Prüfer der SS ein Verfahren zur Beschleunigung des Gasmordes. Da das Insektenvernichtungsmittel Zyklon B bei etwa 26°C seine tödliche Wirkung am schnellsten entfaltet, schlug er vor, die Gaskammern mit der Abwärme der Verbrennungsöfen vorzuheizen. Diese Wärmeableitung sollte außerdem der Abkühlung der an den Öfen zur Leistungssteigerung montierten Saugzuganlagen dienen. Dies wurde gleich realisiert. Die neuen Anlagen in Birkenau wurden von Anfang an als kombinierte Stätten der Massentötung und –Verbrennung konzipiert. Ich zitiere aus einem Geschäftsschreiben: „Achtmuffel-Öfen mit einer täglichen Leistung von 800… Wir sollen noch weitere Öfen schnellstens liefern“.
Als das Ende der Nazi-Diktatur absehbar wurde, bemühte sich die SS, alle Beweise für das Morden in den Vernichtungslagern zu beseitigen, brachte Zeugen, vor allem die Häftlinge der Sonderkommandos, um, vernichtete Akten, ließ Leichengruben zuschütten und bepflanzen, sprengte die Krematorien in die Luft. Es gab die einen Menschen, die das erdacht haben, und der anderen Menschen, die dort umgebracht worden sind: allein in Auschwitz über 960000 Juden, bis zu 75000 Polen, 21000 Sinti und Roma, 15000 sowjetische Kriegsgefangene sowie 15000 Menschen verschiedener Nationalität, am Ende weit über eine Million. Was geschehen ist, sollte ungeschehen gemacht werden, die Spuren verwischt. Dieser Vorgang steht in Verbindung mit dem „Leugnen“. Verleugnen ist etwas anderes als Verdrängen. Leugnen bedeutet: bestreiten, verharmlosen und für ungeschehen erklären, was tatsächlich war. Das Verharmlosen steht im Zusammenhang mit dem Abwälzen der Schuld. Dies steht psychologisch betrachtet im Gegensatz zum neurotischen Vorgang der Verdrängung, Symptombildung und Dramatisierung. Die Verleugnung ist funktional zweckmäßig und emotional a-pathisch. Ereignisse, Vorstellungen, Wahrnehmungen können genauso verleugnet werden wie Gefühle.
Nach Befreiung des KZ Buchenwald reagierte die Firmenleitung mit einem sofortigen Treffen mit der Betriebsleitung zur Sprachregelung und Abstimmung der Rechtfertigungslinie in Bezug auf die „kursierenden Gerüchte“ wegen KZ-Geschäften. Die zentralen Argumente lauteten: ganz normale Geschäftsbeziehungen mit nichts anderem als handelsüblichen Öfen, Handlung auf Befehl, Verhütung von Schlimmerem durch Verhinderung von Epidemien.
