Sonja Lienhart: Gedanken zur Weißen Depression von André Green

Was das klinische Phänomen der Depression anbelangt, wissen wir aus der täglichen Arbeit um ihre unterschiedlichen Gesichter und verfügen über viele Umschreibungen, um ihre klinischen Ausgestaltungen zu präzisieren: Wir sprechen von larvierter Depression, von agitierter Depression, von Jammerdepression, von saisonaler Depression, neuerdings auch von hochfunktionaler Depression – es gäbe noch viele weitere Beispiele.
Und den meisten Formen dieser Depression ist vielleicht gemein, dass wir ihnen die typische Finsternis im Denken und Fühlen zugrunde legen – mit den eben typischen Symptomen der gedrückten Stimmung, des Interessenverlustes, der eingeschränkten Schwingungsfähigkeit, der Lebensmüdigkeit und so weiter.
Was hat es nun also mit der sog. Weißen Depression auf sich, wie sie von dem französischen Psychoanalytiker André Green in den 80er Jahren beschrieben wurde, und der vielleicht erstmal ein wenig für Irritation sorgt, wenn er die Depression auf weißer statt auf schwarzer Leinwand herauskonturiert?
André Green meint mit „weiß“ weniger eine Farbe, sondern das Blande, das Leere, das dem Weißen sozusagen innewohnt. 
Und tatsächlich geht es bei der weißen Depression um Menschen, deren psychisches Erleben von einer tiefen Sinnlosigkeit und Leere durchdrungen ist. Um eine Sinnlosigkeit, die sich beim Erwachsenen in Form einer tiefgreifenden Leere zeigt, die sich im Stillen sämtliche Lebensbereiche einverleibt, diese zu einer Art toten Materie macht, so sehr man doch eigentlich mit der interessanten Arbeitsstelle, dem erfolgreichen Hobby oder der verlässlichen Freundschaft zufrieden sein könnte. Man könnte sagen: Die Leere ist zu einem seelischen Platzhalter geworden, sozusagen zum festen inneren Inventar, das den Platz für das Bedeutsame und Lebendige im Leben verstellt.
In der Entwicklung eines Kindes ist das Erleben von Sinn und Bedeutung eng an Erfahrungen von Resonanz geknüpft, nach dem Leitmotiv: Wenn ich eine Antwort erhalte von meinen Eltern, wenn meine Lebensregungen auf ein resonantes Gegenüber treffen, dann kann ich diese bedeutungsvolle Beziehungserfahrung irgendwann verinnerlichen und mir selbst Bedeutung gegeben.
Diese Überlegungen führen uns bei der Weißen Depression zur Annahme, dass diese Resonanz in irgendeiner Form ausgeblieben bzw. unterbrochen worden sein muss. Dass da eine psychische Struktur aus Leere und Sinnlosigkeit entstanden ist, wo eigentlich Bedeutung und Sinn erlebbar sein sollten. 
Die Frage lautet nun: Um welches große psychische Thema formiert sich denn diese psychische Struktur der Leere sozusagen drumherum, oder besser gesagt um welchen „psychischen Komplex“ ?
Hier kommt nun wieder André Green ins Spiel – übrigens 1927 geboren und 2012 in Paris gestorben und u.a. bekannt geworden durch seine sog. „Arbeit des Negativen“, „Le travail du negatif“, ein von Hegel ausgeliehener Begriff, der bei Green verschiedene psychoanalytische Konzepte umfasst. Es ist nicht möglich, an dieser Stelle im Detail auf Greens Werk einzugehen, aber vielleicht kann man es grob umreißen als ein Werk, das sich vor allem mit der Dialektik der An- und Abwesenheit von Objekten befasst, genauer gesagt mit der Lücke, dem Abwesenden, den toten Stellen im Kontakt, die er in seinen Behandlungen mit zum Teil sehr schwer beeinträchtigten Patient*innen erlebt hat. Die Tote Mutter ist hierbei neben der Theorie der Desobjektalisierung oder der Phobischen Position des Denkens eines dieser Konzepte der „Arbeit des Negativen“. Durchzogen sind diese Konzepte vom Gedanken der negativen Halluzination: Real ist das, was nicht vorhanden ist, was hingegen sehnsuchtsvoll in den Rahmen hineinphantasiert wird, der leer, also „bilderlos" zurückgelassen wurde, nachdem das Objekt – wie bei der Toten Mutter – verschwunden ist.
