Zu Freuds umfangreichem Werk – vermutlich hat kein anderer Psychoanalytiker so viel geschrieben wie er – gibt es zahlreiche hervorragende Einführungen und Überblicke, und seine Biographie ist in aller Gründlichkeit erforscht und dargestellt. Dem will ich hier nichts hinzufügen; stattdessen möchte ich im Folgenden nach der historischen Bedeutung von Freuds Psychoanalyse fragen. Gemeint sind damit nicht persönliche Bedingtheiten wie Freuds Judentum, sein Wienertum, seine Familienverhältnisse, nicht die Einflüsse des Zeitgeschehens auf sein Denken und auch nicht die Geschichte der Medizin, der Psychologie oder der Philosophie als Disziplinen.
Mich interessiert vielmehr, wie Freuds Psychoanalyse das Selbstbild der Menschen verändert hat, ihre „implizite Anthropologie“, wie ich es nennen möchte. Implizite Anthropologie meint hier das „Selbst-verständliche“ im doppelten Sinne: sowohl die Grundlagen unseres Selbst-Verstehens als auch das, was wir für fraglos und selbstverständlich halten, und zwar nicht als individuelle Personen, sondern als jeweiliges kulturelles Kollektiv. Es geht darum, wie die Menschen sich und ihre Welt betrachten und bewerten, um ein Mosaik von Proto-Vorstellungen, die in Kultur, Politik, Religion, Ethik und Rechtssystemen, aber auch im Umgang mit anderen Menschen und Kulturen Gestalt finden. Es geht um Kräfte und Räume, um die Topologie und Verteilung dessen, was der Mensch sich selbst, was er Äußerem zurechnet. Das "Selbstverständliche" erweist sich als geschichtlich bedingt und Veränderungen unterworfen, es war gestern nicht und wird morgen nicht mehr selbstverständlich sein.
Freuds Psychoanalyse – das ist meine These - ist ein Ereignis der irreversiblen Veränderung und damit Teil der Geschichte dieser impliziten Anthropologie. Dieses Ereignis war so mächtig, dass es auch diejenigen erfasste, die nicht direkt mit Psychoanalyse zu tun hatten. Freud war sich bewusst, ja es war seine Absicht, mit seinen Entdeckungen die Grundüberzeugungen des Menschen von sich selbst zu verändern. Zugleich blieb er aber identifiziert mit Positionen, die er selbst nicht kritisch prüfte, eben weil er sie für „selbstverständlich“ hielt. Mein Versuch, seine Entdeckungen geschichtlich einzuordnen, verfolgt daher auch ein kritisches Ziel.
Ich beginne diese Geschichte mit einer Geschichte.
Am 25. September 1817 erstach der bis dahin unbescholtene 38-jährige Tabakspinnergeselle Daniel Schmolling seine langjährige Geliebte Henriette Lehne. Er ließ sich ohne Gegenwehr festnehmen und gestand die Tat sofort, konnte aber kein Motiv für sie angeben, außer dass ihn der Gedanke, die Tat auszuführen, seit Wochen zunehmend bedrängt und in Angst versetzt, und dass diese Angst nach der Tat nachgelassen habe. Ein medizinisches Gutachten kam zu dem Schluss, Schmolling sei im Augenblick der Tat in einem Zustand von „amentia occulta“ und daher „der Freiheit, sich selbst nach Vernunftgründen zu bestimmen, völlig beraubt gewesen“. Die Verteidigung beantragte daraufhin Straffreiheit und Sicherungsverwahrung, die Anklage dagegen, wie es bei Mord den Gesetzen entsprach, die Todesstrafe. So kam die Sache vor das Kammergericht Berlin.
Nun war der Gesichtspunkt der Schuldfähigkeit im Strafrecht zur damaligen Zeit noch etwas Neues. Bis in das 18. Jahrhundert war er unbekannt, Täter und Tat waren eins, das Tatmotiv spielte keine Rolle. Nach inneren Prozessen, die zum Motiv und von diesem zur Tat führten, konnte nicht gefragt werden, weil es ein solches Inneres nicht gab. Man hatte es nicht konzipiert, es hatte sich historisch noch nicht ausgebildet; man sprach von Besessenheit, vom Teufel oder von bösen Geistern, und was wir heute als Krankheit betrachten, hieß damals Sünde. Im Fall des Daniel Schmolling war es also neu, dass das Fehlen eines erkennbaren Motivs als inneres Problem angesehen wurde. Die Schlussfolgerung des medizinischen Gutachtens blieb denn auch nicht unwidersprochen. Die Anklage argumentierte, es sei ein leerer Zirkelschluss, einzig anhand des Fehlens eines Motivs von der Tat auf eine ihr zugrunde liegende innere Verfassung zu schließen, die sie erklären solle. Was wir hier vor uns haben, ist eine Veränderung der impliziten Anthropologie, ein noch unsicheres Sichvortasten in einen Bereich, der uns heute „selbstverständlich“ scheint, den man aber damals noch kaum kannte: den Bereich des Inneren eines Menschen und der sein Handeln leitenden Vorgänge, so dass zwischen Täter und Tat zu unterscheiden war.
