«Perfect days» (Wim Wenders, 2023) scheint der Film der Stunde zu sein; die Kinos sind gefüllt, der Hauptdarsteller Köji Yakusho erhält in Cannes den Preis für den besten Schauspieler des Jahres 2023, der Film wird für einen Oscar als bester internationaler Film 2024 nominiert. Warum ist das so? Sehen wir doch scheinbar nichts anderes als den Alltag eines Mannes, der in Tokio Toiletten putzt. Kaum ein Film ist langsamer, in seiner Ruhe wohl nur Jim Jarmuschs «Paterson» (2016) vergleichbar. Warum bringt der Film, an dem nichts auf Politik und Gesellschaftsanalyse verweist, den Zeitgeist offenbar auf den Begriff oder auf welchen Wegen hält er der Gegenwart einen Spiegel vor, so dass er doch hochpolitisch gelesen werden kann? Diesem Effekt des Films soll durch eine Analyse des Zeiterlebens nachgegangnen werden, und zwar auf zwei Wegen, zum einen, vor allem durch die Untersuchung, was Präsenz ist oder sein könnte, zum anderen durch eine Analyse der Wiederholung.
Gegenwärtigkeit
Friedrich Nietzsche hat in seinem Buch «Unzeitgemäße Betrachtungen» folgende Bemerkungen zum Augenblick gemacht.
«Bei dem kleinsten aber und bei dem größten Glücke ist es immer eins (sc. derselbe entscheidende Punkt, JK), wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessenkönnen oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkte wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist, und noch schlimmer: er wird nie etwas tun, was andere glücklich macht.» (Nietzsche, 1874 Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Unzeitgemäße Betrachtungen, Zweites Stück, Kapitel 1. www.projekt-gutenberg.org/nietzsch/unzeit1/chap014.html (3.2.2024).
Unhistorisch empfinden: das heißt, die Geschichte hintanzustellen, auf Vergangenheit und Zukunft verzichten zu können, um das, was der Augenblick bietet, aufzunehmen, sich im Moment niederlassen zu können. Allerdings ist, wie Goethe im «Faust» gezeigt hat, dieses Verweilen im Augenblick, der so schön ist, ungeheuer schwer. «Achtsamkeit» ist das gegenwärtig viel gebrauchte Schlagwort in der Psychotherapie, mit dem dieses Gegenwartsbewusstsein geschärft und eingeübt werden soll. Aber das Konzept Achtsamkeit droht rasch zu verkommen zu einem Trainingsprogramm, zu einem Wohlfühl- und Entspannungsverfahren, zu einem risikolosen Aufenthalt in einem meditativen Selbstbezug. Wodurch aber ist das Gegenwartsbewusstsein, das gewichtig ist, den «Sieg davonträgt», ausgezeichnet? Ich werde im Folgenden den Begriff Gegenwärtigkeit einsetzen für die Möglichkeit, sich auf die Gegenwart so einzulassen, dass sie wirkt, dass sie Gewicht hat.
Gegenwärtigkeit, die diesen Namen verdient, ist keineswegs selbstgefällig, sondern riskant, eine besondere Form des Umweltbezugs, die ein Gegenüber gewärtigt, eines Gegenübers gewahr wird, sich auf die umgebende Welt einlässt, sich Zeit nimmt. Gegenwärtigkeit macht aus dem Betrachter einen Phänomenologen, denjenigen also, der das, was erscheint, zulässt, sich ihm stellt, es aufnimmt. In seinem neuesten Buch «Raviver l’esprit en ce monde» diagnostiziert Francois Jullien ( Jullien, F. 2023: Raviver l’esprit en ce monde. Editions l’Obervatoire, Paris), der französische Sinologe und Philosoph, der sich viel mit der Psychoanalyse befasst hat, in der Gegenwart einen Verlust an echter «Présence», die er vom «présent», dem nur im Moment Vorhandenen, unterscheidet. Die neuen Medien, das Internet, das Mobile Phone: sie schaffen eine «Pseudo-Präsenz», die Illusion, dass mit einem Click alles aufs Mal erscheint, dass die Gegenwart immer reicher wird, weil alles aufgerufen werden kann, zur Verfügung zu stehen scheint. Stattdessen