Aber nun zurück zu unserer Frage, welcher psychische Komplex der Weißen Depression denn eigentlich zugrunde liegt. André Green nennt diesen Komplex den so genannten „Komplex der toten Mutter“.  Dabei geht es nicht um eine Mutter, die real gestorben ist, sondern um eine psychisch tote Mutter, die nicht existent ist für das Erleben ihres Kindes. Die Mutter ist nicht da, weil sie selber in einer Depression gefangen ist, zum Beispiel, weil sie verlassen wurde, um einen Verstorbenen trauert, einen Schicksalsschlag in der Herkunftsfamilie zu verkraften hat oder mit einer Fehlgeburt fertig werden muss.
Green schreibt in seinem Primärtext: „Es geht nicht um eine Depression infolge eines realen Objektverlustes (…). Sondern Der wesentliche Zug dieser Depression ist, dass sie in Anwesenheit des Objekts stattfindet, das seinerseits durch eine Trauer völlig in Anspruch genommen ist.“
Die Mutter ist also physisch anwesend, aber mit dem Herzen nicht mehr dabei – und das aber nicht schon von Geburt an, sondern nachdem Mutter und Kind schon eine gute Anfangsphase miteinander erlebt haben. 
Dieser Besetzungsabzug vonseiten der Mutter trifft das Kind also unerwartet und plötzlich und kommt einer narzisstischen Katastrophe gleich. Green spricht von weißen Löchern in der Psyche des Kindes, die durch den Besetzungsabzug der Mutter zurückbleiben. Die Mutter geht und nimmt all ihre Liebe mit sich. Ein solches Kind, das mit seiner Liebe, die keine Erwiderung mehr findet, alleine bleibt, gibt irgendwann auf. Was ihm noch bleibt, um noch in irgendeiner Form eine innere Nähe zur Mutter aufrechtzuerhalten, ist eine Identifikation mit eben dieser toten Mutter, ein inneres Umklammern und Verwahren der Leerstelle, die durch das emotionale Verschwinden der Mutter geblieben ist. Hierin liegt sicherlich einer der ganz wesentlichen Aspekte von Greens Text, nämlich dass es sich bei dieser Leere der Weißen Depression um eine besondere Beziehungsform handelt, ein in Beziehung-Bleiben mit der toten Mutter. Ein Haften an einer Beziehung, das sich auf so viele Lebensbereiche dieser Menschen mit einem Gefühl des nicht wirklich mit dem Leben in Kontakt Kommens auszeichnet.
Bevor ich genauer darauf eingehe, was der Komplex der toten Mutter in Behandlungen bedeuten kann, möchte ich ein paar wenige Sätze aus einem Stundenprotokoll einer jungen Patientin vorstellen, in dem, wie ich finde, jedenfalls ein paar der Aspekte dessen aufleuchten, was gerade zum Komplex der Toten Mutter skizziert wurde.
„Oft, wenn ich etwas Neues anfangen will, ein neues Hobby wie das Tanzen zum Beispiel, denke ich: Eigentlich begeistert mich nichts. Es kostet mich viel Kraft, es dann doch zu versuchen. Und wenn ich erstmal dabei bin, denke ich oft: Es bedeutet mir ja doch nichts. Und das Verrückte ist: Ich habe eine enge Beziehung zu diesem nichts. Ich halte mich innerlich gerne dort auf. Es fühlt sich an, als würde ich eine große dunkle Höhle irgendwo in meinem Körper haben, in die ich mich gerne zurückziehe.“