Die Firmenschilder auf den Öfen Buchenwalds führten die amerikanischen Ermittler nach Erfurt. Sie verhafteten Oberingenieur und Leiter der Abteilung „Spezialöfen“ Kurt Prüfer, ließen ihn wieder frei, und er setzte seine Arbeit bei Topf&Söhne fort. 1946 verhaftete die sowjetische Besatzungsmacht Prüfer, Schultze und Sander. Sander starb weniger Wochen nach der Verhaftung an Herzschwäche, Prüfer und Schultze wurden zu 25 Jahren Straflager verurteilt, kamen 1955 frei. Beim Verhör haben sie zugegeben, von der Art und Weise der Massenvernichtung unschuldiger Menschen, darunter Frauen, Kinder und Greisen gewusst und mit eigenen Augen während dem Aufbau, der Inbetriebnahme und der Wartung der Gaskammern und Krematorien gesehen zu haben, ließen aber kein Schuldgefühl erkennen. Als die Todesfabriken, wie die Häftlinge der Sonderkommandos die Anlagen nannten, „einwandfrei“ funktionierten, reisten die Ingenieure zurück. Schulze im Vernehmungsprotokoll: „Nach der Rückkehr aus Auschwitz habe ich in Erfurt über die von mir durchgeführten Arbeiten…Bericht an den Firmenchef Ludwig Topf erstattet. Nebenbei berichtete ich ihm, dass die SS-Leute in der Gaskammer eine Gruppe von Häftlingen vergiftet hätten, wonach ihre Leichen in den Einäscherungsöfen verbrannt wurden. L.Topf hat darauf nicht reagiert.“
Der 40-jährige Ernst-Wolfgang Topf, 1 Jahr jünger als sein Bruder Ludwig und Mitinhaber der Kommanditgesellschaft, reiste vor dem Besatzungswechsel in den Westen und baute in Wiesbaden die Firma Topf&Söhne neu auf, diesmal mit Schwerpunkt auf dem Bau von Krematoriums- und Abfallvernichtungsöfen. Es gibt eine Patentschrift der Firma aus dem Jahre 1953 mit dem Titel: „Verfahren und Vorrichtung zur Verbrennung von Leichen, Kadavern und Teilen davon.“ Ernst-Wolfgang Topf wurde weder gerichtlich noch im Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung belangt und antwortete 1957 auf ein Buch des Journalisten Reimund Schnabel über die SS, in dem auch die Geschäfte mit Topf&Söhne belegt wurden, dass die Dokumente nicht echt seien. In einer Entgegnung schrieb er: „Jede einzelne Unterlage bewies, was zu beweisen war: vollständig normale Lieferung, absolute Lieferverpflichtung durch die Form des Kriegsauftrags, keinerlei Vertraulichkeit der Korrespondenz,…nicht ein Brief „geheim“,…Ablegung…ohne jede Tarnbezeichnung…Nur so war es möglich, dass der Auftrag Nr.1 des Oberbürgermeisters der Stadt Erfurt der vierte Ofenauftrag für das Krematorium der Stadt war…und…die Untersuchung für die Firma mit einer klaren Entscheidung dahingehend endete, dass in unserem Hause weder moralisch noch sachlich jemand schuldig geworden war… Es ist keine Phrase, wenn ich mein Haus und sein gesamtes Verhalten in den 12 Jahren des Hitlerreiches mit den Worten kennzeichne: ‚Moral ohne Macht’.“ Ernst-Wolfgang Topf starb 1979 mit 74 Jahren in Brilon.
Im Unterschied zu seinem Bruder beschloss der 41-jährige Ludwig Topf noch am selben Abend des 30.Mai 1945, als Prüfer von den Amerikanern festgenommen wurde, Selbstmord zu begehen. Bevor er am nächsten Morgen Gift nahm, enterbte er noch seinen Bruder und seine Schwestern, von denen er sich im Stich gelassen fühlte und erklärte sich in einem Abschiedsbrief zum ungerecht verfolgten Opfer: „…Ich glaube an kein Recht auf dieser Welt mehr, nachdem meine Familie auch als letzte soviel Unrecht und Gemeinheit an mir begangen hat. Werde ich verhaftet, so wird man mir schlimmstes Unrecht antun. Ich tat bewusst und absichtlich niemals Böses, aber man tat es mir. Feige war ich nie – aber stolz… Daher steht mir als Anständiger heute gerade noch die Gelegenheit offen, über mich selber nach meinem Ermessen zu verfügen. Das heißt nun sofort aus der Welt zu scheiden, die im Allgemeinen unerträglich geworden und im Besonderen mich verfolgte und mir Unrecht tat. Wäre der Glaube, dass meine Unschuld an den Krematorien…erkannt