Das Gericht benötigte nun eine juristische Stellungnahme, und diese Aufgabe übernahm der Kammergerichtsrat E.T.A. Hoffmann, jener große Schriftsteller der Romantik, den Freud als Pionier des Vordringens ins Unbewusste bewundert und dessen Novelle "Der Sandmann" er ausführlich interpretiert hat (Freud 1919h). Hoffmann, dessen Interesse an derartigen Fällen bekannt war, wies - das kann uns überraschen - die These der Unzurechnungsfähigkeit des Daniel Schmolling zurück und plädierte für die Todesstrafe. Bemerkenswert ist seine Begründung: In dem Streit über das Verhältnis von Vernunft und Natur als den Kräften, die das menschliche Verhalten lenken, mag, so erklärte Hoffmann, der Philosoph oder der Schriftsteller über die dunkle Natur spekulieren. Dem Juristen ist dies jedoch versagt, er muss vielmehr die Freiheit des Menschen, seinen Willen gemäß sittlichen Prinzipien zu bestimmen, als Bedingung der Anwendung von Strafsanktionen voraussetzen. Zweifel an dem Bestehen dieser Voraussetzung können das juristische Urteil nur beeinflussen, wenn sie mit der zwingenden Kraft exakten Wissens vorgebracht werden. Dies sei jedoch bei der von den Medizinern vorgebrachten „Amentia occulta“ nicht der Fall.
Hoffmann geht es also nicht darum, den Zurechnungsfähigkeitsgedanken überhaupt zurückzuweisen; er erlegt aber dem Juristen eine Selbstbeschränkung auf: Als Vertreter der gesellschaftlichen Macht sei dieser nicht befugt, über die Seelentiefe zu urteilen und Maßstäbe von Krankheit oder Normalität an sie anzulegen. Anders als der Schriftsteller Hoffmann muss der Jurist Hoffmann die Verborgenheit des anderen respektieren. Wir sehen hier, wie sich in der Aufklärung die implizite Anthropologie revolutioniert hatte und wie sich dies mit der romantischen Entgegnung auf die Aufklärung, mit dem Entstehen der Psychiatrie, aber auch mit der problematisch gewordenen Frage gesellschaftlicher Machtausübung verschränkte. Über die Frage, ob die Seele frei oder aber dem Körperlichen unterworfen sei, wurde damals heftig gestritten.
Wie der Prozess gegen Schmolling ausging, ist meiner Quelle (Safranski 1984) nicht zu entnehmen. Uns dient diese Geschichte dazu, einige der Bestimmungsstücke des modernen Selbstverständnisses in ihrer historischen Bedingtheit vor Augen zu bekommen. Im Lauf des 18. Jahrhunderts setzt sich allmählich eine Auffassung durch, die dem Einzelnen ein geschlossenes und strukturiertes Inneres zuschreibt. Dieses Innere ist teilweise verborgen, es lässt sich nicht unmittelbar aus den Handlungen erschließen, und auch dem Einzelnen selbst ist nicht vollständig zugänglich, was in ihm vorgeht und sein Handeln bestimmt. Vernunft und Natur, so die damalige Begrifflichkeit, stehen in diesem Inneren einander gegenüber. Der Mensch der europäischen Moderne hat sich als „homo clausus“, wie Norbert Elias (1997, Band I S. 50 ff) ihn nennt, also als ein in sich abgeschlossenes, komplexes Wesen mit einem ihm selbst teilweise verborgenen Inneren konstituiert. Als solcher muss er sowohl seine Vernunftfähigkeit als auch seine innere Natur konzipieren und deren Verhältnis zueinander bestimmen, und dies muss gesellschaftlich anerkannte Formen finden. Das wird verhandelt in der Literatur, in leidenschaftlichen philosophischen und politischen Debatten, aber auch im Prozess gegen den Tabakspinnergesellen Schmolling.
Wir fragen nun nach der Entwicklung dieses modernen Selbstverständnisses und werden dazu hinter der Bezeichnung „der Einzelne“, die ich zunächst benutzt habe und die nicht mehr als den empirischen einzelnen Menschen in Gegenüberstellung zum Kollektiv bezeichnen soll, drei weitere Begriffe zu behandeln haben: den des Individuums, den des Subjekts und den der Innerlichkeit (für das folgende vgl. Elias 1997; Picht 2020; Ariès/Duby (Hg.) 1989-1992).