aber ist diese Anwesenheit eigentlich eine Abwesenheit, nach den Worten des Heraklit: «pareontas apeinai» (παρεόντας ἀπεῖναι: «Anwesend sind sie abwesend» (Heraklit, Fragment 34: zit.n. Jullien 2023, S.63). Das liegt daran, dass es im digitalen Erlebnishorizont keine Begegnung gibt – kein Entgegen, keine Reibung, an deren Stelle Flüchtigkeit tritt, die nichts mehr vermag. Indiz dieses Verlusts ist für Francois Jullien der Verlust des Lesens; auch wenn Bücher nach wie vor gekauft werden, so werden sie doch anders gelesen, in Häppchen, online, ohne den Rückzug, den ein Buch fordert, ohne das Eintauchen in eine Lesewelt. Die Autorenwelt hat sich darauf schon eingestellt und bietet «Verdauliches», also das, was «keine Zeit kostet». Jede Gegenwärtigkeit indes verlangt eine Ankunft, avènement, eine Unterbrechung, rupture, und eine Insistenz, instance. Das Wort «instant» ist doppeldeutig, es bezieht sich auf das, was gegenwärtig da ist, aber auch auf das, was «hereinsteht», in einem durchaus bedrohlichen Sinn, «présent» und «pressant» im Französischen (a.a.O., S.66). Sich einlassen bedeutet auch loslassen, die Bezüge, die einen nach allen Seiten hin einschliessen und festlegen, suspendieren, sich der Routine entwinden. Gegenwärtigkeit ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Vor allem aber ist sie ein Ereignis; wird sie als permanentes Ereignis festgehalten, entzieht sie sich sogleich. Was immer da ist, wird nicht mehr gesehen.
Nietzsche bringt die Siegesgöttin ins Spiel; dass er damit auf den Sieg verweist, lässt anklingen, dass das Glück des Augenblicks erkämpft werden muss, ebenso wie jede echte Präsenz. Die griechische Mythologie hat dem Gegenwartsmoment einen eigenen Gott, Kairós, gewährt, den Gott der Gelegenheit, der Flügel hat und also schnell voranschreitet, also auch schnell vergeht. Er begegnet einem, kommt einem entgegen, und dann muss er beim Schopfe gepackt werden, deshalb wird Kairós mit einem Haarschopf vorn, an der Stirn, abgebildet, nicht etwa mit einem Pferdeschwanz.
Die Psychotherapieforschung kennt dank Daniel Stern den Moment, den es zu ergreifen gilt, ebenfalls. Stern et al. (Stern, D. et al.: Nicht-deutende Mechanismen in der psychoanalytischen Therapie. Das »Etwas-Mehr« als Deutung. Psyche – Z Psychoanal 56, 974–1006.2002) haben den now moment als eine besondere Art von Gegenwartsmoment beschrieben, in dem sich der gewohnte Rahmen, der eingespielte Umgang miteinander plötzlich verändert, die Interaktion geht spontan andere Wege als die bekannten, die Situation wird unvertraut und verlangt eine rasche, unwillkürliche Entscheidung. Stern et al beschreiben die Entwicklung eines now moments als eine Abfolge von drei Phasen:
„ »Now moments« entwickeln sich subjektiv in drei Phasen. Es beginnt mit einer Phase, die erfüllt ist von dem Gefühl, dass irgend etwas bevorsteht [»pregnancy phase«]. Ihr folgt die merkwürdige oder unheimliche Phase [»weird phase«], in der man realisiert, dass man einen unbekannten, nicht erwarteten intersubjektiven Raum betreten hat. Und schließlich die „Entscheidungsphase“ [decision phase, JK], in der der »now moment« ergriffen wird oder aber nicht. Wird er ergriffen, mündet er, falls alles gut geht, in einen »Moment der Begegnung«; wenn etwas schief läuft, ist der Moment verpasst.“ (Stern et al., 2002, S.990).
Now moments sind die kritischen und kairotischen, einen Kairós enthaltenden Augenblicke oder Verdichtungen der Erlebniszeit, in denen die therapeutische Beziehung in Frage steht und sich in ihr eine neue Art und Weise des sich Begegnens als Möglichkeit bietet, die ergriffen, aber auch verfehlt werden kann.
