„Es ist wichtig, dass sich deutungsmächtige Akteur*innen eindeutig positionieren.“

Ein Interview von Felix Schoppmann (Frankfurt) mit Dr. Sebastian Winter über das Erstarken rebellisch-autoritärer Mentalitäten, deren Auswirkungen auf Organisationen und Interventionsmöglichkeiten.

PD Dr. Sebastian Winter lehrt im Studiengang MA Soziologie an der Universität Hannover, ist Research Fellow an der IPU Berlin mit einem Forschungsprojekt zu rechtsextremen Jugendbünden und arbeitet als Bereichsleitung „Demokratieförderung“ am ISS e.V. in Frankfurt a. M. Er ist Mitherausgeber der Zeitschriften „Freie Assoziation. Zeitschrift für psychoanalytische Sozialpsychologie“ und „Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung“. Kontakt:

FS: Lieber Herr Winter, da Sie aufgrund Ihrer unterschiedlichen Tätigkeiten verschiedene Einblicke in die gesellschaftlichen Entwicklungen gewinnen, möchte ich mit einer breit angelegten Frage beginnen: Wie haben sich nach Ihrer Einschätzung die Diskurse auf politischer Ebene, aber auch in Organisationen und Institutionen, in den letzten Jahren verändert?

SW: Es lässt sich beobachten, dass demokratieablehnende Positionen an Deutungsmacht gewinnen. Regional nicht überall gleich stark, aber insgesamt doch erheblich.  Während es vor einigen Jahren noch hieß, dass rechtsextreme Mentalitäten zwar keineswegs verschwunden seien, sondern sich am „Stammtisch“ tradierten und entsprechende Äußerungen in der politischen Öffentlichkeit aus guten Gründen mehr oder weniger  tabuisiert gewesen seien, so ist diese auch zuvor schon fragile Trennung mittlerweile nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es gibt Bereiche der politischen Öffentlichkeit, in denen menschenverachtende, verschwörungstheoretische, antisemitische und geflüchtetenfeindliche Positionen normal geworden sind und wo die Gegenposition als „wokes Spinnertum“ oder „hypermoralisches Gutmenschentum“ angesehen wird. Ich empfinde das als sehr bedrohlich. Die aktuellen Wahlergebnisse und -prognosen sind erschreckend, aber sie spiegeln nur wider, was mittlerweile als „sinnvoll“ oder „sagbar“ verstanden wird.

FS: Hat sich mit dieser Verschiebung der Diskurse auch die Erscheinungsform des Antisemitismus verändert?

SW: Wenn wir die aktuellen Diskussionen um den Rechtsextremismus verfolgen, wird oft der Rassismus thematisiert. Aber auch der Antisemitismus, der etwas anderes ist als der Rassismus, hat zentrale Bedeutung für autoritäre Mentalitäten, die anschlussfähig für den Rechtsextremismus sind. Und es ist wichtig, seine Erscheinungsformen, aber auch seine ideologische und psychodynamische Funktionsweise zu verstehen. Es gibt aktuell eine Gemengelage unterschiedlicher Erscheinungsformen des Antisemitismus: Es gibt den mörderischen Judenhass von Rechtsextremen und Islamisten, es gibt viel subtiler aber auch einen scheinbaren Anti-Antisemitismus, der den Antisemitismus auf „die Muslime“ oder „die Woken“ projiziert. Das trifft zwar den wahren Kern des islamistischen, antirassistischen und „linken“ Antisemitismus, aber die Imaginationen haben einen projektiven Überschuss, der das Bild schief werden lässt. Diese Projektion des Antisemitismus ermöglicht es, sich nicht mit dem eigenen Antisemitismus auseinandersetzen zu müssen. So erscheint dann auch die deutsche Geschichte als rein und der „Schuldkult“ wird verworfen. Es gibt zudem den einflussreichen israelbezogenen Antisemitismus, der darauf beharrt, dass das Ressentiment gegen „die Zionisten“ nichts mit Judenfeindschaft zu tun habe, was ihn für verschiedenste politische Lager anschlussfähig macht. Die daneben wichtigste und oft damit einhergehende Erscheinungsform des Antisemitismus in den demokratiefeindlichen Bewegungen der letzten Jahre in Deutschland sehe ich in Verschwörungserzählungen. In ihnen werden nicht immer direkt Juden genannt. Aber wenn gegen „die Eliten in Berlin“ gewettert wird oder gegen die Außerirdischen vom Sirius, die als Reptiloiden auf die Erde kommen und uns hier heimlich beherrschen, oder gegen George Soros, der die europäischen Völker knechten und austauschen wolle, oder eben auch direkt gegen die „jüdische Weltverschwörung“ dann zeigen sich bei der Analyse dieser  Imaginationen strukturhomologe Psychodynamiken, die ihnen unterliegen, von diesen Wahrnehmungsschablonen geleitet werden und ihre affektive Attraktivität ausmachen.  Früher oder später finden Verschwörungsmentalitäten immer den Antisemitismus, ihr Urbild.  Die verschwörungstheoretische Erscheinungsform des antisemitischen Ressentiments verbindet rechtspopulistische oder rechtsextreme Bewegungen mit der Querdenkerbewegung, aber auch mit esoterischen und anthroposophischen Milieus. Es ist eine – in den Worten Alina Brehms – spezifische „affektive Haltung“ (Brehm 2021), die ein Stück weit unabhängig von ihrer konkreten Erscheinungsform existiert und in der Judenfeindschaft zu sich selbst kommt.