Nicht immer berichten Patient*innen, wie im Fallbeispiel oben, so klar von ihrem Leiden an der Sinnlosigkeit. Sie erwähnen meistens keine „dunkle Höhle im Körper“, die natürlich Assoziationen weckt an die weißen Löcher in der Psyche des Kindes, die Green in seinem Primartext erwähnt. 
Und häufig wissen sie nichts von der Trauer der Mutter um die heimlichen Seitensprünge des Vaters, wovon die Patientin aus dem Fallbeispiel aber irgendwann im Therapieverlauf erzählen konnte. 
„Aus negativer Einsamkeit wird positive Einsamkeit. Früher ihr geflohen, sucht man sie jetzt auf“ schreibt Green. Und zeichnet ein Bild von einer Einsamkeit, die eine hohe Aufladung erfahren hat, dahingehend, dass sich gerne dort aufgehalten wird, wie es auch die junge Patientin aus dem Fallbeispiel beschreibt.
Wie aber kann man denn als Therapeutin in einer schon einige Stunden laufenden Behandlung nun darauf kommen, dass bei einem Patienten der Komplex der toten Mutter eine Rolle spielen könnte? 
Green sagt dazu: „Der Komplex der toten Mutter enthüllt sich in der Übertragung.“ Oder etwas konkreter: In der Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik. Was heiß das jetzt? 
Es kann zum Beispiel heißen, dass auch die Therapeutin mit Leere und Sinnlosigkeit in ihrem Denken und Fühlen in den Stunden zu kämpfen hat, sich selbst leer und unlebendig fühlt und in diesen Sog des toten Kontakts mit hineingezogen wird. Es findet zwar ein Nachdenken über den Patienten statt, aber es ist ein leeres, unbeseeltes Nachdenken, das mehr und mehr die Bezogenheit zum Patienten verliert. Man findet sich als Therapeutin häufig selbst in der Rolle der toten Mutter wieder, zweifelt an sich selbst, an seinen analytischen Fähigkeiten, kurzum, es ist wirklich etwas von diesem Gefühl des nicht mehr Weiterkommens im Hier und Jetzt der therapeutischen Situation angekommen. Es wird für die Therapeutin etwas von dem Unvermögen aufseiten des Patienten fühlbar, keine tiefe Objektbeziehung eingehen zu können. Und hier noch einmal Green: „Alles in allem bleiben die Objekte des Subjekts immer an der Grenze des Ichs, nicht ganz drinnen, nicht ganz draußen. Und das aus gutem Grund: Der Platz im Zentrum ist durch die Tote Mutter besetzt.“
Was häufig zur Folge hat, dass das analytische Paar sich mitunter über lange Zeit letztlich nicht wirklich begegnet.
Sobald also etwas Nahes in der Analyse entstehen könnte, wird es vom Patienten devitalisiert, wieder und wieder. Doch dabei geht es für Patient*innen ja vielleicht gerade darum: Diese Gefühle von Nähe und Bezogenheit, von Abhängigkeit und Liebe, die so schmerzlich vermisst wurden, innerhalb des festen Rahmens einer Analyse allmählich wieder erleben zu können, sie wieder ins Repertoire der eigenen Gefühlswelt aufzunehmen und wieder „zum Leben zu erwecken“, könnte man sagen. Was fast schon nach einer unwiderstehlichen Erlösung klingt, ist in der Behandlungsrealität jedoch häufig an große Widerstände geknüpft, denn der Preis, um den gespielt wird, ist hoch:  Es geht darum, die tote Mutter wirklich loszulassen, den Platz gewissermaßen freizugeben für alle Lebensregungen, die Einzug halten wollen an ihrer statt. Ein Prozess, der häufig an eine starke Trauer und Verzweiflung geknüpft ist und sich häufig in vielen mühsamen Wiederholungsschleifen, in vielen Vor- und Rückwärtsbewegungen vollzieht. 