Wiederholung
Wenn es stimmt, wie oben mit Jullien festgehalten, dass das, was immer da ist, nicht mehr gesehen wird, könnten Wiederholungen gelesen werden als das Gegenstück, zumindest als Hindernisse auf dem Weg zur Gegenwärtigkeit. Um zu klären, ob diese Vermutung berechtigt ist, muss die Wiederholung selbst verstanden, ihr Wesen herausgearbeitet werden.
Wiederholungen bestimmen jedes menschliche Leben. Wiederholungen machen, wie der Philosoph Bernhard Waldenfels gezeigt hat, das menschliche Leben aus, Erfahrungen ohne Wiederholung sind undenkbar. Waldenfels (Waldenfels, B. 2009: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Frankfurt: Suhrkamp) macht dies anhand von Extremen deutlich; ein absolut Unwiederholbares wäre ein absolutes Original, das – weil gänzlich neu und ohne wiederholende Elemente - sprachlos machte, es gäbe keinen Anknüpfungspunkt, und den liefert nur die Wiederholung. Es kann aber auch keine reine Kopie geben, das wäre Wiederholung ohne Unwiederholbares, «Sie würde uns in einen Spiegelsaal versetzen, der keinen Blick ins Freie gestattet», so Waldenfels (2009, S.182).
Dass Wiederholung mit dem Zur-Sprache-kommen verbunden ist, wusste Sigmund Freud. Sein Beispiel einer Wiederholung, das Garnrollenspiel, das Fort-Da-Spiel seines Enkels, das er in «Jenseits des Lustprinzips» beschrieben hat, ist berühmt geworden.
«Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles o—o—o—o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen «Da». Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing.» ( Freud, S. 1920g: Jenseits des Lustprinzips. GW XIII, S. 3-69)
Die Wiederholung führt in diesem Fall zur Symbolbildung, zur Versprachlichung des Vorgangs in der Aufeinanderfolge von A und O. Sie dient der Entwicklung eigener Autonomie, in der Bewältigung der Abhängigkeit, im Spracherwerb. Die Wiederholung verhilft, wenn alles gut geht, wenn sie gut geht, zu einer autopsychischen Transformation, vom Leiden zur Bewältigung, von der traumatischen Widerfahrnis zu dessen Einbindung im Spiel und später in der Sprache, vom Widerfahrnis zur Erfahrung. Dass eine Wiederholung transformativ wirksam werden kann, ist aber nicht garantiert, sondern abhängig von der Rolle und Bedeutung des Anderen. Die Psychoanalyse berücksichtigt den Anderen, denkt im Kontext von interpersonalen (Objekt-)Beziehungen, und dies nicht erst in der sog. Relationalen Psychoanalyse, sondern bereits viel früher, beginnend bei Freud selbst in der m.E. deshalb so richtungsweisenden Arbeit zu «Trauer und Melancholie» ( Freud, S. 1916-1917g:. Trauer und Melancholie. GW X, S. 428-446).
Explizit später bei Winnicott und Bion, die nicht zuletzt deshalb, weil sie so genau die Rolle des Anderen und des Objekts in das Freudsche Werk eingelesen haben, bis heute diskursleitend geblieben sind. Winnicott spricht von der mütterlichen Funktion als dem Holding, dem Handling und Object presenting und unterstreicht, wie das Selbst sich mit Hilfe der primären Objekte, bei Winnicott immer: der Mutter, entwickelt (Winnicott, D.W. 1965/1974: Ich-Integration der Entwicklung des Kindes. In: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. S.72-81). Bion spricht vom Containing, der sog. Alpha-Funktion, die – weil Bion zeitlebens an einer Theorie des Denkens interessiert gewesen ist – die verarbeitende, transformative Kraft des Anderen beschreibt, der rohe, unverbundene Affekte und Eindrücke, umwandeln hilft in bedeutungsvolle Erfahrungen (Bion, W.R. 1990 [1952]: Lernen durch Erfahrung. Frankfurt: Suhrkamp). . Christopher Bollas hat explizit von der ersten Bezugsperson als dem «transformational object» gesprochen (Bollas, C. 1997 [1987]:Der Schatten des Objekts. Stuttgart: Klett-Cotta).
In einer früheren Arbeit habe ich zwischen der variierenden, der repetitiven und der automatischen Wiederholung unterschieden (Küchenhoff J: 2022 Wiederholung und Transformation: eine psychoanalytische Perspekti-ve. IN: von Flemming V, Berger J (Hrsg.) Vanitas Wiederholung. Berlin de Gruyter, S. 133 – 150).