FS: Also eine Art grundlegender Psychodynamik, die sich sowohl im Antisemitismus als auch in den Verschwörungserzählungen zeigt?

SW: Ja. Um diese Haltung zu analysieren, ist der Begriff der „Schiefheilung“ von Sigmund Freud ein geeignetes Instrument. Mit diesem Begriff hat er, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, beschrieben, warum Massenphänomene mit ihren Gemeinschafts- und Feindbildungsprozessen so eine Sogwirkung haben können, nämlich indem sie „Schiefheilungen mannigfaltiger Neurosen“ (Freud 1921, S.132) feilbieten (vgl. Busch, C., Gehrlein, M. & Uhlig, Tom D. (2016)). Sie versprechen ein Heil, das scheinbar von all den Konflikten des Subjektseins und dem Unbehagen in der Kultur erlöst. Die einzelnen Menschen mit ihren je eigenen, aber auch gesellschaftlich vermittelten Ängsten und Nöten treffen auf dieses ideologische vergemeinschaftende und angstabwehrende Angebot, bspw. in Form einer „Volksidentität“ und können es sich aneignen oder auch nicht. Seine Heilsverheißung verspricht psychodynamisch über die narzisstisch-idealisierende Besetzung des Führers und die Identifikation untereinander eine erlösende Grandiosität differenzloser Kameradschaft zu erschaffen, ohne drückendes Über-Ich und störendes Begehren. Aber: Das funktioniert nur um den Preis permanenter Abwehrmechanismen. Alles, was da nicht passt, darf nicht wahrgenommen werden. Daher gehört zur Heilsverheißung auch immer die Feindbildung als Container des unbewusst Gemachten, das nicht sein soll. Das Über-Ich wird antisemitisch projiziert („heuchlerische Hohepriester des Schuldkults“…), Begehren eher rassistisch („nordafrikanische Vergewaltiger“…). Nur so sind die erstrebten Gefühlsqualitäten von Ganzheit, Echtheit und Authentizität als show aufrechtzuerhalten.

FS: Kann man das Erstarken solcher Haltungen also auch als psychische Reaktion auf die multiplen Krisen der letzten Jahre verstehen, denen unsere Gesellschaft ausgesetzt war und ist?

SW: Da müssen wir verschiedene Abstraktionsebenen unterschieden. Mit Freud kann man vom allgemeinen „Unbehagen in der Kultur“ sprechen. Auf einem sehr allgemeinem Abstraktionslevel lebt niemand in dieser Gesellschaft aufgrund der notwendigen Internalisierung der Autorität und ihrer Wendung zur mündigen Selbstbeherrschung in einem Zustand reinen Wohlbefindens. Jenseits dieser ganz allgemeinen Ebene kann man das Unbehagen aber historisch ausbuchstabieren. Mit Blick auf die aktuellen Zustände lohnt sich dazu eine Relektüre von Stavros Mentzos, der beschrieben hat, was passieren kann, wenn gesellschaftliche und institutionelle Abwehrmechanismen erodieren (Mentzos 1976). Das betrifft kleinere Organisationen, aber auch große gesellschaftliche Institutionen wie die patriarchale Ehe oder den Sozialstaat.