Die Entwicklung des neuzeitlichen Individuums hat in dieser Form zunächst nur in Europa stattgefunden. Sie lässt sich beschreiben als allmähliche Akzentverschiebung von der ersten Person Plural – wir – auf die erste Person Singular – ich. Zwar sehen wir schon in der Antike vereinzelt große Individuen, aber das war nicht ihr Selbstverständnis; sie waren immer zuerst Angehörige eines Volkes, eines Stammes, einer Religion, einer Kaste oder einer Familie. Dass sich ein Individuum herausbildete, das der Gruppe gegenübersteht und beanspruchen kann, von ihr unabhängige Überzeugungen, Motive und Verhaltensformen sowie ein individuelles Verantwortungsbewusstsein zu haben, ist Ausdruck eines Prozesses, der sich gleichermaßen in der Wirtschaft, der staatlichen Organisation, der Kultur und der Religiosität vollzog; Norbert Elias hat ihn als „Prozeß der Zivilisation“ und als zunehmende Affektkontrolle beschrieben. Die Gruppenzugehörigkeit verlor sich dabei nicht, aber sie kam unter Spannung. Dies war unter anderem Folge davon, dass sich ein moderner Staat entwickelte, der mit zunehmend abstrakten Prinzipien und Normen in Rechtsprechung, Verwaltung und Steuerwesen die gesamte Gesellschaft zu durchdringen suchte; diesem abstrakten Staat, nicht mehr der Gruppe oder dem Herrscher, stand nun der Einzelne gegenüber. Mit dem Buchdruck verbreitete sich die Fähigkeit zu lesen, die allmählich zum stillen Lesen, zur privaten Lektüre, zur persönlichen Bildung wurde. Auch die Religiosität löste sich, im Zuge von Reformation und Gegenreformation, aus dem konkreten Vollzug gemeinsamer Rituale und wurde zu einem Verhältnis des Einzelnen zu Gott, womit Formen privater Frömmigkeit und Andacht aufkamen; man ging nicht mehr nur in die Kirche, sondern hatte einen Betstuhl, ein Heiligenbild, ein Gebetbuch zuhause. Diese Entwicklung schlug sich auch in vielen anderen Bereichen des privaten Lebens nieder: Einsamkeit, die im Mittelalter noch als Elend, Gefahr, Strafe oder Kasteiung gegolten hatte, erhielt eine positive Schätzung. Dem eigenen Körper wurde nunmehr das Recht auf Verhüllung zugestanden, körperliche Bedürfnisse wurden hinter einer Schamschwelle verborgen. Die Menschen begannen, Tagebücher zu schreiben, um sich ihrer selbst zu vergewissern. Seit der Renaissance ist von der Würde des Individuums die Rede. Das Wort bezeichnet jetzt eine unteilbare Grundeinheit, die gleichwohl komplex ist und deren Verhalten nicht trivial vorhergesagt werden kann. Die Unterschiedenheit eines Individuums von allen anderen wird jetzt im Sinne von Einzigartigkeit idealisiert. Es ist bezeichnend, dass sich diese Idealisierung im selben Zuge vollzieht wie die zunehmende Einbindung des Einzelnen in die Zwänge und Abhängigkeiten einer immer mehr arbeitsteiligen Gesellschaft.
Nur im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen kann dann jene Bewegung der Aufklärung entstehen, die Kant 1784 als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ bestimmt: „Habe den Mut, Dich Deines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen!“ (Kant 1964 [1784], S. 53) Das markiert einen neuen Schritt: Der Einzelne wird als Subjekt der Vernunft eingesetzt. Er soll die Welt und das Leben aus sich heraus intelligent bewältigen.
Der Einzelne als Subjekt der Vernunft, die aber ja nicht individuelle, sondern allgemeine Vernunft sein muss: Das ist ein Versprechen, aber auch ein Anspruch und ein Widerspruch. Zwischen dem Einzelnen als Individuum und dem Einzelnen als Subjekt tut sich eine Spannung auf, die Spannung zwischen Einzigartigkeit und Gleichartigkeit. „Subjekt“ ist ein Gattungsbegriff (vgl. Schiller 2004 [1795], S. 573). Die Aufklärung hat den Einzelnen aus den Zwängen und Denkvorschriften der Gruppe, insbesondere der religiösen Gruppe befreit, zugleich aber den nicht minder strengen Forderungen unterworfen, die sich aus seinem Status als Subjekt der allgemeinen Vernunft ergeben. Er ist nun vom Untertanen zum Citoyen aufgestiegen, der die politischen Verhältnisse vernünftig beurteilen soll. Als Subjekt der Vernunft muss er aber auch sich selbst als vernunftgemäße Einheit konstituieren, muss sein Verhalten und sein Urteilen nach allgemeinen und kohärenten Kriterien ausrichten. In Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen Mächten und Strebungen, denen er ausgesetzt ist, ist er gehalten, einen „Charakter“ auszubilden, d.h. sich an Prinzipien zu binden, die er sich selbst nach Maßgabe der Vernunft vorgeschrieben hat (Kant 1964 [1798], S. 633). Die Freiheit, die er gewonnen hat, ist nicht eine Lizenz zu allem Beliebigen, sondern die Freiheit der Erkenntnis und des Handelns aus Vernunftgründen. Die Vernunft fordert von ihm, seine eigene Vernunftfähigkeit zu entwickeln und zu erhalten, und zugleich, sich stets so zu verhalten, dass auch alle anderen Subjekte aus vernunftgeleiteten Prinzipien heraus handeln können.
Uns ist klar, dass wir alle dahinter zurückbleiben, solche Subjekte zu sein; der Anspruch ist unerfüllbar. Gleichwohl bildet dieses Ideal seit der Proklamation universaler Menschenrechte zuerst in der amerikanischen, dann in der Französischen Revolution, heute in der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen und im deutschen Grundgesetz die Grundlage unserer politisch-juristischen Systeme. Auch E.T.A. Hoffmann hielt sich daran gebunden, den Tabakspinnergesellen Schmolling als vernunftfähiges Subjekt zu betrachten, weil es nur so zu rechtfertigen sei, die Maßstäbe allgemeiner Prinzipien an seine Tat anzulegen.
