Wirth, Hans-Jürgen (2022). Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chancen der Verletzlichkeit.

Gießen: Psychosozial Verlag, 2022, 336 Seiten, 39,90 Euro

Rezensent: Thomas Auchter (Aachen)

Hans-Jürgen Wirth ist einer der wenigen gegenwärtigen deutschen Psychoanalytiker, der sich in seinen Publikationen immer wieder gesellschaftlichen und politischen Phänomenen aus einer sozialpsychologischen und psychoanalytischen Perspektive nähert. So auch in seinem neuesten Buch.

Neben der Herausforderung durch Globalisierung, Urbanisierung, Individualisierung, Flexibilisierung und Digitalisierung sind die Menschen unserer Welt von einer Fülle von Krisen geschüttelt: Corona-Pandemie, Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg und viele andere mehr. Umso notwendiger ist eine differenzierende Analyse, die die psychologischen Faktoren der Entstehung und Bewältigung der »man-made-desaster« unter die Lupe nimmt.

Das Buch von HJW ist eine überzeugende Antwort auf die von ihm selbst gestellte Frage, ob »sozialwissenschaftlich oder psychoanalytisch inspirierte Zeitdiagnosen etwas zum besseren Verständnis« gesellschaftlicher Konfliktdynamiken (S. 14) beitragen können? Er versucht, »am Beispiel aktueller politischer Auseinandersetzungen zu ergründen, wie Gefühle politisches Handeln beeinflussen, und wie mit Gefühlen Politik gemacht wird« (S. 22).

Auch wenn HJW in seiner Einleitung vermerkt: »Im Zentrum meiner Studien steht der grassierende Rechtspopulismus« (S. 14), so bietet sein Buch doch viel mehr an Durchleuchtung des heutigen gesellschaftlichen und politischen Zeitgeistes und seiner historischen Entwicklung. Dem widmet er ein ganzes Kapitel, in dem er die »psychopolitische Geschichte der Deutschen« unter die Lupe nimmt (S. 155ff.). »Meine Ausgangsthese lautet: Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist auch nach über 70 Jahren noch immer das beherrschende zeitgeschichtliche Thema der Bundesrepublik« (S. 157). HJW verwendet das Bild von der »Giftmülldeponie«, die immer noch gefährliche Dämpfe absondere (S. 15). Er schlägt als Alternative zu einer »Schuld- und Schamkultur« im Anschluss an die Traumata des Nationalsozialismus das »reifere« Konzept der »Fähigkeit zur Besorgnis« vor (S. 175, 185), das sich zum Beispiel 2015 (Flüchtlingskrise) und 2020 (Ukraine) in der »Willkommenskultur« der Deutschen gezeigt habe (S. 156, 183ff.).

HJW entfaltet ein zeitgenössisches gesellschaftspolitisches Panorama von der Zeit des Nationalsozialismus bis hin zum Ukraine-Krieg. Entsprechend dem individuellen psychoanalytischen Durcharbeiten der eigenen Geschichte sei die selbstkritische Aufarbeitung der traumatischen Vergangenheit eine kollektive Aufgabe. Während in Deutschland die Vergangenheitsbewältigung – da »grundsätzlich nicht abzuschließen« (S. 171) - ein fortlaufender Prozess sei (S. 167), habe in der ehemaligen »großen« Sowjetunion mit Putin stattdessen eine Restauration stattgefunden, die zum Beispiel im Ukraine-Krieg ihren Ausdruck findet. »Der tiefere Hintergrund für die Misere Russlands ist seine nicht aufgearbeitete Gewaltgeschichte, die im Stalinismus ihren traurigen Höhepunkt fand und jetzt im Putinismus ihre Fortsetzung findet« (S. 309).

Im Fokus der Aufmerksamkeit von HJW steht die gefährliche Melange von Traumatisierungen, Kränkungen, Benachteiligungen, tatsächlicher oder gefühlter mangelnder Anerkennung, Demütigungen, Ängsten, Grundmisstrauen, Ohnmachtserleben und Verbitterung und ihrer kompensatorischen Abwehr durch »epistemisches Misstrauen« (S. 102), malignen Narzissmus, Autoritarismus, Spaltungen, Ressentiments, Größenfantasien, Rache, Hass und Wutaktionen, die ein Gefühl der Selbstwirksamkeit wiederherstellen sollen. HJW verdeutlicht das unter anderem exemplarisch in seinem Kapitel über den »Brexit« (S. 87ff.).

Den Zusammenhang zwischen Gefühl und Politik arbeitet HJW auch am »Querdenken« beziehungsweise »Verschwörungsdenken« (S. 99ff.) heraus. Ich selber habe in einer kürzlich veröffentlichten Arbeit diesbezüglich von den »Kopfgeburten aus dem Bauchgefühl« (Auchter 2021) gesprochen. Zentral für das Verständnis der Verschwörungstheoretiker*innen betrachtet HJW die Frage von »Vertrauen« respektive »Misstrauen« (S. 99). Das Konzept »Vertrauen« spielt darüber hinaus in ganz vielen Abschnitten des Buches eine zentrale Rolle. »Die latent existierende Bereitschaft zu Ängsten aber auch zu misstrauischen und paranoiden Einstellungen« wird in Zeiten einer Pandemie enorm getriggert (S. 108) und verbreitet sich massenpsychologisch (S. 127). Dagegen wiederum scheint der »Populismus« Abhilfe zu versprechen. HJW diskutiert dieses Phänomen (S. 27ff.) differenziert anhand der »Unfähigkeit zu vertrauen«, der Gefühle der Angst, des Hasses, der Scham, des Neides, des Ekels, der Verbitterung und des Ressentiments. Die Person des »Brandstifters Alexander Gauland« (S. 68ff.) ist dafür ein Beispiel.