Nach Mentzos befrieden institutionelle Abwehrmechanismen grundlegende Konflikte der Subjektivität und Intersubjektivität um Autorität und Abhängigkeit oder um Macht und Ohnmacht – beispielwiese in Form einer Harmonie versprechenden (und Gewalt produzierenden) Geschlechterordnung. Wenn diese Ordnungen schwanken, und das passiert nun einmal in einer dynamischen Gesellschaft permanent und manchmal beschleunigt, dann wird eine Suchbewegung freigesetzt. Die Desillusionierung kann emanzipatorisch gewendet werden und es kann Raum für Neues entstehen, aber es kann auch versucht werden, identitär an dem Untergehenden festzuhalten. Dann entstehen Formen von ideologischen Angeboten, die sich für „traditionell“ halten, tatsächlich aber als Reaktion auf die Entwicklung auch selbst etwas Neues, antimodern Modernes sind.

FS: Wenn eine solche Heilsverheißung und eine Suche nach einem problemfreien affektiven Wohlbefinden besteht, bedeutet das nicht auch, dass das für diverse Milieus und Wähler*innenschaften attraktiv sein kann?

SW: Ja, niemand ist davor per se gefeit, auch nicht Psychoanalytiker*innen und Rechtsextremismus-Forscher*innen. In unserem Forschungsprojekt an der IPU beobachten wir sehr genau unsere eigenen emotionalen Reaktionen auf das Material der rechtsextremen Jugendorganisationen, das wir analysieren, und da sehen wir die ganze Bandbreite an Gefühlen in uns.

FS: Wie sollten sich Ihrer Meinung nach Organisationen und Vereine mit diesen Entwicklungen und Veränderungen auseinandersetzen um ihre bestehenden demokratischen Strukturen zu schützen?

SW: Erstens muss benannt werden, was an demokratiegefährdenden Tendenzen im Raum ist. Und es muss richtig benannt werden. Es hilft wenig, allgemein zu bleiben oder undifferenziert von „Links- und Rechtsextremismus“ zu reden. Der Gegenstand muss jeweils als das benannt werden, was er ist, z.B. als Rassismus oder Antisemitismus oder Gegnerschaft zu einer pluralen Demokratie oder Befürwortung einer homogenen Volksgemeinschaft. Das konkrete Benennen wird nicht ohne Konflikt abgehen. Niemand hört gerne, dass eine Aussage von ihm oder ihr beispielsweise antisemitisch gewesen sei. Obwohl dieses Hören ja die Voraussetzung für eine Einstellungs- und Verhaltensänderung wäre – aber eben auch schon die Folge einer Abwendung von einer projektiven, erfahrungsunfähigen Haltung. Es ist sinnvoll, Konflikte eher hervorzurufen, als sie zu bemänteln. Von Churchill gibt es das schöne Zitat: „Man kann Probleme nicht dadurch lösen, dass man sie auf Eis legt.“ Und auch die Psychoanalyse weiß, dass die Konflikte zur Durcharbeitung in der analytischen Situation zunächst wiederholt werden müssen.

Zweitens: Man muss dagegen Stellung beziehen. Es ist eine Erfahrung aus der kommunalen Demokratieförderung, wie wichtig es für die politische Raumkultur ist, dass sich gerade deutungsmächtige Akteur*innen (z.B. Bürgermeister*innen oder Sportvereinsvorsitzende) nicht neutral verhalten, sondern öffentlich positionieren und von Anfeindungen Betroffene unterstützen.

Und zum dritten: Es ist wichtig, wenn überhaupt ein Gespräch mit den demokratieablehnenden Akteur*innen möglich ist, z.B. im Rahmen von Jugendarbeit, nicht auf der Ebene ihrer ressentimentsgetriebenen Ideologie zu diskutieren. Sondern stattdessen zu versuchen, an die darunterliegende Malaise zu kommen, was nicht einfach ist. Also nicht auf der von Ressentiment ausgeformten Ebene zu bleiben, sondern über die von ihr verdeckten tatsächlichen Schwierigkeiten zu sprechen.

FS: Sie haben erwähnt, wie wichtig es ist, die Konflikte offen anzusprechen. Wie schätzen Sie die Bedeutung und Folgen dieser Auseinandersetzungen für Organisationen und Vereine ein?

SW: Es bringt viel Widerstand hervor. Alte Glaubenssätze und Identitäten der Organisationen müssen in Frage gestellt werden, wie z.B. „So etwas gibt es bei uns doch nicht.“ Das zu erschüttern, wird, wie in der Psychoanalyse, Widerstand hervorgerufen. Deshalb macht man sich damit nicht beliebt, wenn man in einer Organisation als eine Art Symptomträger*in, welche die Abwehrmechanismen perforiert, auf das angeblich Inexistente hinweist oder es sichtbar macht. Dieses Unterfangen erfordert Mut.