Mit dem doppelten Anspruch, einzigartig und zugleich Träger allgemeiner Vernunft zu sein, wird aber die innere Verfasstheit des Einzelnen zum Problem. Er muss sich jetzt definieren: nicht nur als Angehöriger einer Gruppe, auch nicht über das, was er tut, sondern über seine persönliche Lösung der Aufgabe, Disparates zu einer Einheit zu formen. Identität wird zum Problem: Sie erwächst nicht mehr allein aus Stellung, Zugehörigkeit und Handlungen, sondern aus persönlicher Haltung und Synthese und ist daher etwas Verborgenes, immer erst zu Schaffendes, indirekt zu Erschließendes.
Damit verändert sich die Struktur dessen, was als das Innere angesprochen wird. Zwar hatten Menschen immer schon Bereiche, die sie nicht nach außen kehrten, sie hatten Geheimnisse und unausgesprochene Phantasien. Spätestens seit Augustinus gab es das Gewissen, das zu bekennen und vor Gott zu verantworten war, und Luther beruft sich auf ihn, um den epochal neuen Gedanken der Gottunmittelbarkeit des Gewissens zu vertreten, mit dem die innere Einstellung, der Glaube und die redliche Reue absoluten Vorrang vor äußeren Handlungen erhalten. Daraus entwickeln sich neue und weitgehende Praktiken der individuellen Gewissenserforschung; der Einzelne ist nicht mehr sicher, was sich in seinem Inneren verbirgt. So entsteht die neuzeitliche Innerlichkeit.
Mit dem Aufkommen des aufgeklärten Subjekts kommt nun aber die zusätzliche Forderung der Einheit und der freien Vernunftentscheidung hinzu. All jene Kräfte und Einflüsse, die bisher im Kosmos gewirkt hatten, von dem der Einzelne ein Teil war, müssen nun in das neu entstandene Innere aufgenommen und dort reguliert werden: Ich kann mich nicht mehr auf Geister und Götter, Gestirne und Zyklen, Säfte und Witterungen berufen, die mein Leben affizieren und beherrschen, und die ich mit Praktiken wie Gebet und Diät zu beeinflussen versuche. Ich muss mich vielmehr selbst nach Vernunftregeln beherrschen. Aber ich kann es nicht. Die Kräfte, die mir im Zuge meiner Ermächtigung als Subjekt zugesprochen wurden, bedrohen zugleich meine Konstitution als Subjekt. Wird aber dem Subjekt das, was es nicht beherrschen kann, gleichwohl als zu seinem Inneren gehörig zugerechnet, so führt dies zwingend zur Konzeption eines topisch gegliederten Innenraumes, der all das aufzunehmen hat, was schon immer unbeherrscht und bedrohlich war.
So entsteht eine Topik von außen und innen, und es kommt, schon im Übergang zum 19. Jahrhundert, etwa bei Goethe oder Jean Paul, der Begriff des Unbewussten auf. Die aus der Antike stammende und vom Christentum übernommene Vorstellung vom göttlichen oder metaphysischen Wesen der Seele, die im Körper nur gefangen ist und im Tod aus ihm befreit wird, lässt sich nicht aufrechterhalten. Die Gegenüberstellung des Göttlichen und des Irdischen verlagert sich in die topische Gliederung des Innenraums der menschlichen Seele, den es so zuvor nicht gab. Nun muss also das Animalische und das Organische, müssen die Affekte, Triebe und Lüste in die Selbstkonstitution des Subjekts aufgenommen werden, in die „Einsamkeit der Person“, wie es der Historiker Alain Corbin (1992, S. 448) treffend ausgedrückt hat. Infolgedessen stellt sich nun die Aufgabe der Subjektivierung des Körpers.
Sie lässt das 19. Jahrhundert zum vielleicht prüdesten Jahrhundert der Geschichte werden. Rigide Strategien der sexuellen Selbstbemeisterung sind nun nicht mehr nur Sache umschriebener Gruppen (etwa in Klöstern), sondern ergreifen weite Teile der Bevölkerung. Der Anspruch, Herr und Besitzer der eigenen "ordentlichen" Sexualität zu sein, geht einher mit dem Anspruch, die Frauen zu besitzen. Michel Foucault (1976) hat gezeigt, dass Sexualität damit keineswegs verdrängt wurde, im Gegenteil: Nie zuvor wurde so viel über Sexualität gesprochen, sie wurde klassifiziert, medikalisiert und ritualisiert, und man begann sich wie nie zuvor dafür zu interessieren, was sie fördert oder hemmt und wie sie zu steuern war. Man entdeckte, lange vor Freud, auch die Sexualität von Kindern und empfand sie als Übel, dem von Anfang an entgegenzutreten war. All dies unter dem Gebot, die Sexualität der Verfügungsmacht des Subjekts zu unterwerfen und so aus einer kosmischen Kraft zu einer Angelegenheit des Inneren werden zu lassen. Zugleich kam im 19. Jahrhundert ein bisher unbekanntes Interesse an der Beobachtung des eigenen Körpers und seiner Empfindungen auf, man begann etwa Verdauungstagebücher zu führen, protokollierte Schwankungen von Stimmung und Befindlichkeit, und ähnliches. Die Literatur ist hierfür eine Quelle; Jean Starobinski (1991) hat anhand von Flauberts „Madame Bovary“ gezeigt, wie jetzt erstmals körperliche Vorgänge minutiös beschrieben und als Indizien von Gemütsbewegungen ausgewertet wurden.
