Junkers, Gabriele (Hrsg.) (2022): Psychoanalyse leben und bewahren. Für ein kollegiales Miteinander in psychoanalytischen Institutionen.

Gießen: Psychosozial Verlag

Rezensentin: Christina Huber, Freiburg

(Die Rezension erscheint demnächst in der Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis)

Um es vorweg zu nehmen: Es handelt sich um ein Buch, das ich mit leidenschaftlichem Interesse gelesen habe – wirklich spannend, weil in den meisten, vermutlich in allen psychoanalytischen Organisationen bestehende brisante und existentielle Themen aufgegriffen werden, und hoch aktuell nicht zuletzt auch in all den gegenwärtigen berufspolitischen Turbulenzen in Deutschland.
Tucholsky schrieb 1930: „ … die Seele des Vereins ist der Knatsch.“ Auch wenn dieses Zitat aus einer Satire des Autors über einen „Verein zur Züchtung stubenreiner Gebrauchsdackel“ stammt, so kennen doch auch alle Mitglieder psychoanalytischer Organisationen die allgemeinen Klagen über ein schwieriges und oft auch verletzendes Miteinander. ‚The elephants in the room‘, über die vielfach so laut geschwiegen wird, sie werden auf diese Weise zu oft zu Mammuts, die dann einfach nicht aussterben können.
Tatsächlich scheint es bisher eher wenig wissenschaftliche Forschung zu psychoanalytischen Institutionen und ihrer an Spaltungen, Ausschlüssen und Austritten reichen Geschichte zu geben – und wenn, dann eher aus vertikaler Perspektive, also zum Verhältnis der verschiedenen Generationen untereinander, als aus der horizontalen, dem Verhältnis der Peers in der Gruppe zueinander.

Zum Inhalt des Buches: Die Idee zu diesem Band entstand, so die Herausgeberin Gabriele Junkers im Vorwort, „unter dem Eindruck persönlicher wie professioneller drastischer Kontaktdeprivation in der Pandemie“ (S.7), die ein Nachdenken über das psychoanalytische Miteinander geradezu angefeuert habe. Die Krise, so schreibt sie, hat Entwicklung beschleunigt und den Mut zu bisher Ungedachtem gefördert.
So ist eine Sammlung von Aufsätzen internationaler Autorinnen und Autoren entstanden, die – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven – über psychoanalytische Institutionen, das Unbehagen an ihnen, deren Aufgaben und Probleme schreiben. Alle haben langjährige Erfahrungen mit der institutionellen Arbeit innerhalb der der IPA oder deren Gruppierungen und berichten davon. Sie stellen auch Überlegungen an zur Verbesserung der Zusammenarbeit und des kollegialen Miteinanders. Dabei ist es das explizite Anliegen der Herausgeberin, dass die gesammelten Arbeiten als „hilfreiches Drittes“ (S.9) für die Diskussion der Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker untereinander, insbesondere auch für das Gespräch zwischen den Generationen, dienen. Gerade nicht dienen sollen sie, das betont Junkers, einer Suche „aus einer Position der Gewissheit nach einem Schuldspruch in der Anklage“ (S.9).