und gewürdigt würde bei mir da, würde ich wie immer bisher kämpfen um die Rechtfertigung – aber ich glaube, das Volk will seine Opfer haben. Dann will ich es schon selber tun. Ich war anständig stets – das Gegenteil von einem Nazi – das weiss alle Welt. Wenn ich noch im Schosse einer Familie mich ruhig fühlen könnte, lohnte sich der Kampf – aber so gibt es keine Familie Topf mehr, die Haltung, Kern und ein Bewusstsein ihrer Selbst hat. Ich war in diesen Sparten ihr einsamer Vertreter. Ich brauche, so allein ich bin, nicht mal wegen eines Selbstmordes jemanden um Verzeihung zu bitten.“
IV Massenmord und Normalität
Dieses Dokument veranschaulicht auf beeindruckende Weise, wie sich im Einzelnen unter dem Anschein der Normalität die windstill um sich greifende Psychose einer mörderischen Gesellschaft ausbreitet, sobald der Einzelne wir sagt, sobald sich das individuelle Ich in seiner Abwehr aller Gefühle der Mitmenschlichkeit entledigt, sobald es bereit ist, seine schlussfolgernden Fähigkeiten preiszugeben, sich in seinen Loyalitätsbindungen zu spalten und schließlich von den Idealen des Kollektivs in Funktion nehmen zu lassen. Sanders Patentanmeldung für den „Massenbetriebs-Ofen“ war noch im November 45 auf der Patentliste der Firma aufgeführt. In der DDR hat man sich für die Geschichte von Topf&Söhne nicht interessiert. Die Firma ging in den VEB Erfurter Mälzerei- und Speicherbau über, Schuld und Verantwortung auf die ehemals kapitalistischen Eigentümer.
Die Forschungen zur Baugeschichte und Technik begannen erst in den 80-er Jahren, interessanterweise durch einen Holocaust-Leugner, den Pariser Apotheker Jean-Claude Pressac, der in Erfurt nach dem Firmenarchiv von Topf&Söhne suchte und dadurch gegen sein eigenes Wunschurteil zur Erkenntnis gelangte, dass der Massenmord tatsächlich stattgefunden hat. Er überließ die Geschäftsunterlagen nach seinem Tod 2003 dem Hauptstaatsarchiv Weimar. Sie könnten nun den Psychoanalytikern beim nachträglichen Verständnis behilflich sein, auf welchen Wegen, Motiven und seelischen Voraussetzungen die Realisierung eines Massenmordes beruht.
Das Problem ist, dass es für die leidenden Neurotiker eine Tiefenpsychologie gibt, die beschriebenen Vorgänge der Normalität aber ohne Erklärung, ohne Psychologie zu sein scheinen, als sei die Normaltäterschaft das gegen jegliches psychologische Eindringen widerstandsfähigste, unergiebigste, banalste und flacheste Phänomen, ein grausames Realitätspartikel ohne seelische Bedeutsamkeit und emotionalen Widerhall. Im rationalen Bewusstsein erzeugt ein solches Realitätspartikel lediglich Konfusion, ist motivisch kaum zu lesen und seelisch kaum zu alphabetisieren. Dies bedingt, wie Alexander Mitscherlich 1967 herausgearbeitet hat, eine „Unfähigkeit, zu trauern“. Der kollektiv erlaubte Massenmord vollzieht sich über eine rasche Kette kleiner unmerklicher Schritte und ungefühlter Verschiebungen, deren qualitativer Bruch erst nachträglich in seinem verheerenden Ausmaß ins Bewusstsein tritt. Auschwitz steht am Ende einer solchen unbegreiflichen Entscheidungskette. Hier hat die Vernichtungsqualität absolute Maßlosigkeit erreicht und unsere Welt für immer verändert. Sie wird nie wieder ohne dieses schwärzeste Loch der Menschheit denkbar sein. Untersuchen wir die Metapher der Entscheidungskette, die dahin führte, so stoßen wir vor allem auf zwei Strukturmomente: Da ist zum einen der Faden, an dem sich die einzelnen Entscheidungen aufreihen: dieser Faden ist der Größenwahn im Kleinen, die verlockende Verheißung einer Befreiung aus den Erfahrungen der Armseligkeit. Zweitens müssen wir die charakterliche Verfassung betrachten, die das Herstellen der Kette möglich macht: sie zeichnet sich durch wiederholte Auslöschung der Gefühle aus, mit dem Resultat einer ungehemmten, konfliktfreien, skrupellosen, stromlinienförmigen Entschlussbereitschaft und Entscheidungsfreudigkeit. Sie bereitet die freie Bahn für den kollektiven Wahn, der im Individuum imaginären Halt verspricht, in Wahrheit aber bodenlos ist. Freud hat diese Bodenlosigkeit des Wahns als erster aufgedeckt: „Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt.“ (1930a, S.440) Seine Abgründe resultieren aus einer Spaltung des bedrängten Ichs, das anders aus seinen Kränkungserfahrungen nicht hinausfindet. Der Verlust des inneren Zusammenhangs in der Haltlosigkeit des kompensatorischen Wahns verleiht dem Bösen seinen unerklärlichen Charakter: im Unterschied zu einer Tat aus Schmerz und Leidenschaft wirkt diese Boshaftigkeit schmerzlos, grundlos und leer. Seine Hölle besteht darin, das menschliche Drama aus dem Bewusstsein zu bannen und ihm ein möglichst rasches Ende zu bereiten. Sie ist eine mechanische Verbrennungsfabrik auf dem absoluten Gefrierpunkt des menschlichen Empfindens, eine Hölle, in deren Wirkungsbereich alles Lebende für immer ausgelöscht ist und von der aber immer reale Spuren übrig bleiben, die in der Wachsschicht des Wunderblocks, im Gedächtnis unserer Seelen und unseres Unbewussten in der einen oder anderen Form an sie erinnern.
V Unsex me here
Dem Größenwahn, der zum Bösen verführt und der Auslöschung der Gefühle, die eine hemmungslose Umsetzung der Mordpläne ermöglicht, hat Shakespeare mit Lady Macbeth (1.Akt, 5.Szene) eine dichterisch fassbare Gestalt verliehen. Dieses Täubchen des Mörders Macbeth ist ein teuflisches Ungeheuer, des Mächtigen liebste Gefährtin auf dem Weg zur verheißenen Größe, die ihre eigene Menschlichkeit, ihre Weiblichkeit, ihre Geschlechtlichkeit, ihre Mütterlichkeit in terroristischer Entschlossenheit einem phallozentrischen Ideal zuliebe eliminiert. Ihr Unbewusstes ist in den Hexen verkörpert und folgt den Gesetzen der perversesten aller Wiederholungszwänge, dem nekrophilen Vernichten ohne Katharsis, das zwangsläufig in der Selbstauslöschung endet. In Lady Macbeth’s Ruf an die bösen Geister, mit der sie ihr Gehirn in Gift und Galle wäscht und sich autohypnotisch auf den Mord vorbereitet, deckt
Shakespeare die Motivik dieser Grausamkeit auf: „… sollst werden, was dir verheißen ward! - Doch fürcht ich Dein Gemüt: Es ist zu voll von Milch der Menschenliebe…Groß möcht’st du sein; bist ohne Ehrgeiz nicht; doch fehlt die Bosheit, die ihn begleiten muss. Was recht du möchtest, das möcht’st du rechtlich; möchtest falsch nicht spielen, und unrecht doch gewinnen: möchtest gern das haben, großer Glamis, was dir zuruft: „Dies musst du tun, wenn du es haben willst!“ Und was du mehr dich scheust zu tun, als dass du ungetan es wünschest. Eil hierher, auf dass ich meinen Mut ins Ohr dir gieße; und alles weg mit tapfrer Zunge geißle, was von dem goldnen Zirkel dich zurückdrängt, womit Verhängnis dich und Zaubermacht im Voraus schon gekrönt zu haben scheint…Kommt Geister, die ihr lauscht auf Mordgedanken und entweibt mich hier [im englischen Text: unsex me here], füllt mich vom Wirbel bis zur Zeh, randvoll, mit wilder Grausamkeit! Verdickt mein Blut! Sperrt jeden Weg und Eingang dem Erbarmen, dass kein anklopfend Mahnen der Natur den grimmen Vorsatz lähmt, noch friedlich hemmt vom Mord die Hand! Kommt an die Weibesbrust, trinkt Galle statt der Milch, ihr Morddämonen! Wo ihr auch harrt in unsichtbarer Kraft auf Unheil der Natur! Komm, schwarze Nacht, umwölk dich mit dem dicksten Dampf der Hölle, dass nicht mein scharfes Messer sieht die Wunde, die es geschlagen; noch der Himmel, durchschauend aus des Dunkels Vorhang, rufe Halt! Halt! O großer Glamis! edler Cawdor! Größer als beides durch das künftge Heil! Dein Brief hat über das armsel’ge Heut mich weit verzückt, und ich empfinde nun das Künftige im Jetzt.“ Es ist, als wären hier in diesem dunkelsten Text Shakespeares schon all die Metaphern enthalten, die wir in Celans Todesfuge wieder finden, als „schwarze Milch der Frühe“.