Es war also für das 19. Jahrhundert nichts Neues, dass die mentalen Akte des Bewusstseins von unbewussten Vorgängen beeinflusst werden. Parallel zu der Subjektivierung des Körpers wurden jetzt alle psychischen Akte mit dem Körper in Zusammenhang gebracht; das 19. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Entstehung einer Psychologie, die seelische Vorgänge zu physiologischen Vorgängen in Beziehung setzt. Aus dem Bestreben, die alte aus der Metaphysik stammende Dualität von irdischem Körper und göttlicher Seele, von res extensa und res cogitans, von Natur und Vernunft, von empirischem und transzendentalem Subjekt zu überwinden, entstand jetzt das Leib-Seele-Problem. Erst damit wurde es möglich, eine Wissenschaft der seelischen Krankheiten zu entwickeln, die zur Zeit des Prozesses gegen Daniel Schmolling noch ganz in den Anfängen steckte. Das 19. Jahrhundert konnte das Leib-Seele-Problem in der Form, in der es sich jetzt konfiguriert hatte, jedoch nicht lösen.
Das ist – in einer groben Skizze – das Feld, in dem Sigmund Freud zu forschen beginnt; jetzt sind wir also bei Freud. Seine epochale Tat, so die These, bestand nicht darin, dass er das Unbewusste entdeckte, sondern darin, dass er es aus dem Bereich der viszeralen und humoralen Vorgänge heraushob und in den von ihm so genannten „psychischen Apparat“ verlegte. Damit führt er die Entwicklung des 19. Jahrhunderts konsequent weiter, vollzieht aber einen Schritt, der das 20. Jahrhundert prägen wird: den Schritt der hermeneutischen Erschließung des Unbewussten. Der Körper mit seiner Physiologie ist zwar weiterhin Mitspieler, verschwindet aber wieder in die Kulissen und überlässt die Bühne der Hermeneutik der sprachlichen Operationen, die Freud im Unbewussten postuliert. Dieses ist nun Schauplatz pathogener Vorgänge. Aus dem Zuständigkeitsbereich der Medizin ist es in den der Psychologie verlegt worden; indem diese sich aber die Behandlung von Krankheiten und Störungen mit psychologischen Mitteln zum Ziel setzt, wird sie ihrerseits zum Teil der Medizin, die sich um diesen Bereich erweitert. So entsteht Psychotherapie. Freud hat sich immer als Arzt verstanden und die Verbindung seiner Konzeptionen zur Physiologie nie aufgegeben. Seinem komplizierten Brückenbau zwischen Physiologie und Hermeneutik hat er den Namen „Metapsychologie“ gegeben. Hierfür übernimmt er physiologische Schemata und Gesetze und entwirft Modelle, die in experimentellen Ergebnissen verankert sind. Damit erbt die Metapsychologie auch einen Begriff von Kausalität, der mit hermeneutischen Prinzipien der Verknüpfung nicht einfach kompatibel ist und mit ihnen in eine oft schwer zu entwirrende Interferenz gerät (vgl. Ricœur 1974 [1969]). Diese spannungsreiche Psychologisierung des Unbewussten reagiert auf die Physiologisierung der Psychologie und durchdringt sich mit ihr.
Ich möchte meine These zunächst mit einem Blick in Freuds „Traumdeutung“ belegen. Dort setzt er sich intensiv mit der zeitgenössischen Literatur zur Traumentstehung auseinander, unter anderem auch mit der sogenannten „Leibreiztheorie“ (Freud 1900a, S. 38 ff), derzufolge Träume auf Reize aus dem Inneren des Körpers zurückzuführen seien. Ausführlich und scharfsinnig weist er nach, dass die Leibreize, ebenso wie andere während des Schlafs einwirkende Reize, den Traum nicht hinreichend erklären, denn sie wirken dauerhaft ein, während der Traum ein momentanes Ereignis ist. Die Vertreter dieser Lehre seien zudem „unfähig, irgendein Motiv anzugeben, welches die Beziehung zwischen dem … Reiz und der zu seiner Deutung gewählten Traumvorstellung regelt“ (Freud 1900a, S. 228). Freud macht geltend, dass der Traum die Freiheit hat, deutend auf die Reize zu reagieren, und dass die Reize lediglich „für die Traumbildung eine ähnliche Rolle [spielen] wie die als rezent verbliebenen, aber indifferenten Eindrücke des Tages“ (a.a.O., S. 243). Es gibt also einen Traumkünstler, der aus dem Traummaterial der Reize und Tagesreste das Kunstwerk des Traumes schafft. Dieses Kunstwerk bestimmt sich nicht nur aus den Gegebenheiten des Materials, sondern auch aus Zielen, die der Traum verfolgt. Traumziele sind nach Freud Wunscherfüllung und das Hüten des Schlafs.