Den Anfang macht Martin Teising, ehemaliger Vorsitzender der DPV, mit einem Aufsatz zur Institutionalisierung der Psychoanalyse beginnend mit kursorischen Anmerkungen zur Entwicklung der psychoanalytischen Bewegung seit Gründung der IPV 1910 in Nürnberg. Diese schien Freud damals notwendig, um der „Isolation (der Psychoanalyse) von der akademischen Welt der Universitäten entgegenzuwirken“ (S.11). Von diesem Ziel ist die Psychoanalyse heute sicher weiter weg denn je.
Teising erinnert nochmal an die heute im Rückblick sehr bedeutungsvolle politische Entscheidung Ende der 60er Jahre in Deutschland, die von der Psychoanalyse abgeleiteten Verfahren der analytischen und der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie (dafür erfunden!) in den Leistungskatalog der Krankenversicherung aufzunehmen  - mit allen bekannten Auswirkungen und Problemen für die Psychoanalyse bis hin zur neuen Weiterbildungsordnung für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.
Vielleicht darf man so weit gehen, diese erzwungenen und existenzbedrohenden Veränderungen in der Ausbildung zum Psychoanalytiker als Trauma, das der psychoanalytischen Kultur zustößt, als Zivilisationsverlust mit noch völlig unabsehbaren Folgen für die Psychoanalyse in Deutschland aufzufassen (vgl. Lear, 2007). 
Teising macht sich Gedanken zur Funktion und zu Grundlagen der Autorität in Institutionen, greift dabei Hannah Arendt’s wichtige Unterscheidung von ‚Autoritarismus‘ und ‚Autorität überhaupt‘ auf. Letztere folge der Anerkennung von Lebenstatsachen, müsse Freiheit begrenzen, um sie zu sichern. Und er macht keinen Hehl aus seiner eigenen Haltung: „Die Weigerung (in der Institution) selbst Verantwortung zu übernehmen und Macht auszuüben, wirkt sich auf die Generativität aus, es gibt weniger Nachwuchs, damit wächst die Gefahr verkrusteter Strukturen“ (S. 15).
Was sind nun die Besonderheiten und die daraus resultierenden Probleme psychoanalytischer Institutionen aus seiner Sicht?
Neben der Verschränkung und mangelnden Trennung von persönlich-emotionaler und sachlich-formaler Ebene, die es so in anderen Organisationen nicht gebe, nennt Teising vor allem die aus der Idealisierung der Psychoanalyse - der Psychoanalytiker und der Institutionen der Psychoanalyse - entstehende Enttäuschung und Enttäuschungswut mit den entsprechenden massiven Entwertungen als Grundlage vieler institutioneller Schwierigkeiten.
Aus seinen Bemerkungen zu den psychoanalytischen Instituten als Orten der Weitergabe der Psychoanalyse sei exemplarisch die wichtige Beobachtung herausgegriffen, dass die psychoanalytische Ausbildung gegenwärtig eine Akzentverschiebung erfährt von einem Raum auch zur Sinnsuche hin zur Vorbereitung auf den Broterwerb, also zur Berufsausbildung.
Er fragt außerdem: Gibt es einen nicht aufzulösenden immanenten Widerspruch von den Essentials der Psychoanalyse (das dynamisch Unbewusste) und psychoanalytischer Organisation, der ausgehalten werden muss?

Serge Frisch, unter anderem früherer EPF-Präsident nennt in seinem Artikel - Der Psychoanalytiker und seine Gesellschaft - unterschiedliche Aspekte, unter denen er sich Gedanken zur „Malaise“ (S.31) psychoanalytischer Institutionen macht und hebt besonders die „intramurale Ausbildung der Analytiker“ (S. 32) hervor, die in der Regel in der Gesellschaft bleiben, in der sie ausgebildet wurden, und so in gewisser Weise „Gefangene ihrer ‚Familie‘ “ (S.34) seien. Er denkt über „Autorität und Macht in analytischen Institutionen“ (S. 36) nach und betont, wie entscheidend es ist, die Vergangenheit der Institution zu integrieren (vgl. S.38), um eine Zukunft entwerfen zu können.
Unzureichend oder gänzlich unanalysierte Übertragungsreste, gewachsen auf dem Boden von Ödipuskomplex und Geschwisterkomplex (ein Begriff von Rene Kaes, s. u.)
würden unweigerlich innerhalb des institutionellen Lebens wirksam und erschwerten oder verhinderten ein konstruktives Miteinander. Folge sei „eine schleichende Melancholie“, mündend in dem – allen sicher vertrauten - Credo, die Psychoanalyse habe keine Zukunft (vgl. S. 42).
Ziel, oder vielleicht besser Utopie, sei, findet er, die Erschaffung eines Raumes, in dem ohne Tabus gesprochen werden könne (vgl. Churcher).
Da wir alle als Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker auf die Gruppe angewiesen seien, wollen wir nicht eine Verarmung unseres psychoanalytischen Denkens riskieren, empfiehlt er ausdrücklich den Blick von außen - Institutsberatung durch Dritte - wo nötig.

