Eran Rolnik: McCarthysm in Israel. Ein offener Brief an die israelische Ärztekammer und die Israelische Psychoanalytische Gesellschaft

Der israelische Psychoanalytiker, Psychiater, Autor, Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und Publizist Eran Rolnik wurde aufgrund seiner kritischen Artikel über Benjamin Netanjahu und seine Regierungskoalition zu einem Verhör bei der Civil Service Commission zitiert. In einem offenen Brief, der in der Tageszeitung Haaretz erschien, informierte er seine Kollegen und die Öffentlichkeit über den Inhalt dieses für eine Demokratie beunruhigenden Vorgangs. Hier sein offener Brief. Inzwischen gibt es vehementen Protest gegen seine Einvernahme und Forderungen nach Aufklärung des Vorgangs.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich möchte Sie über eine besorgniserregende Entwicklung hinsichtlich der Meinungsfreiheit in Israel und der Beziehung zwischen dem offiziellen Israel und den Gesundheitsberufen informieren.

Kurzer Hintergrund: Zusätzlich zu meiner Arbeit als Psychiater, Psychoanalytiker und Universitätsdozent habe ich in den letzten zehn Jahren eine Teilzeitstelle als Leitender Arzt des Office for Personal Compensation from Abraod, das sich mit deutschen Wiedergutmachungen an Holocaust-Überlebenden befasst. Zu meinen Aufgaben in dieser offiziellen Verwaltungsposition gehört die Rekrutierung, Ausbildung und Überwachung israelischer Vertrauensärzte, die für die Entschädigungsbehörden in Deutschland medizinische Gutachten erstellen, auf deren Grundlage Leistungen für Holocaust-Überlebende festgelegt werden.

Am 6. November wurde ich per E-Mail zu einer dringenden Vernehmung in die Disziplinarabteilung der Kommission für den öffentlichen Dienst vorgeladen. Dort wurde ich drei Stunden lang zu meinem journalistischen Schreiben und meinen Aktivitäten im Rahmen der Kaplan-Proteste verhört. Die Untersuchung beinhaltete eine eindringliche Befragung über meine politischen Ansichten, die ich in einer Reihe von in der Tageszeitung Haaretz veröffentlichten Artikeln zum Ausdruck gebracht hatte. Der Vernehmer hatte einen großen Stapel Ausdrucke auf seinem Schreibtisch liegen. Lauter markierte und hervorgehobene Artikel, die ich im vergangenen Jahr veröffentlicht hatte, aus denen er ausgewählte Absätze und Sätze vorlas und mich bat, zu bestätigen, dass ich dazu stehe. Ich wurde gebeten, jeden Ausdruck zu unterschreiben und den Inhalt zu bestätigen. Die Zitate, zu denen ich befragt wurde, enthielten unter anderem Verweise auf Premierminister Netanyahu, seine Frau und verschiedene von der Koalition eingebrachte Gesetze. Ich wurde gefragt, ob ich es für angemessen halte, dass ein Beamter meines Ranges am Kaplan-Protest teilnimmt, auf Kundgebungen von Akademikern und Fachleuten für psychische Gesundheit spricht und Meinungen zu Gesetzen im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit und medizinischer Ethik äußert. Ich erklärte meinem Vernehmer, dass ich als Intellektueller, Arzt, Universitätslehrer und Therapeut das publizistische Schreiben neben meinem akademischen Schreiben als einen Teil meiner Berufung betrachte. Ich fügte hinzu, dass meine Veröffentlichungen mit dem Schutz der Rechte des Einzelnen zusammenhängen, und dass ich nicht die Absicht habe, mit dem Schreiben und der Äußerung meiner Meinung aufzuhören. Ich erklärte dem Vernehmungsbeamten, wie psychische Gesundheit mit Demokratie zusammenhängt und welchen Unterschied es zwischen Aufstachelung und intellektueller Meinungsbildung gibt, zwischen Verfolgung, Patriotismus und Heimatliebe. Das Gespräch war gleichzeitig komisch und verwirrend.

Einer der absurdesten Momente des Verhörs ereignete sich, als der Ermittler feststellte, dass ich Netanyahu mit Hitler verglichen hätte. Ich antwortete, dass ich so etwas noch nie getan habe, schließlich bin ich ja auch als Historiker ausgebildet. Der Ermittler zeigte mir dann die Schlagzeile eines angeblich von mir verfassten Artikels: „Netanjahus Wahnsinn und Distanzierung erinnern an die Zeugenaussagen aus dem Bunker von 1945“. Er stammte jedoch nicht von mir, sondern war lediglich der Hinweis der Redaktion auf einen Artikel des Haaretz-Kolumnisten Uri Misgav.

Es war ein Gespräch von der Art, über die ich in meiner Forschung zur Geschichte der Psychoanalyse unter totalitären Regimen in den 1930er und 1940er Jahren studiert und geschrieben habe. Es wurde mir untersagt, den Inhalt des Gesprächs aufzuschreiben oder anderweitig aufzuzeichnen, und ich habe keine Kopie des Protokolls erhalten, das ich nur im Falle der Einleitung eines Disziplinarverfahrens bekomme. Als ich den Vernehmungsbeamten fragte, ob er kürzlich ähnliche Befragungen durchgeführt habe, hielt er inne und antwortete dann: „Ich hatte vor ein paar Tagen jemanden hier. Er hat in den sozialen Medien ein Bild von Entführten mit einer palästinensischen Flagge gepostet. Sie, Herr Doktor, sind natürlich eine andere Geschichte. Sie sind offensichtlich ein Mann, der sein Land liebt. Ich glaube nicht, dass Sie sich Sorgen machen müssen.“
Mir scheint jedoch, dass diese kurze Mitteilung von der Heimatfront, als höchst beunruhigend zu bewerten ist.

Dr. Eran Rolnik
Facharzt für Psychiatrie
Lehr-Psychoanalytiker (IPV)

Reaktionen

Aufgrund dieses offenen Briefes haben (Stand 11.11.2023) nach von Rolnik übermittelten Informationen sowohl die Israelische Ärztekammer als auch acht psychoanalytische Gesellschaften des Landes das politische Verhör scharf verurteilt und verlangen eine unverzügliche Untersuchung des Vorgangs sowie die Übernahme der Verantwortung durch die dafür verantwortlichen Staatsbeamten. In der Tageszeitung Haaretz erschienen drei Reportagen, ein Leitartikel und mehrere Leserbriefe zum Thema.