Und nun macht er sich daran, die Arbeit zu entschlüsseln, die der Traum leisten muss, um seine Ziele zu erreichen, und mittels derer er oft gegen die Reize arbeiten muss, die den Schlaf gefährden und die Wunscherfüllung stören – unter Wunscherfüllung versteht Freud in der Regel das Verschwinden eines Reizes. Diese Traumarbeit besteht in sprachlich-symbolischen Operationen, an erster Stelle Verschiebung und Verdichtung, die zu Entstellung und Verrätselung, aber auch Darstellbarkeit führen. Sie umfasst in einem doppelten Schritt zunächst die Bildung eines latenten Traumgedankens, der bereits eine sprachliche Gestaltung ist, und sodann die Bildung des manifesten Traums, der dann in der Traumerzählung nicht nur wiedergegeben, sondern bereits bearbeitet wird. An dieser setzt nun die Traumdeutung an, die Freud nach dem Vorbild der Exegese eines heiligen Textes konzipiert. Sie soll die Schritte der Traumarbeit gleichsam rückläufig sowohl rekonstruieren als auch dekonstruieren, um den ursprünglichen, durch die Traumarbeit entstellten Trauminhalt ausfindig zu machen.
Freuds „Traumdeutung“ folgt somit einem auf Aristoteles zurückgehenden Schema vierfacher Kausalität. Der Traum, wie er uns begegnet, hat eine materielle Ursache in Körperreizen und Tagesresten. Er hat eine formale Ursache in der Traumarbeit. Er hat eine finale Ursache in Wunscherfüllung und Schlaf. Bleibt die Frage nach der Causa efficiens, der bewirkenden Ursache. Das wäre der Trauminhalt. Er stellt das dar, was die ganze Arbeit des psychischen Apparats in Bewegung setzt, und ihn zu finden ist das Interesse der Traumanalyse. Hierbei kommt man aber nicht einfach auf den physiologischen Körper zurück. Die Traumanalyse ist kein Rückgängigmachen, sondern eine Fortsetzung der Traumarbeit mit anderen Mitteln. Folgerichtig kommt auf dem Wege der Traumdeutung der Körper als Ausgangs-, Ausdrucks- und Realisationsort psychischer Sachverhalte, als Träger und Quelle von Bedeutungen in den Blick. Psychisches und Körperliches greifen, so sieht es jetzt aus, eng ineinander. Der Begriff, mit dem Freud diese Interrelation des psychisch Bedeutenden und des somatisch Bedrängenden und zugleich die Causa efficiens der psychischen Bildungen zu fassen versucht, ist der des Triebes. Auch diesen Begriff hat er nicht neu geprägt, aber er hat ihm, wie dem des Unbewussten, eine neue Bedeutung gegeben. Wie kein anderer Begriff steht der Trieb für den nach wie vor rätselhaften Punkt, an dem Physiologie und Psychologie einander durchdringen; Freud bezeichnet ihn als „Grenzbegriff“ (Freud 1915c, S. 214). Der Trauminhalt, causa efficiens des Traumes, ist regelmäßig eine Triebregung: als Triebspannung ein physiologischer Sachverhalt, als Triebwunsch eine psychologische Bildung aus Vorstellungen und Repräsentanzen (vgl. Starobinski 1991).
Das Leib-Seele-Problem ist damit nicht gelöst, und Freud wusste das. Es hat sich, wie wir heute sagen können, in das Problem des Verhältnisses von Mechanismus und Bedeutung, Energetik und Hermeneutik verlagert. Diese Hermeneutik ist nach Ricœur eine Hermeneutik des Verdachts, denn alle Phänomene stehen nun unter dem Verdacht, Entstellungen und Verrätselungen des eigentlichen, des ursprünglichen, des verdrängten Triebwunsches zu sein. Dieser darf nicht unverstellt zu Bewusstsein kommen, weil er asozial und verpönt ist, sich in bestehende Ordnungen nicht integrieren lässt und letztlich das Überleben gefährdet.
Das ist nun, wie mir scheint, das Ereignis, das die implizite Anthropologie in unserer Kultur irreversibel verändert hat. Denn auch dort, wo nicht aktiv Psychoanalyse betrieben wird, sind die Menschen seitdem der Hermeneutik des Verdachts und dem Gedanken ausgesetzt, dass ihre eigentlichen und tiefsten Antriebe asozial sind, antikulturell, archaisch, dass sie dies vor sich selbst verbergen, dass alle kulturelle Entwicklung darüber aber nur einen dünnen Firnis legt. Sie sind dadurch herausgefordert, dass nicht nur die Subjektivierung des Körpers, sondern auch die der Seele scheitern muss: dass sie nicht Herren im eigenen Hause sind (Freud 1917a, S. 11). Auch wo sie dies bekämpfen oder ignorieren, sind sie darauf bezogen. Kritik am Projekt der Aufklärung und eine Hermeneutik des Verdachts gab es auch schon zuvor, etwa bei Nietzsche, sie wird hier aber erstmals mit naturwissenschaftlichem Wahrheitsanspruch vorgetragen. Was bleibt nun von der Freiheit des Menschen, nach vernunftgemäßen sittlichen Prinzipien und vernunftgemäßer Welterkenntnis zu handeln?