Im ausführlichsten Aufsatz des Buches - Containment und Weiterentwicklung einer bewahrenden Institution – eine Herausforderung für Psychoanalytiker - kritisiert Gabriele Junkers, dass sich viele Psychoanalytiker in den bestehenden Institutionen nicht aufgehoben fühlen und insbesondere eine missglückende Kommunikation im kollegialen Miteinander beklagen. Und sie fragt: Wie können wir konstruktiv zusammenarbeiten?
Aus ihrer Erfahrung umreißt sie zunächst typische Wünsche, Ängste und Konflikte auf dem Lebensweg eines Psychoanalytikers: Der Ausbildungswunsch als getragen von der eigenen Geschichte und frühen Wunden, aber auch aus der Hoffnung auf Realisierung möglicher Idealbilder für das Selbst. Junkers spricht von einer „gewissen Schmerzfähigkeit“ als Arbeitsinstrument des Analytikers (vgl. S. 57). Dann die Erfahrung der Ausbildung zwischen der Notwendigkeit zur Erarbeitung einer wirklich eigenen Stimme und der Gefahr eines falschen professionellen Selbst. Der analytische Alltag nach Abschluss der Ausbildung mit dem Hineinwachsen in die Organisation, die von bewussten und unbewussten Haltungen und Übertragungsresten durchwoben ist. Schließlich der schwierige Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit mit der Gefahr der Verleugnung.  
Diese Überlegungen veranschaulicht Junkers mit kurzen, teils drastischen Vignetten.
Am konkretesten von allen Beiträgen des Buches und sehr umfassend benennt sie Besonderheiten und Schwächen der analytischen Kultur in unseren Institutionen und gibt anschließend Vorschläge, wie die Psychoanalyse aus ihrer Sicht zu bewahren und weiterzuentwickeln sei. Exemplarisch nenne ich hier einige der von ihr aufgezählten Probleme: die Neigung zur Idealisierung mit ihrer Gefahr der Enttäuschung und Entwertung, ein unrealistisches Verhältnis zur Zeit (zum Beispiel die Prokrastination institutioneller Entscheidungsfindung), eine passiv-rezeptive Orientierung und Anpassungsbereitschaft, Konfliktvermeidung, Missbrauch der analytischen Haltung für institutionelle Kommunikation und Missachtung von Vertraulichkeit. Und sie zitiert Kernberg, der einen Mangel an konsistenter Sorge für das Ausbildungserleben von Kandidaten bemängelt.
Beschäftigt hat mich in diesem Zusammenhang Junkers‘ Beobachtung, dass Psychoanalytiker ältere Kollegen, deren analytische Funktion durch Krankheit angegriffen ist, eher schützen, als Kandidaten, die durch einen professionell ungenügenden Psychoanalytiker mögliche Verletzungen und Retraumatisierungen erleiden können. Trifft das zu? Und was bedeutet das dann?
Ihre Empfehlungen zum Umgang – das betont sie sehr – gehen über eine analytische Reflexion der Probleme hinaus und erfordern weitere Fähigkeiten. Zum Beispiel nennt sie hier die kontinuierliche Arbeit am Rahmen der Gruppe, wenn nötig auch mit professioneller Hilfe zur Weiterentwicklung der Institution.
Wenn ich den Tenor von Junkers‘ Empfehlungen richtig auffasse, dann möchte sie im Grunde vor allem ausdrücken, dass der Rückzug in den analytischen Raum und eine aus ihrer Sicht missverstandene analytische Haltung auf die Abwehr von Ängsten vor schmerzhaften Fakten, Konflikten und „mangelnde social skills für ein Auftreten im öffentlichen Raum“ (S. 79) zurückgehen können.