Wo es vonnöten ist, positioniert sich HJW eindeutig. Dabei ist eine gewisse Sympathie für die Grünen unverkennbar. Ein ausführliches Kapitel befasst sich mit den »konträren Weltbildern« von AfD und Grünen (S. 191ff.). Zusammengefasst: »Das Menschenbild der AfD-Anhängerschaft ist rückwärtsgewandt und von Ressentiments, rassistischen Stereotypien und Menschenfeindlichkeit geprägt […] Das Menschenbild der Grünen-Anhängerschaft ist zukunftsorientiert und von humanistischen Werten wie Solidarität, Emanzipation und Selbstverwirklichung geprägt« (S. 238f.).

In einem weiteren sehr spannenden Kapitel beschäftigt sich HJW – ausgehend von der Shoah - mit der »Radikalität des Bösen« (S. 35ff.). Das »Rätsel des Bösen« spanne sich zwischen der »Banalität des Bösen« (H. Arendt) als Variante der Normalität des Menschen und der »Pathologie des Bösen« bei zum Beispiel narzisstisch gestörten »Führerpersönlichkeiten« aber auch bei autoritär persönlichkeitsgestörten Anhängern. Wobei HJW den absoluten Gegensatz zwischen diesen beiden Erklärungsansätzen zugunsten einer Relativierung ersetzen möchte (S. 145).

Welche Konsequenzen zieht HJW aus seinen Betrachtungen? Besondere (positive) Bedeutung haben die »Fähigkeit, Affekte zu regulieren und Gefühle zu mentalisieren« (S. 24). »Die grundlegende Entwicklungsaufgabe […] besteht darin, ein Gefühl des Urvertrauens zu entwickeln, das die entgegengesetzten Gefühle von Ur-Miss-trauen, Angst, Verlassenheit und Verzweiflung in Schach hält, erträglich macht und reguliert« (S. 35). Ausgehend von Winnicotts Konzept der »Fähigkeit zur Besorgnis« plädiert HJW für eine »ausgewogene Balance« zwischen »Selbstfürsorge und Fremdfürsorge« (S.134). Der »gesunde Narzissmus« entspringt der Bestätigung des »Selbstgefühls und des Selbstwertgefühls durch Liebe und Anerkennung« (S. 230).

»Der Umstand, dass der Mensch nur in begrenztem Umfang von Instinkten gesteu-ert ist, bringt die Möglichkeit zur Freiheit, Kreativität und freien Willensentscheidung hervor – und somit auch die Möglichkeit, sich für das Böse entscheiden zu können. Die menschliche Freiheit besteht gerade darin, zwischen dem Guten und dem Bösen wählen zu können, aber auch wählen zu müssen« (S. 153). Als Antidot gegen narzisstische Selbstüberhöhung, Fremdabwertung und Hassimpulse schlägt HJW ein neues »Bewusstsein der Verletzlichkeit« vor (S. 241ff.). »Vulnerabilität gehört zu den basalen facts of life«, die beim Menschen besonders ausgeprägt ist (S. 245). »Selbstreflexion und Distanzierung vom eigenen Selbst« als komplexe kognitive und emotionale Prozesse ermöglichen die »besonderen kulturellen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Leistungen« (260f.), eröffnen aber auch das »ganze Spek-trum an Vulnerabilitäten« bis hin zum »Wissen um die eigene Sterblichkeit« (S. 262).

Aus aktuellem Anlass hat HJW unter der Überschrift »Zeitenwende« ein Kapitel hinzugefügt, in dem er sich mit den bislang überschaubaren Konsequenzen des Ukraine-Krieges, der »zentrale Themen des Buches« berühre (S. 275ff.), befasst. Putins »völkerrechtswidriger« (S.275), »verbrecherischer« (S. 311) Angriffs- und Vernichtungskrieg habe einen – für die Grünen jedenfalls – schon mit dem Kosovo-Krieg 1999 begonnenen »psychopolitischen Mentalitätswandel« (S.277) vollendet. An die Stelle einer »nostalgischen Idealisierung« der Friedfertigkeit der Gegenseite sei durch den brutalen Krieg eine »harte Landung in der Realität« (S. 280) getreten. Für die meisten Deutschen sei Umfragen zufolge heute ein »Neues Leitbild ›Wehrhafter Friede‹« (S. 276) getreten. Das bedeute nicht eine Restauration in Richtung »Bellizismus« oder »Militarismus«, sondern eine am »Realitätsprinzip« orientierte »friedenspolitische Grundhaltung« (S. 277), die aber eine »Abschreckung« durch Waffen nicht »vertrauensselig und naiv« ausschließe (S. 280). HJW beschließt sein Buch mit dem hoffnungsvollen Gedanken: »Es könnte sein, dass sich das ukrainische Volk in einem sozialpsychologischen Sinn als widerstandsfähiger, resilienter und zukunftsfähiger erweist als das russische, weil es für das eigene Überleben in Selbstbestimmung und nicht für die Vernichtung fremden Lebens kämpft, weil es die Moral auf seiner Seite weiß und weil es von der Hoffnung auf eine positiv besetzte Zukunft getragen wird« (S. 311).

 

Auchter, T. (2021): Kopfgeburten aus dem Bauchgefühl. Psychoanalytische und psychosoziale Aspekte von Verschwörungstheorien. In: Psychoanalyse im Widerspruch 66, 67-86