Um noch einmal auf Daniel Schmolling zurückzukommen: Was ist mit der glasklaren Diagnose des E.T.A. Hoffmann, wonach die Anwendung der Strafjustiz voraussetzen muss, dass ein Angeklagter die Freiheit hat, seinen Willen gemäß sittlichen Prinzipien zu bestimmen? Hat dies nach den Entdeckungen Freuds noch Bestand? Und weiter: Können sich unsere demokratischen Verfassungen noch auf das aufklärerische Ideal berufen, dass ein jeder Mensch als politisches Subjekt die Verhältnisse vernünftig beurteilen und in Freiheit darüber entscheiden kann? Schließlich: Besitzen wir überhaupt die Freiheit, die Wahrheit über uns zu erkennen? Oder ist der Mensch von seiner Natur her dazu verurteilt, anders als in Illusionen über sich selbst nicht existieren zu können? Freud hat über all dies nachgedacht und überwiegend pessimistisch geantwortet. An dem Ideal einer illusionslosen Erkenntnis hat er gleichwohl mit unbeirrter Beharrlichkeit festgehalten. Und er hat sich zeitlebens zu einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung bekannt. Noch kurz vor seinem Tod hat er bekräftigt, die Psychoanalyse könne letztlich nichts anderes als eine Naturwissenschaft sein (Freud 1940 [1938], S. 143). Es sei lediglich ein vorübergehender Mangel, dass die psychoanalytischen Erkenntnisse sich noch nicht auf Erkenntnisse der Physiologie zurückführen lassen (Freud 1920g, S. 65).
Auf die Wissenschaft beruft sich Freud auch an einer anderen Stelle, auf die ich jetzt noch eingehen möchte, weil sie zeigt, wie Freud gegen überkommene Formen impliziter Anthropologie Position bezieht.
In der „Psychopathologie des Alltagslebens“ (Freud 1901b, S. 285 ff) berichtet er, wie er auf dem Weg zu einer alten Patientin vom Kutscher versehentlich in einer Parallelstraße abgesetzt wurde. Er fragt sich dann, ob sich darin eine Vorahnung ihres baldigen Ablebens äußern könnte, und verneint dies, denn es sei ja die Fehlleistung des Kutschers gewesen und nicht seine eigene, also Zufall. Hätte er dagegen selbst den Weg zu Fuß zurückgelegt, dann hätte er die unbewusste psychische Determinierung seiner Fehlleistung aufzuklären. Hieran will er verdeutlichen, was ihn von einem Abergläubischen unterscheidet: Es ist die klare Unterscheidung von innen und außen: „Ich glaube zwar an äußeren (realen) Zufall, aber nicht an innere (psychische) Zufälligkeit.“ Freud nimmt nun an, dass der Abergläubische, weil er „von der Motivierung der eigenen zufälligen Handlungen nichts weiß“, genötigt sei, sie „durch Verschiebung in die Außenwelt unterzubringen“. Diesen Mechanismus weitet Freud sodann aus auf die „mythologische Weltauffassung, die bis weit in die modernsten Religionen hinein reicht“, die aber „nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie“. Sie konstruiere eine „übersinnliche Realität, welche von der Wissenschaft in Psychologie des Unbewussten zurückverwandelt werden soll. Man könnte sich getrauen, […] die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen“ (a.a.O., S. 287 f, Hervorh. i. O.).
Den Historiker interessiert an einer solchen Textstelle nicht so sehr, ob die Argumentation stichhaltig ist. Er achtet stattdessen auf die Merkmale, die etwas über den historischen Ort der Formulierungen verraten. Zweierlei fällt auf: Erstens die Differenz zwischen Außen und Innen, wobei Außen mit „real“, Innen mit „psychisch“ identifiziert ist. Die Individualisierung des Psychischen und seine Verortung in einem Innenraum, der von der Außenwelt getrennt ist und anderen Gesetzen unterliegt, ist abgeschlossen und wird hier nicht mehr in Frage gestellt. Der Historiker kann beschreiben, wie diese Konzeption sich allmählich gebildet und gefestigt hat und an die Stelle früherer Polaritäten getreten ist, etwa der Polarität des Göttlichen und des Irdischen oder der res cogitans und der res extensa. Freud ist nun überzeugt, und das ist der zweite Punkt, dass er mit dieser Beschreibung der Polarität auf dem sicheren Boden der Wissenschaft steht, der nunmehr der Platz zukommt, den früher Mythologie und Religion innehatten. Er tritt auf als säkularer Aufklärer.