Harriet L. Wolfe, derzeit IPA-Präsidentin, greift im nächsten Beitrag - Der Geschwisterkomplex und die Geschwisterbindung - ein Konzept des französischen Psychoanalytikers und Organisationsberaters Rene Kaes auf. Vor dem Hintergrund von dessen Auffassung der Gruppe als einem von allen Mitgliedern geteilten Raum möchte er mit dem Begriff ‚Geschwisterkomplex‘ eine Grundlage für das Verständnis regressiver Kräfte in Institutionen und ein Gerüst für entsprechende Interventionen anbieten. Sein Begriff ‚Geschwisterbindung‘ spiegele dagegen die Hoffnung wider, dass psychoanalytische Organisationen kooperativer, transparenter, funktionaler und demokratischer werden (vgl. S.99).
Wolfe geht es um die Bedeutung und Sichtbarwerdung der Psychoanalyse im Verhältnis von innerer und äußerer Realität: um die Rolle der Kultur, insbesondere von Unterschieden in der Bedeutungsverleihung in verschiedenen kulturellen Kontexten und deren Anerkennung; die Ausweitung der psychoanalytischen Perspektive auf gesellschaftliche Prozesse; ihr Bestreben in der IPA psychoanalytisches Denken öffentlich präsent werden zu lassen. Ein psychoanalytischer Ansatz könnte, so hofft sie, dazu beitragen, die Verleugnung der Auswirkungen unmenschlicher Politik aufzuheben. Beispielhaft nennt sie die Trennung von Eltern und Kindern an Ländergrenzen oder das Zurückschicken von Flüchtlingen in von Gewalt geprägten Ländern (S. 101). An dieser Stelle frage ich mich aber, ob eine notwendige psychoanalytische Sichtweise nicht doch auch Gefahr laufen kann, soziologische und wirtschaftliche Perspektiven zu stark auszublenden?
Anhand von zwei Organisationskrisen, die sie im Center for Psychoanalysis in San Francisco erlebt und rückblickend reflektiert hat, konkretisiert Wolfe die Bedeutung der ‚Geschwisterbeziehungen‘ in Zusammenhang mit der Verschränkung von äußerer und innerer Realität.
Etwas problematisch scheint es mir zu sein, wenn sie schreibt, dass der Psychoanalytiker und sein Umfeld „auf allen Ebenen sinnvoll in Form von Geschwister- und Familienbeziehungen konzeptualisiert werden kann“ (S. 100). Oder sehr einfach formuliert: Psychoanalytische Institute sind keine Familien, sondern Arbeitsgruppen. Zumindest sollte die Entwicklung doch dahin gehen.
Wichtig und bisher vielleicht zu wenig fokussiert finde ich ihren Blick auch auf die horizontale Ebene der Organisation.

Stefano Bolognini, ehemaliger IPA-Präsident, verwendet in seinem Text -  Gedanken zur institutionellen Familie des Analytikers und der Vorschlag für eine ‚vierte Säule‘ in der Ausbildung - den Begriff der ‚institutionellen Familie‘, in der „starke emotionale Faktoren, die von den Resten der – aufgelösten oder auch unaufgelösten – Übertragungen herrühren“ wirksam werden (S. 121). In diesen sieht er die Ähnlichkeit psychoanalytischer Organisationen mit dem Leben in einer Großfamilie oder einem Stamm. Und er unterscheidet zwischen den beiden inneren Familien des Analytikers – der realen Familie der Kindheit und der institutionellen in der Organisation. Zu vermeiden gälte es, dass die besonders problematischen Aspekte von Übertragungen mit ihrer ganzen infantilen Wucht auf institutioneller Ebene wieder auftauchen und neue, bessere Wege der Zusammenarbeit durch negative und unbewusste Einwirkungen sabotieren.
Dafür notwendige Entwicklungsaufgaben im Ausbildungsprozess seien die Entidealisierung der Psychoanalyse und der Psychoanalytiker – im Bild einer Schulklasse von Kandidaten, die nie zu Ende geht, skizziert er die entsprechende Gefahr - und die Öffnung der analytischen Dyade zur Realität der Gruppe. In einem weiteren Bild: Zu wünschen sei die Entwicklung der Freude am Spiel mit den Freunden im Hinterhof.
Und – das ist sein originärer Beitrag – eine ‚vierte Säule‘ der Ausbildung, der „Erwerb der Fähigkeit, mit Kollegen zusammenzuarbeiten und sich in den wissenschaftlichen Austausch und das institutionelle Leben einzubringen, so dass daraus eine permanente konstitutive Funktion der psychoanalytischen Identität entsteht“ (S. 132). Konkret zum Beispiel in Working Parties auf Kongressen, Intervision für Kandidaten, postgraduierten Angeboten…