FS: Wenn Sie von Mut sprechen. Der Staatsrechtler und Politiker Carlo Schmid, einer der geistigen Väter des Grundgesetztes, sprach 1948 vom Mut zur Intoleranz denen gegenüber, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.

SW: Ich finde die Formulierung „Mut zur Intoleranz“ spannend. Ich will daneben den Begriff der „Ambiguitätstoleranz“ stellen. Die Betonung der Ambiguitäts- oder – bezogen auf das intrasubjektive Konflikterleben – Ambivalenztoleranz ist in der politischen Bildungsarbeit als Zielvorstellung etabliert (Vgl. bspw. Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Hrsg.) (2013, 2017, 2019). Es geht darum, mit unterschiedlichen Perspektiven und Widersprüchen leben zu lernen – und sie nicht identitär, ganzheitlich abzuwehren. Der Knackpunkt ist aber, dass es auch eine Ambivalenz von Ambivalenz und Entschiedenheit gibt. Auch diesen Widerspruch gilt es nicht zu verleugnen. Wenn man die Ambivalenztoleranz verabsolutiert, kann dies zu einer Haltung führen, in der alle Positionen und Strebungen als gleichwertig erscheinen und das Ringen um das Richtige hinter dieser „Toleranz“ zurücktritt. Manchmal ist es aber notwendig, entschiedene Gegenpositionen zu beziehen und beispielweise antisemitische Aussagen und Taten weder zu dulden noch gar unter dem Vorzeichen einer Perspektivübernahme zu rechtfertigen.

FS: Bevor wir zum Ende des Interviews kommen: Gibt es noch etwas, was Sie bisher nicht gesagt haben aber doch für wichtig erachten?

SW: Ich würde gerne noch etwas zu den Verschwörungsmentalitäten nachtragen. Es gibt in der psychoanalytischen Sozialpsychologie eine lange Tradition, vom autoritären Charakter zu sprechen. Was in dem Konzept auch angelegt ist, aber manchmal in der Rezeption untergeht, ist, dass der autoritäre Charakter nicht nur die Herrschaft unterwürfig verehrt, sondern dass er auch etwas Rebellisches haben kann. Erich Fromm hat zwischen dem rebellisch-autoritären und dem konservativ-autoritären Charakter unterschieden (vgl. Fromm 1930). Und was wir im Moment mit den demokratiefeindlichen Bewegungen erleben, das hat mehr mit dem rebellisch-autoritären Charakter zu tun als mit dem konservativen, der lediglich nach Stabilität und Verantwortungslosigkeit strebt. Das aktuelle Protestgeschehen und die Wahlkämpfe sind aber viel mehr geprägt von einer Selbstinszenierung als „Freidenker“ und „Freiheitskämpfer“ gegen „die da oben“, der sich traut, gegen Normen und Tabus zu verstoßen. Gehorsam ist gerade das, was sie „den Schlafschafen“ vorwerfen, die sich von der Weltverschwörung ausnutzen lassen würden. Antisemitismus ist, anders als der Rassismus, eine Rebellionsideologie, die vermeintlich gegen Herrschaft aufbegehrt. Das zu verstehen ist wichtig, um zu erklären, warum er keineswegs nur in den üblichen rechtsextremen Milieus anschlussfähig ist, sondern sehr viel breiter in der Gesellschaft und auch in „linken“ Milieus.

FS: Ich danke Ihnen sehr herzlich, Herr Winter!

Literatur:

Brehm, A. (2021). „Affektive Haltungen. Zur Rekonstruktion der Genese affektiver Dispositionen als Potentiale für politische Handlungen“ Vortrag auf der Tagung der DGfE-Kommission Psychoanalytische Pädagogik „Affekt – Gefühl – Emotion. Zentrale Begriffe Psychoanalytischer Pädagogik?“ am 1.10.2021.

Busch, Charlotte, Gehrlein, Martin & Uhlig, Tom D. (Hrsg.) (2016). Schiefheilungen. Zeitgenössische Betrachtungen über Antisemitismus. Wiesbaden: Springer VS

Freud, Sigmund (1921): Massenpsychologie und Ich-Analyse. StA IX, S. 61–134.

Fromm, Erich (1930): Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische

Untersuchung. Stuttgart: DVA 1980, S. 248f.

Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (Hrsg.) (2013, 2017, 2019): Widerspruchstoleranz. Ein Theorie-Praxis-Handbuch zu Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit (Bd. 1-3). Berlin: KIgA e.V.

Mentzos, Stavros (1976): Interpersonale und institutionalisierte Abwehr. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.