Gibt es hierzu eine Psychoanalyse? Können wir hier noch auf Freud zurückgreifen? Endet hier sein prophetisches Genie? Es sind vor allem seine Arbeiten aus dem Nachlass, „Die Ich-Spaltung im Abwehrvorgang“ sowie „Abriss der Psychoanalyse“, die hier einen Weg bahnen. Voller Irritation beschreibt Freud hier einen „völlig neuen und befremdlichen Tatbestand“ im Ich, wodurch sich Menschen in „bestimmten Situationen der Bedrängnis in merkwürdiger Weise benehmen“. Die selbstverständliche Annahme einer „synthetischen Funktion des Ichs“ bzw. „Synthese der Ichvorgänge“ stellt sich durch diesen Tatbestand als ein Irrtum heraus. Es ist, als hätte Freud Auschwitz geahnt. Was bedeutet diese Ich-Spaltung? Freud beschreibt hier ein ungefestigtes, schwaches Ich, welches sich in einem Dilemma befindet. Es will einerseits einen triebhaften Anspruch befriedigen und sich nichts verbieten lassen und ist andererseits aber schlau und raffiniert genug, im selben Zug die äußere Realität anzuerkennen. Der Konflikt und die schmerzliche psychische Arbeit wird dadurch umgangen, dass alles gleichzeitig, und unabhängig voneinander erfüllt wird, gleich „giltig und wirksam“. Der Trieb darf so seine Befriedigung haben, der Realität wird Respekt gezollt, das Gewissen erhebt keinen Einspruch. Freud nennt dies eine „sehr geschickte Lösung der Schwierigkeit“, von dem vor allem „das jugendliche Ich“ gerne Gebrauch mache. Es geht ja um die möglichst rasche und gründliche Erfüllung einer Verheißung. Dann kommt von Freud aber ein Satz wie ein Blitzschlag, mit dessen Nachhall die Psychoanalyse seitdem beschäftigt ist: „Aber umsonst ist bekanntlich nur der Tod. Der Erfolg wurde erreicht auf Kosten des Einrisses des Ich, der nie wieder verheilen, aber sich mit der Zeit vergrößern wird.“
Was folgt daraus? Freud sagt: eine Wahrnehmung mit Lücken, deren Lücken mit Wahnbildungen gefüllt werden. Diese Wahnbildungen reichen vor allem auf die Angst zurück, vom Vater bestraft zu werden, und zwar von solcher Intensität und Unheimlichkeit, dass sie auch unter Aufbietung des „ganzen Aufwands seiner Männlichkeit“ nicht kompensiert werden kann. Freud nennt diesen Wahn einen „Fetisch“ und platziert ihn – als etwas, das es so in der Wirklichkeit nie gegeben hat und niemals als etwas Wirkliches gibt, sozusagen als falsches Pathos – an einen Ort, an dem das erschrockene Kind als erstes das Manko entdeckt: an der Frau. „Er schuf sich einen Ersatz für den vermissten Penis des Weibes.“ Der Fetisch ist ein Gegenzauber gegen die Panik. In der Antike ist es die Meduse, deren Haare als Schlangen wimmeln.