Philip Stokoe ist ein britischer Psychoanalytiker und Organisationsberater. Neugier, der Realität ins Auge sehen und der Widerstand gegen die Strukturierung psychoanalytischer Organisationen, so der Titel seines Beitrags. Auf kleinianisch/bionianischem Boden hat er ein sehr strukturiertes Modell (psychoanalytischer) Organisationen entwickelt. Zwei Schlüsselkonzepte sind ‚k‘ (knowledge, Bion) oder Neugier, die er als Trieb auffasst. Sie sei grundlegend für die Fähigkeit, sich der Realität zu stellen, und die kontinuuierliche Bewegung zwischen paranoid-schizoider Position und depressiver Position (Klein, Britton). Herrscht in einer Gruppe ein fundamentalistisch psychischer Zustand – so nennt Stokoe die paranoid-schizoide Position – vor, dann fehle die Fähigkeit über das Denken nachzudenken (vgl. S.145), es herrsche Angst, es gäbe nur ideal oder böse und Schuldzuweisung. Dem stellt er ein „healthy organisation modell“ gegenüber, wo Ungewissheit ertragen und Raum für eine dritte Position zur Reflexion geschaffen werden kann. Konkreter benennt er dann Führungsstrukturen, mit denen sich diese immer wieder durch Angst gefährdeten Fähigkeiten oder Strukturen fortlaufend herstellen lassen. Zum Beispiel eine schriftlich festgehaltene Hauptaufgabe der Institution, oder eine Kultur des wohlwollenden Nachfragens.
Organisatorische Dysfunktionen in psychoanalytischen Gruppen, zum Beispiel die Lösung eines Problems durch den Ausschluss eines Mitglieds in der Annahme, dass Probleme ausschließlich auf Persönlichkeiten zurückzuführen seien, oder das Funktionieren einer Gruppe im Grundannahmenmodus Kampf/Flucht (Bion) in der Annahme, dass jemand ausserhalb der Gruppe Angst hervorruft, nennt er als Beispiele, die eine fatale Vermeidung und Verleugnung der Realität nach sich zögen.

Zu einem kürzeren Beitrag von M.Miguel Leivi, einem Psychoanalytiker aus Argentinien und ehemaligem Präsidenten der Psychoanalytischen Vereinigung von Buenos Aires: Sein Artikel Einige dunkle Seiten des institutionellen Lebens und der institutionellen Intimität gründet auf seinem Vortrag anlässlich des IPA-Kongresses 2017 in Buenos Aires. Er macht sich Gedanken über das Verhältnis zwischen Institution und Verrücktheit und betont die Doppelgesichtigkeit von (psychoanalytischen) Institutionen. Auf der einen Seite eine formale, tageslichttaugliche Struktur: Verfassung, Arbeitsregeln… Auf der anderen Seite eine schattenhafte, nächtliche Struktur, bestehend aus einem beständigen Netzwerk von Übertragungen, welche die institutionelle Intimität ausmachen (vgl. S. 171). Machtstrukturen beide, letztere gefährlicher, weil weniger transparent und weniger bewusst.

Psychoanalytische Institutionen und wie sie der Psychoanalyse helfen werden – wenn wir sie lassen. David Tuckett, unter anderem ehemaliger Präsident der EPF, hat langjärige Erfahrung in psychoanalytischen Institutionen und den Eindruck, dass diese besonders dysfunktional arbeiten.
Wie jede andere Institution stehe eine psychoanalytische Institution vor der Herausforderung, sich als Arbeitsgruppe zu organisieren. Entscheidend für eine effektive Organisation sei es, dass sie aktuelle Vorkommnisse rechtzeitig erfasst und die Fähigkeit institutionalisiert wurde, angemessen auf sie zu reagieren.

Häufiger als Vertrauen und Transparenz seien in psychoanalytischen Gruppen zum Beispiel paranoide Beziehungen zu Aussenstehenden, Entfremdung von der Institution bei vielen Mitgliedern, Geheimnisse und Cliquen und heimliche Übertretungen, von Arroganz geprägte Beziehungen zu benachbarten Berufsfeldern.
Weniger systematisch und theoriegeleitet, sondern eher deskriptiv beschreibt Tuckett hier ähnliche Probleme wie Stokoe .
In der Ödipus-Konstellation sieht Tuckett die Herausforderung für die Gruppe. Die damit einhergehenden Gefühle von Eifersucht, Rivalität, Neid, Scham, Schuld und Hass zu ertragen, die Emanzipation des Ich vom Über-Ich und Fähigkeit eine reflektierende Position einzunehmen seien Voraussetzungen für eine gut funktionierende Institution.
Auch er nennt die potentiell hilfreiche Rolle, die eine dritte Partei von außen einnehmen kann.
Schließlich gibt Tuckett interessante Einblicke in seine umfassenden institutionellen Erfahrungen in der IPA und EPF mit der Arbeit an Ausbildungsfragen und wissenschaftlichen Aufgaben.