Der Historiker enthält sich eines Urteils darüber, ob dieser Fortgang der Geschichte ein Fortschritt ist. Freuds Aussage, Mythologie sei „nichts anderes als in die Außenwelt projizierte Psychologie“, muss er aber widersprechen: Die Wissenschaft leistet keine "Rückverwandlung" in eine Psychologie des Unbewussten, sondern dies ist eine "Vorwärtsverwandlung" in eine ganz neue Auffassung des Menschen. Freud ist sich zwar offenbar sicher, dass diese neue Auffassung den Menschen beschreibt, wie er immer schon war; aber das ist aus historischer Sicht ein höchst problematisches Vorurteil. Die Konzepte von individueller Psyche, „Außenwelt“, „Projektion“ und „Psychologie“ sind vielmehr junge historische Bildungen, die auf die implizite Anthropologie zu Zeiten des Entstehens der „mythologischen Weltauffassung“ nicht übertragbar sind. Wendet man sie, wie es Freud hier tut, trotzdem darauf an, so ist dies seinerseits eine Projektion gegenwärtiger anthropologischer Überzeugungen auf Phänomene der Vergangenheit, die dadurch als das, was sie sind, entstellt und unkenntlich gemacht werden. Der gleiche Einwand gilt, wenn Psychoanalyse auf fremde Kulturen angewandt wird. Hier zeigt sich, dass die Freud’sche Psychoanalyse gewisse implizite anthropologische Normen und Voreingenommenheiten affirmiert und damit in einem historischen und kulturellen Bedingungszusammenhang steht, den sie nicht einfach verlassen kann. Wer sie anwendet, sollte sich ihrer historisch-kulturellen Bedingtheit bewusst sein, die auch eine Beschränkung ist.
Ich schließe mit einem kurzen Ausblick:
Freuds Theoriebildung zur Zeit der Traumdeutung, also kurz vor und um 1900, ist, was die Psychoanalyse betrifft, ein frühes Stadium, aber hier wird das historische Ereignis, von dem ich sprechen wollte, besonders deutlich sichtbar. Er vertritt hier einen starken, an naturwissenschaftlichen Kausalitätsvorstellungen seiner Zeit orientierten Begriff von Determinismus. Dieser wird im Lauf der Zeit in seinen Schriften allmählich etwas in den Hintergrund treten und dem Konzept des Wiederholungszwangs Platz machen. Aber Freud kann ihn nicht aufgeben, er müsste denn das gesamte Projekt einer Entschlüsselung der unbewussten Ursachen manifester psychischer Phänomene aufgeben. Dieses Projekt steht und fällt mit der Annahme, dass alle Elemente des Psychischen in einer Relation der Verknüpfung miteinander stehen. Nur unter dieser Annahme kann die freie Assoziation eine Methode zur Erforschung des Unbewussten sein. Es handelt sich dabei um eine implizite anthropologische Setzung, nicht um einen empirischen Befund. Freud rechtfertigt sie mit dem „Gewinn an Sinn und Zusammenhang“, der sich mit ihr erzielen lässt, und führt dies als „unumstößlichen Beweis“ für die Existenz des Unbewussten an (Freud 1915e, S. 265). Sehen wir genau hin, dann erweist sich auch dies als Zirkelschluss. Denn ein Beweis ist dies nur, wenn wir „Sinn und Zusammenhang“ als Eigenschaft der Gesamtheit psychischer Vorgänge in einer Person und zugleich als Kriterium der Wahrheit von Erkenntnis bereits unterstellen. Das zu Beweisende wird also im Beweisgang bereits vorausgesetzt. In der Tiefe der Theorie- und Methodenbildung von Freuds Psychoanalyse finden wir somit das Kriterium der Einheit und Kohärenz, das wir als Bestimmungsstück des Subjekts der Aufklärung kennengelernt hatten, als bestimmende implizite anthropologische Norm bekräftigt.
Inzwischen hat sich unsere Kultur weiter gewandelt, und dies findet auch Ausdruck in der Entwicklung der Psychoanalyse und ihrer Auffächerung in verschiedene Schulen. Es ist aber – wenn ich richtig sehe – nach Freud nie wieder die Psychoanalyse selbst gewesen, die eine entscheidende geschichtliche Neuerung hervorgebracht hat; vielmehr ist sie damit beschäftigt, den von anderswo ausgehenden Entwicklungen hinterherzukommen. In diesem Sinne ist Freud bis heute der einzige Psychoanalytiker von weltgeschichtlicher Bedeutung.
Literatur:
Ariès, P./Duby, G. (Hg.) (1989-1992): Geschichte des Privaten Lebens. Band I-V. Frankfurt a. M.: S. Fischer
Corbin, A. (1992): Kulissen. In: Ariès, P./Duby, G. (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Bd. 4: Von der Revolution zum großen Krieg. Frankfurt a. M. (Fischer), 419–629.
Elias, N. (1997): Über den Prozeß der Zivilisation. Band I-II. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
Foucault, M. (1976): Histoire de la sexualité I: La volonté de savoir. Paris: Gallimard.
Freud, S. (1900a): Die Traumdeutung. GW 2/3.
Freud, S. (1901b): Zur Psychopathologie des Alltagslebens. GW 4, 1-311.
Freud, S. (1915c): Triebe und Triebschicksale. GW 10, 209-232.
Freud, S. (1915e): Das Unbewußte. GW 10, 264–303.
Freud, S. (1917a): Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. GW 12, 3-12.
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