Die erste ist in dem soeben herausgearbeiteten Sinn besonders konstruktiv, weil sie den Weg für eine Transformation, für eine Erfahrungsbildung erlaubt. Die repetitive, die typisch ist für die (Nicht-)Verarbeitung schwerer Traumata, wiederholt das Erlittene, sie ist insofern konstruktiv, weil sie erst auf der Suche nach dem transformierenden Anderen ist, aber noch keine Transformation bewirken kann. Die automatische Wiederholung ist die, die leerläuft, die kein Objekt mehr kennt und keine Erwartung auf Transformation mehr hat.
Nun können wir die oben gestellte Frage in einer ersten Annäherung beantworten. Wiederholungen verhindern Gegenwärtigkeit, wenn sie bloß automatisch ablaufen, sie können hingegen erfahrungsbildend sein, wenn sie Variationen zulassen, beweglich bleiben. So können sie auch Wahrnehmungen intensivieren, in diesem Fall stehen sie nicht der Gegenwärtigkeit im Weg, sondern ermöglichen sie.
Gegenwärtigkeit und Wiederholung in „Perfect Days“
Immer neu fängt im Film der Tag an, immer neu wird die Tür geöffnet, um das einfallende Sonnenlicht zu begrüßen. Immer neu folgt der Weg zum Kaffeeautomaten, der aus jeweils ein wenig verschobenen Perspektiven aufgenommen ist. Danach fährt der Protagonist, Hiramaya, auf den Stadtautobahnen zu seinen Arbeitsorten, den öffentlichen Toiletten. Diese Fahrten stehen natürlich in einem intertextuellen Zusammenhang mit den von Wim Wenders früher gedrehten Road Movies. Meist legt Hiramaya jeweils eine andere Kassette ein, die Musik begleitet die einander ähnelnden Strecken, der Ton fügt der gleichbleibenden Optik die Variation bei. Die Kassetten-Technik erscheint den Jugendlichen, denen Hirayama begegnet, von einer anderen Welt, sie können sie nicht mehr verstehen und beherrschen. Die Songs dagegen, aus der Jugendzeit Hirayamas, faszinieren die Jugendlichen, wohl gerade weil so nostalgisch fremdartig anmuten. Die Toiletten werden mit der immer gleichen Aufmerksamkeit geputzt, und doch sind alle ein wenig anders, in ihrer architektonischen Schönheit, die ungewohnt ist und deren Zweck transzendiert oder aufwertet. Besonders eindrucksvoll sind die Mittagspausen dargestellt, in denen Hirayama aus seinem Arbeitsoverall eine Rollfilm-Kamera holt, um die Lichtstrahlen, die durch einen Baumwipfel dringen, aufzunehmen. Wir erfahren, dass er die Filme entwickeln lässt, die ihm gefallenden aussortiert und in datumbeschrifteten Archivschachteln versorgt. In diesen Momenten wird Hirayama zum Künstler; offenbar aber ringt er nicht, wie Paul Cézanne, um eine Realisierung, die immer verfolgt, aber nie erreicht wird, um die ultimativ angemessene Abbildung, die es nicht geben kann, sondern es ist ihm m.E. um die kleine Variation innerhalb des Immergleichen zu tun (Vukicevic V. 1992: Cesannes. Die Malerei und die Aufgabe des Denkens. Fink München). Die Bilder werden aufbewahrt, die kleinsten Spielarten des Lichtes werden gehütet, und damit wird der Licht-Blick immer tiefgründiger, immer gegenwärtiger. Der gleiche heitere Ernst, die gleiche Vertiefung in eine Arbeit, die wohl jeder Zuschauende erst einmal für sich abgelehnt hätte, prägt das Putzen öffentlicher Toiletten, in die sich Hirayama vertieft. Die kurze Begegnung mit seiner Schwester, mit der er nur wenige Worte wechselt, offenbart, dass er – von außen betrachtet – „bessere Zeiten gesehen hat“, ohne dass sie in irgendeiner Weise zur Sprache kommen. Und doch widerlegt gerade dieses ganz kurze Aneinander-Vorbeireden die rasch bereitliegende Wertung, dass sie in der Gesellschaft angekommen und erfolgreich sei, er aber nicht. Die sehr spärlichen und ausgesprochen wortkargen, aber sehr berührenden Begegnungen mit anderen zeigen, dass gerade die Gegenwärtigkeit es ist, die Beziehungen zulässt, ganz sparsame, aber intensive, konzentrierte. Hirayama schenkt seinem jungen Kollegen Geld, das dieser für ein Rendezvous, das scheitern wird, braucht, er schenkt es ohne Worte. Er wird bestohlen; ausgerechnet das Mädchen, das den Kollegen zurückweist, entwendet eine der wertvollen alten Kassetten aus seinem Wagen. Aber es bringt sie zurück, und dann hören beide, im Wagen sitzend, ein Lied, an dessen Ende sie ihm einen Kuss auf die Wange gibt , bevor sie herausspringt - Momente einer Innigkeit, die ohne Geschichte sind und für sich stehen.