Zentral ist an dieser Stelle eine therapeutische Haltung, die Resonanz vermittelt, wie groß die Verzweiflung auch sein mag. Es geht um ein „Hindurchbegleiten“ durch die Leere, d.h. um eine Akzeptanz dieses noch so trostlosen Erlebens und sicher um kein vorschnelles Hinwegtrösten. An dieser Stelle ist auch etwas von der sog. „negative capability“ gefragt, also der analytischen Fähigkeit – die Green im Übrigen viel bedeutet hat – über eine lange Strecke hinweg nicht genau zu wissen und zu verstehen. Auszuhalten, dass all die drängenden Fragen nach „woher kommt es“ und „wohin wird es führen“ erstmal nicht zu beantworten sind. 
Hoffnung ist vermutlich ein weiteres wichtiges Stichwort, wenn es um die wesentlichen Pfeiler geht, auf denen eine solche Behandlung fußt: So fern es manchmal erscheinen mag, dass sich noch etwas wirklich lebendig anfühlen mag im Leben dieser Patient*innen, so sehr kann es manchmal aufseiten der Therapeutin darum gehen, für eine Weile die Hüterin dieser Hoffnung zu sein, bis zu dem Zeitpunkt, wo in der Wechselseitigkeit der analytischen Beziehung ein Entzünden dieser Hoffnung doch wieder möglich sein könnte.
Die Weiße Depression lässt sich so natürlich in keinem unserer gängigen Diagnosesysteme, hierzulande der ICD-10/11, finden. Letztere zeichnet sich vor allem durch ihren atheoretischen und deskriptiven Charakter aus, sodass es auf der Hand liegt, dass sich allein mit ihr kaum etwas zu den Ursprüngen oder zur eigentlichen Psychodynamik einer Depression sagen lässt. Nach der OPD, der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik, würde man im Falle der Weißen Depression vielleicht am ehesten auf struktureller Ebene nach einer Einordnung suchen. Das hohe Funktionsniveau, das diese Menschen mitunter haben können, lässt sich hierbei vielleicht auch dadurch erklären, dass es eben diese gute erste Anfangsphase zwischen Mutter und Kind gab – je nach Patient*in kann sie einige Jahre gedauert haben – bis der plötzliche Besetzungsabzug sich einem heißen Eisen gleich in die sich noch in Entwicklung befindliche psychische Struktur Kindes gedrückt hat, mit den beschriebenen seelischen Löchern und Deformitäten, wie Green sie ausgeführt hat. Jedenfalls ist es am Ende vermutlich vor allem auch der Facettenreichtum solcher Konzepte, die uns dem Verstehen unserer Patient*innen näher bringen können. Und dabei geht es auch im Falle von Green nie um ein konkretistisches Überstülpen haargenau aller Facetten, wie er sie sich zur Toten Mutter überlegt hat, sondern vor allem um ein Mitdenken wesentlicher Aspekte. Und ich finde, dass Greens Konzept auch heute, in unserer gegenwärtigen Behandlungsrealität, allemal einen anregenden klinischen Beitrag zum Verständnis dieser sehr besonderen weißen Depressionsform leistet.
 

Quellen:

 

Podcast

Loetz, C. und Müller, J.: Rätsel des Unbewussten: psy-cast.org/de/folge-69-das-phantom-der-leere-zur-psychodynamik-der-weisen-depression/ +Vertiefungsfolge

Literatur

Dammann, G. (2014): Desobjektalisierung: Theorie und Klinik eines Konzepts von André Green.  Psyche – Z Psychoanal 68, 886-921.

Green, A. (1993 [1983]): Die tote Mutter. Psyche – Z Psychoanal 47, 205-240.

Kittler, E. (1991): Gedanken zum Werk von André Green. Jahrb Psychoanal 28, 109-147.

Mendes de Leon, Ch.: Die Arbeit des Negativen im Werk André Greens. www.gad-das.ch/files/medien/bulletin/2012-2/2012_2_4_Beitraege_zu_den_Leitthemen%20.pdf