Hermanns, Ludger und Schneider-Flagmeier, Gisela (Hgs): »Er beobachtet alles kolossal genau« Das Tagebuch von Sophie Halberstadt- Freud über die ersten Lebensjahre ihres Sohnes Ernst

Gießen: Psychosozial Verlag, 2023. Zuerst erschienen in: Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse. (Hg. Giefer, M., Hermanns, L. M., Herrn, R., Schröter, M.), 36. Jg. 1/2023 Bd. 71. Brandes & Apsel.

Rezensentin: Uta Zeitzschel

»Er beobachtet alles kolossal genau« lautet der Titel unter dem Ludger M. Hermanns und Gisela Schneider-Flagmeyer das Tagebuch von Sophie Halberstadt-Freud über die ersten Lebensjahre ihres 1914 geborenen Sohnes Ernst herausgegeben haben. Die von Sophie Halberstadt-Freud handgeschriebenen Seiten und einige Notizzettel aus dem Nachlass werden originalgetreu transkribiert wiedergegeben und durch einige Fotographien und vier Kurzbeiträge ergänzt. Die Titelseite des schmalen Bandes (er umfasst 107 Seiten) zeigt den kleinen Ernst auf den Armen seiner Mutter, der sich seinem Vater, dem Fotographen Max Halberstadt, zuwendet und freudig lacht.

In einem sehr persönlichen Vorwort beschreibt die Psychoanalytikerin Gisela Schneider-Flagmeyer, die von 1982 bis zu seinem Tode 2008 die Lebensgefährtin von Ernst Freud war, ihr Zusammensein: Erste Jahre großer Verliebtheit, in denen Ernst Freud nach dem Tod seiner Tante Anna Freud von London nach Köln übersiedelte, weitere Jahre, die von den Auseinandersetzungen des Paares und dem Tod von Ernst Freuds einzigem Sohn geprägt waren, und seine letzten Lebensjahre in Heidelberg, in denen er pflegebedürftig wurde.

In dem Tagebuch von Sophie Halberstadt-Freud, die bei der Geburt ihres Sohnes Ernst Wolfgang im März 1914 fast 21 Jahre alt ist und ihn selbst stillt, finden sich regelmäßige, detaillierte Aufzeichnungen zu seinem Gewicht, seiner Nahrung, seinem Verhalten und Ausdruck (»heute, 4. Juni hat er zum ersten Mal laut gelacht, wenn er in die Badewanne kommt ist er überhaupt immer am vergnügtesten«, S. 23), seiner Sprachentwicklung (»Er hält ganze Monologe in allen Tonlagen, [...] und freut sich riesig darüber«, S. 29) und besonderen Ereignissen, wie seiner Beschneidung, »durch die er ziemlich herunterkommt« (S. 22). Aufmerksam beobachtet die junge Mutter ihre oft glücklichen Interaktionen (z.B. »auch in meinen Mund steckt er seinen Finger und lacht vor Freude […]. Wenn man ihm laut vorsingt oder laut spricht so greift er nach dem Mund, so als wollte er den Ton fangen«, S. 33). Auch notiert sie Ernsts Spiel, seine Erkundungen des eigenen Körpers, insb. seines Glieds, und seine Sauberkeitserziehung. Viele Aufzeichnungen zeugen von den autoerotischen Aktivitäten des aus heutiger Sicht sich oft selbst überlassenen Säuglings. Als Ernst 14 Monate alt ist, unterbricht seine Mutter ihre Aufzeichnungen und ergänzt sie ein Jahr später aus der Retrospektive: Wir erfahren, dass Max Halberstadt als Soldat eingezogen wurde (»fort gekommen ist ins Feld«, S. 41), und wie Ernst auf diese und weitere Trennungen reagiert.

Christiane Ludwig-Körner (2022, S. 65) beleuchtet das Tagebuch aus der Perspektive der analytischen Säuglingsbeobachtung. Gilt das Interesse heute dem affektiven Austausch zwischen Mutter und Kind, stand in der Zeit des ersten Weltkriegs das Überleben des Babys im Vordergrund. Ludwig-Körner beschäftigt sich mit dem Stillen, einer möglichen Entwicklungsverzögerung von Ernst und einigen Erziehungspraktiken, die uns heute hartherzig anmuten: Die dem Säugling auferlegten Rhythmen, der geringe Körperkontakt, die Erwartung, dass das Baby sich selbst beruhige, die frühe Sauberkeitserziehung. Auch vermittelt sie den Leser:innen die Reaktionen des kleinen Ernst auf Trennungserfahrungen, die seine Mutter zwar beschreibt, aber in ihrem emotionalen Gehalt oft wenig zu verstehen scheint. Ludwig-Körner verweist auf sein »Fort«-»Da«-Spiel mit der Holzspule, das sein Großvater, Sigmund Freud (1920g, S. 12), als Ernsts Versuch entschlüsselt, Trennungen zu bewältigen.

Hans von Lüpke (2022, S. 77) hebt mit Bezug auf Heinz Kohut (1973, S. 141) »den Glanz in den Augen der Mutter« hervor, der sich im Tagebuch widerspiegele. Ernst Freuds frühe Trennungserfahrungen, der in seinem sechsten Lebensjahr als traumatisch erlebte Tod seiner Mutter an der Spanischen Grippe und die von ihm erst retrospektiv in ihrer Bedeutung erfasste Tatsache, dass sie sterbend mit einem dritten Kind schwanger war, hätten ihn motiviert, sich als Psychoanalytiker pränatalem Leben und frühgeborenen Säuglingen zuzuwenden. 1977 nahm er Beobachtungen auf neonatologischen Intensivstationen auf, beschäftigte sich mit der »viel zu radikale[n] Trennung der Mütter von ihren Risiko-Babys« (von Lüpke, 2022, S. 82), der Interaktion der Klinikteams mit den Eltern Frühgeborener, der Rolle ihrer Väter, die Ernst Freud (1995) »einsame Wölfe« betitelte, und setzte sich u.a. für einen direkten Hautkontakt der Mütter mit ihren frühgeborenen Babys ein.