Der Film gibt eine klare Antwort auf die oben gestellte Frage. Er zeigt, dass Gegenwärtigkeit und Wiederholung sich nicht widersprechen, sondern sich gegenseitig steigern können: je stärker Hirayama sich auf das, was er sieht und hört und tut, einlässt, umso besser kann er es wiederholen. Je öfter er sich seinen Aufgaben widmet, umso intensiver nimmt er sie wahr. Der Verzicht auf Extensivität steigert fortlaufend die Intensität, und die Intensität beglaubigt und bestätigt den Verzicht.
Die Kunst des Regisseurs aber ist es, dass der Zuschauer oder die Zuschauerin genau das Gleiche erlebt. Mit jeder Wiederholung der Szene wird er oder sie ruhiger, schaut er oder sie genauer hin, widmet er oder sie sich – in Identifikation mit den Augen, mit den Armen Hirayamas – der begegnenden Umwelt, die sich immer mehr erschließt, öffnet. Diese Intensität lässt es zu, dass die nächste (variierende) Wiederholung mit Aufmerksamkeit, ja mit Freude erwartet und registriert wird. Damit aber gelingt dem Film, was kaum einem Film möglich ist: die Transformation der Wahrnehmung, und ineins damit die Veränderung des Zeiterlebens. Der Film ermöglicht dem Zuschauer für zwei Stunden die Erfahrung von Gegenwärtigkeit, von Präsenz, deren Verlust Francois Jullien beklagt.
Konstruktive Gesellschaftskritik und Hoffnung
F. Jullien hat in seinem Buch betont, dass als ebenso wichtig wie die Umweltzerstörung, die zur Klimakatastrophe führt, die Zerstörung des Geistes, des Esprit, gewertet werden muss, die er mit dem Verlust der Präsenz, der Gegenwärtigkeit gleichsetzt. Nicht die Funktionsfähigkeit des Verstandes an sich ist angesprochen, sondern die Kraft der Vernunft, die Ernsthaftigkeit des Denkens und des Sprechens, und die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, wie W.R. Bion (1990) sagte. Denken heißt, sich einlassen; aus Erfahrung kann nur lernen, wer bereit ist, das Erfahren zu lernen, also Erfahrung ernst zu nehmen.
Wie ich zu zeigen versucht habe, setzt Wim Wenders in seinem Film „Perfect Days“ das von Francois Jullien Vermisste (er konnte den Text natürlich nicht kennen) in Szene und uns vor Augen. Schmerzlich bewusst wird dabei, was in der Beschleunigung und der Illusion der Allverfügbarkeit von Informationen verloren geht. Aber der Film bleibt bei der Analyse, die leicht – auch bei Jullien – resignativ und kulturpessimistisch wirken kann, nicht stehen. Die Ästhetik des Films zieht die Zuschauenden in einen anders getakteten Prozess hinein, nimmt sie unmerklich an die Hand, um eine andere Gegenwärtigkeit zu erproben. Sie wirbt für eine andere Einstellung, in die sie zugleich einführt und einübt. Damit macht sie nicht nur schmerzlich bewusst, was außerhalb der Welt des Films gefordert ist, sondern erlaubt einen „Vorschein“ von Hoffnung auf Veränderung.
Damit aber wirkt der Regisseur, wirkt der Schauspieler als (anonymer) Psychoanalytiker. Sie ermöglichen eine Transformation, wenn auch nur für die Länge des Films, sie wirken als transformierende Andere. Etwas Besseres lässt sich über einen Regisseur, einen Darsteller, über einen Film nicht sagen.