Zerbricht diese apotropäische Funktion, reagiert das Ich mit libidinösem Besetzungsentzug gegenüber allem, was fremd ist, mit einer Auslöschung der Gefühle, einer Enterotisierung der Bindungen, einer Verdinglichung der Personen, einer Geschlechtslosigkeit des Lebens, einer Verhärtung des Empfindens hin zur mechanischen Gleichgültigkeit. So ergibt sich eine apathische Erbarmungslosigkeit und Unerbittlichkeit, die Béla Grunberger in Fortführung von Freuds Triebtheorie als „thanatotrope Position“ in den 60-er Jahren beschrieben hat. Sie wirkt beim Aufbau der terroristischen Entschlossenheit mit und kennzeichnet die äußerste und tödliche Form gesellschaftlicher Melancholie. Sie begegnet uns hier und da, damals und heute, in den Selbstmordattentätern und in den von ihnen provozierten mörderischen staatlichen Reaktionen. „Unsex me here“ – diese dunkelsten Worte aus Shakespeares dunkelstem Text liefern die Formel für den Weg in die Schreckensherrschaft. Die heimliche Aufzeichnung eines Häftlings des Sonderkommandos mit dem Namen Salmen Gradowski, der beim Aufstand in Auschwitz am 7.Oktober 1944 von der SS ermordet wurde, hat mich darum in der Essener Ausstellung am schmerzlichsten berührt. Sie betrifft die Selektion: „Die Männer haben sich einzeln aufzustellen, die Frauen einzeln. Diese Anordnung schlägt wie ein Blitzschlag in alle ein. Jetzt, da man an der letzten Etappe steht, da man schon ans Ende des Weges gelangt ist, befehlen sie, sich zu trennen, das, was untrennbar ist, auseinanderzuschneiden…Niemand rührt sich, denn keiner kann an das glauben, was unglaublich ist… Aber ein Hagel von Schlägen, den die ersten Reihen der stehenden Leute verspüren, wirkte so, dass selbst in den mittleren Reihen die Familien sich zu trennen begannen.“
Noch einmal Margot Friedländer (2010, S.258,259): „Wie unvorstellbar muss der Schmerz meiner Mutter und meines Bruders gewesen sein, als sie nur wenige Minuten nach ihrer Ankunft in Auschwitz auseinandergerissen wurden. Gab es noch eine letzte Umarmung, einen letzten Blick von ferne? Wie viel Zeit blieb meiner Mutter für ihre letzten Gedanken? Haben sie beide gewusst, dass sie einander nicht wiedersehen werden? Dass das Opfer der Mutter, mit ihrem Sohn zu gehen, umsonst war? Auch die Ungewissheit darüber, was aus mir geworden ist, muss für meine Mutter ein schrecklicher Schmerz gewesen sein. Ich war doch auch ihr Kind. Diese Gedanken kehren immer wieder, verlassen mich nie.“
VII Von Büchern und Menschen
Was hatte Freud im Blick, als er 1930 gegenüber A.Zweig bitter bemerkte: „Wir leben schlechten Zeiten entgegen“? Zur nationalsozialistischen Verbrennung seiner Bücher bemerkte Freud: „Was wir für Fortschritte machen! Im Mittelalter hätten sie mich verbrannt, heutzutage begnügen sie sich damit, meine Bücher zu verbrennen.“ (Edmundson, S.18). Freuds Bücher wurden verbrannt, weil er das Individuum und seine Geschlechtlichkeit ehrte, die Liebe und die Sexualität. Die psychoanalytische Sexualtheorie wurde zu den zersetzenden Kräften gerechnet, die dem NS-Homogenisierungswahn und seinem „Fortpflanzungsgesetz“ (Sigmund, S.103) entgegenstanden: „Wer öffentlich den Willen des deutschen Volkes zur Fruchtbarkeit lähmt oder zersetzt, wird mit Gefängnis bestraft.