Ludwig Janus ehrt besonders Ernst Freuds wissenschaftliches Engagement in der pränatalen Psychologie. Anders als Otto Rank (1924) und Gustav Hans Graber (1924), die das Trauma durch die Geburt betonen, habe er die pränatale Bindung von Mutter und Kind hervorgehoben, die trotz der Belastungen durch die Geburt ein »perinatales Kontinuum« (Freud, 1986) ermögliche.

Gisela Schneider-Flagmeyer zufolge habe Ernst Freud unter der Freud-Klein-Kontroverse gelitten, da sowohl Anna Freud als auch Eva Rosenfeld, Analysandin Melanie Kleins, wichtige Ersatzmütter für ihn waren. Das enge Band zwischen Ernst und Anna Freud sei auch problematisch gewesen. Kritisch anmerken möchte ich, dass Schneider-Flagmeyers (2022, S. 98) Würdigung von Ernst Freuds erfolgreicher Behandlung eines »manifest« homosexuellen Analysanden, der zu einem glücklichen heterosexuellen Familienvater wurde, sich aus heutiger Sicht wie ein Beispiel für die langjährige Pathologisierung Homosexueller durch die Psychoanalyse liest (vergl. z.B. Herzog, 2022).

In einem persönlichen Nachwort lässt Ludger M. Hermanns, der Ernst Freud wiederholt angeboten hatte, seine Autobiographie zu veröffentlichen, die Leser:innen an Auszügen ihres Briefwechsels 1991–1993 teilhaben.

Sophie Halberstadt-Freuds detaillierte Aufzeichnungen zu Ernst Wolfgang Freuds frühkindlicher Entwicklung, die kurz vor Beginn des ersten Weltkriegs ihren Anfang nehmen, stellen ein sehr interessantes Zeitdokument dar. Aus der Perspektive der zweitjüngsten Tochter Sigmund Freuds, der Ehefrau des Fotographen Max Halberstadt, gewinnen die Leser:innen sehr lebendige und intime Einblicke in ihr Familienleben und Ernsts Entwicklung. Sie erfahren von Besuchen seines Großvaters Sigmund Freud, in dem Beitrag von Schneider-Flagmeyer zudem von seiner Beziehung zu seiner Tante Anna Freud, die nach dem frühen Tod Sophie Halberstadt-Freuds eine Ersatzmutter für ihn wurde. Der »Glanz in den Augen der Mutter« (von Lüpke, 2022, S. 77), den das Tagebuch vermittelt, findet in dem liebevollen Blick seiner Lebensgefährtin und dem spürbaren Engagement aller weiteren Autoren für dieses Buch seine Fortsetzung. Durch die ergänzenden Kurzbeiträge erschließt sich den Leser:innen die Person Ernst W. Freud – das Baby, das Kleinkind, der Erwachsene – schließlich aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Seine frühen Trennungs- und Verlusterfahrungen werden in ihrer Tragik spürbar, in ihrer Tiefe erahnbar und lassen so die Arbeit des erwachsenen Psychoanalytikers Ernst W. Freud mit Säuglingen, seinen großen Einsatz für die Behandlung Frühgeborener und sein wissenschaftliches Engagement für die pränatale Psychologie unmittelbar nachvollziehbar werden.

Ein sehr besonderes und tolles kleines großes Buch!

Literatur

Freud, W.E. (2003 [1986]). Pränatale Bindung, perinatales Kontinuum. In (Hg. von Lüpke, H.): Remaining in Touch. Zur Bedeutung der Kontinuität früher Beziehungserfahrung. Frankfurt a.M.: Edition Deja-vu.
Freud, W.E. (1995). Frühgeborene Väter: Einsame Wölfe? In (Hg. von Lüpke, H.): Remaining in Touch. Zur Bedeutung der Kontinuität früher Beziehungserfahrung. Frankfurt a.M.: Edition Deja-vu, 355–364.
Freud, S. (1920g). Jenseits des Lustprinzips. GW VIII, 8–69.
Graber, G.H. (1924). Die Ambivalenz des Kindes. Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
Herzog, D. (2022). Die sexuelle Revolution und ihre Bedeutung für die Psychoanalyse in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts – Eine Geschichte der Homophobie angesichts des Traums von Liebe. In (Hrsg.) Lemma, A. & Lynch, P.E.: Psychoanalyse der Sexualitäten – Sexualitäten der Psychoanalyse. Brandes & Aspel, 31–55.
Kohut, H. (1973). Narzissmus. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Ludwig-Körner, C. (2022). Gedanken zum Tagebuch von Sophie Halberstadt-Freud über ihren Sohn Ernst. In: »Er beobachtet alles kolossal genau«, Hg. Hermanns, L.M./Schneider-Flagmeyer, G. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Rank, O. (1998 [1924]). Das Trauma der Geburt. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Von Lüpke, H. (2022). Der Glanz im Auge der Mutter und dessen Widerspiegelung im Tagebuch der Sophie Halberstadt-Freud. In: »Er beobachtet alles kolossal genau«, Hg. Hermanns, L.M./Schneider-Flagmeyer, G. Gießen: Psychosozial-Verlag.