Im letzten Kapitel - Neue psychoanalytische Gruppen entwickeln, halten und containen- beschreibt Claudio Laks Eizirik, ein brasilianischer Analytiker und weiterer ehemaliger IPA-Präsident, Aspekte seiner Arbeit, zuletzt als Leiter, im International New Groups Committee (ING) in der IPA. Seine Schilderung der aufwändigen Begleitung einer neuen Gruppe zum Status als Studiengruppe, dann als provisorische Gesellschaft bis zur Anerkennung als konstituierende IPA-Gesellschaft fand ich einerseits beeindruckend in ihrer Sorgfalt und Komplexität (vgl. S. 208f.). Halten und Containment sind seiner Erfahrung nach der Kern der Aktivität bei der Entwicklung neuer Gruppen (vgl. S. 229) Andererseits drängte sich mir auch der Eindruck auf, dass gegenseitiges, nicht nur einseitiges Lernen der neuen Gruppen von der IPA in diesem Prozess vielleicht eine noch größere Rolle spielen könnten, wenn man sich vorstellt, dass die Kollegen in den Studiengruppen mit Sicherheit besondere Erfahrungen in ihrer Ausbildung und Praxis in schwierigen politischen und sozialen Umgebungen gemacht haben.
Seine Überlegungen zu Spaltungen in psychoanalytischen Gesellschaften erläutert er an der Geschichte einer fiktiven Gesellschaft und bezieht sich dabei auch auf die beiden Arbeiten von Freud: Totem und Tabu, Massenpsychologie und Ich-Analyse.
Er zitiert Aisenstein, dass Trennung manchmal der bessere Weg sein könne, wenn Charaktere und Narzissmen unvereinbar seien.

In ihrem kurzen Ausblick verwendet Gabriele Junkers den Begriff ‚kollegiale Ethik‘, für die, neben der Formulierung klarer Strukturen und Regeln für das institutionelle Zusammenleben, als zweiter behütender Container die Fähigkeit zur Aufrechterhaltung eines kontinuierlichen Gruppengesprächs erforderlich sei. Auch sie betont an dieser Stelle die Bedeutung des Blickes von außen auf die Organisation, der entscheidend sein könne.
Eine solche kollegiale Ethik ist nach ihrer Recherche in keiner IPA-Gesellschaft explizit ausgearbeitet. Konkret schlägt sie deshalb ein Vorgehen auch für Probleme zwischen Kollegen in Anlehnung an das Procedere in der Ethikommission der DPV vor, wobei sie besonders das Instrument der Mediation wichtig findet.

Überblicke ich die verschiedenen Beiträge im Buch, fällt mir auf, dass fast alle Autoren auf die eine oder andere Weise zwei Problembereiche als Ursache institutioneller Schwierigkeiten benennen: Zum einen Idealisierungen mit all ihren Folgen und zum anderen Übertragungen.

Ich habe mich beim Lesen des Buches an einen Vortrag, veröffentlicht in der Psyche, von Jonathan Lear auf dem IPA-Kongress in Berlin 2007 erinnert, wo er beschreibt, wie eine Kultur, in seinem Fall die Crow-Indianer, die Probleme durcharbeitet, mit denen sie aufgrund ihrer eigenen Vernichtung konfrontiert ist. Ein Traum, den ein Einzelner stellvertretend für die ganze Gruppe träumt, wird von Mitgliedern der Gruppe gedeutet und mit Hilfe von Einbildungskraft vielfach durchgearbeitet, um Wandel und Bestand der Kultur zu ermöglichen. Dies ist doch auch für die Schwierigkeiten psychoanalytischer Institutionen vorstellbar, die man als deren Symptome betrachten könnte. Lear schreibt, wir sollten „den erfolgreichen Erwerb des Durcharbeitens als Entwicklung einer menschlichen Tugend begreifen, als den Erwerb einer gewissen dichterischen Freiheit in Bezug auf das eigene geistige Leben“ (S. 347).

Literatur:

Churcher, J. (2022): Diskussion der Beiträge zum Panel „Eine ideale psychoanalytische Institution. In: Psychoanalyse in Europa, Bulletin 76, 2022, S. 253 – 255.
Lear, J. (2007): Den Untergang einer Kultur durcharbeiten. Psyche 61, 345 – 367.
Tucholsky, K. (1975): Die Opposition. In: ders.: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Band 8, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 27 – 30.