“ Freudsche Psychoanalyse wurde mit der Sexualtheorie mehr oder weniger gleichgesetzt. Schließlich hat Freud es gewagt, den Weg der Liebe an den „abscheulichsten Perversionen“ darzustellen: „vom Himmel durch die Welt zur Hölle“ (1905d, G.W.V, S.61). Gerade diese Wahrheit des Trieblebens aber musste der nationalsozialistische Sittenkodex ausmerzen. All dies sollte gelöscht, aus der Erinnerung getilgt werden. Nirgends ist diese Verwerfung deutlicher zu erkennen als in dem Feuerspruch, mit dem Freuds und Hirschfelds Werke ins Feuer geworfen wurden: „Wir wollen keine Entsittlichung des Volks. Darum brenne, Magnus Hirschfeld…“. Sodann: „Gegen die seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens und für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften des Sigmund Freud.“ (Edmundson, S.18). Das absolute Böse, das als „mal d’archive“ (Derrida) auch jedes Zeugnis dieser Grundmerkmale menschlicher Kreativität auszulöschen versucht, ist der dramatischen Wirklichkeit des empfindenden Subjekts entgegengerichtet und wirkt im Geräuschlosen, in namenloser, kalter und geschlechtsloser Unerbittlichkeit, einer gespenstischen, einer grauenvollen Normalität. Vielleicht wird anhand dieser Überlegungen einiges von Heinrich Heines vielschichtigem Satz verständlicher, zur Frage nämlich, warum man da, wo man Bücher verbrennt, am Ende Menschen verbrennt. Nichts scheint schwieriger, als Margot Friedländers Bitte zu folgen: „Bleibt Menschen.“
Literatur
Adorján, J. (2025): Bleibt Menschen. Wenige Menschen haben so ausdauernd gegen das Vergessen angeredet wie Margot Friedländer. Süddeutsche Zeitung vom 12.5.2025, Nr.108, S.3.
Derrida, J. (2002): Seelenstände der Psychoanalyse. Frankfurt: Suhrkamp.
Edmundson, M. (2009): Sigmund Freud. Das Vermächtnis der letzten Jahre. München: Deutsche Verlagsanstalt.
Erdheim, M. (1990): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Frankfurt: Suhrkamp.
Freud, S. (1905d): Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. G.W.V.
Freud, S. (1921c): Massenpsychologie und Ich-Analyse. G.W.XIII.
Freud, S. (1925a): Notiz über den ‚Wunderblock’. G.W.XIV
Freud, S. (1930a): Das Unbehagen in der Kultur. G.W. XIV
Freud, S. ([1922]1940): Das Medusenhaupt. G.W.XVII
Freud, S. (1940a): Abriß der Psychoanalyse. G.W.XVII
Freud, S. 1940e): Die Ichspaltung im Abwehrvorgang. G.W. XIV
Friedländer, M.; Schwerdtfeger, M. (2010) : „Versuche, dein Leben zu machen.“ Als Jüdin versteckt in Berlin. Berlin: Rowohlt.
Grunberger, B. ([1966]1982): Der Selbstmord des Melancholikers. In: Vom Narzissmus zum Objekt. Frankfurt: Suhrkamp.
Knigge, V. (2005): Techniker der „Endlösung“. Topf&Söhne – die Ofenbauer von Auschwitz. Begleitband zur Ausstellung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Weimar: Kessler.
Mitscherlich, A.u.M. (1983): Die Unfähigkeit zu trauern. München, Zürich: Piper.
Sigmund, A.M. (2009): „Das Geschlechtsleben bestimmen wir.“ Sexualität im Dritten Reich. München: Heyne.