Anette Burkhart: Habent sua fata libelli – Bücher haben ihre Schicksale

Braucht die digitale Welt noch Bibliotheken? Welchen Stellenwert nehmen die Bibliotheken in den Instituten der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) ein?

Die Zahl von ca. 2,3 Millionen öffentlichen Bibliotheken weltweit hat mich beeindruckt. Die Bibliothekswissenschaften bieten moderne, digitale und an den Sozialwissenschaften orientierte Studien- und Ausbildungsgänge an und bereichern zunehmend unsere Vorstellungen von den Aufgaben einer Bibliothek der Zukunft (Hauke, 2019). Bibliotheken sind Orte der Begegnung, des demokratischen Prozesses, Verbindungspunkte zwischen Realität und Virtualität. Auch wenn die DPV – Instituts - Bibliotheken in der

Regel keine öffentlichen Orte sind, so treffen sich doch die psychoanalytische Community und ihre Gäste u.a. zu Vorträgen, Veranstaltungen, Diskussionsrunden, Besprechungen, Mitgliederversammlungen vor den Bücherregalen und den darin enthaltenen Zeugnissen, die sich verknüpfen mit der Geschichte der Psychoanalyse. Was verraten Zustand, Bestand und Nutzung der psychoanalytischen Bibliotheken?

Die Bibliothek des Freiburger psychoanalytischen Seminars ist nach einem Besuch und einer Beratung durch eine professionelle Bibliothekarin als wissenschaftliche Fachbibliothek gelobt worden. Eine Digitalisierung des Bestands wäre mit vielen Kosten verbunden und wurde bisher (noch) nicht umgesetzt. Im Keller des Instituts stehen sehr viele Bücher aus ererbten Nachlässen. Byung Chul Han (2021, S.25) zitiert Walter Benjamins lateinischen Spruch „ Habent sua fata libelli“- Bücher haben ihre Schicksale – und dies wird wohl nicht nur auf die Freiburger Bücher zutreffen. Die Handexemplare der analogen Kultur, folgt man den Überlegungen des Philosophen in seinem Buch ‚Undinge‘ (Han, 2021), stehen im Gegensatz zum E-book. Bücher haben materielle Spuren, die Geschichte verleihen. Das E-book bewertet er als Zugang, gesichtslos, ohne intensive Bindung. In Freuds Bibliothek sammeln sich Träume, Bücher, Antiquitäten wie getrocknetes Leben in einem Herbarium, von dem Freud in seiner Selbstanalyse träumt und sich damit als Bücherwurm wiederfindet (Müller 2019). Der Traumsammler ist ein Sammler von Büchern. Und seine Bücher sind uns bis heute Anknüpfungspunkte für Gespräche und Assoziationen. Für Klaus Heinrich ist Freuds Bibliothek eine „Gattungshöhle“ (Heinrich, 2020.S.17). Mit Foucaults Überlegungen zum Begriff der „fantastischen Bibliothek“ (Stampfl, 2019, S.62) als Quelle für eine Neugestaltung der Bibliothek der Zukunft, sowie zum ‚Third place‘ des Soziologen Ray Oldenburg (1989), der die Räumlichkeiten von Bibliotheken als Orte ohne Konsumzwang, als Gegenraum zur virtuellen Welt und als Raum, in dem Gemeinschaftsgefühl gedeihen kann (vgl. Stampl, 2019),bewertet, verliert für mich das Image von verstaubten Bibliotheksräumen an Gewicht. Ganz im Gegenteil gefällt es mir immer mehr zu erfahren, wie die Bibliotheksräume mit Leben gefüllt sind oder zu neuem Leben erweckt werden könnten.

„Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg“, so schrieb Freud in seinem Brief an Einstein (Freud, 1932).

Anette Burkhart
Sozial- und Kulturtheorie der Psychoanalyse

Angaben zur Autorin:
Gesundheits-und Krankenpflegerin
Pflegewissenschaftlerin B.Sc.
Dipl.-Theologin
Sozial-und Kulturtheorie der Psychoanalyse bei der DPV

Literatur:

Hauke, Petra (Hg.) (2019). Öffentliche Bibliotheken 2030. Herausforderungen-Konzepte-Visionen. Bad Honnef, Bock+Herchen Verlag

Han, Byung-Chul (2021). Undinge. Umbrüche der Lebenswelt. Berlin, Ullstein, S.25

Müller, Lothar (2019). Freud’s Dinge. Berlin, Die Andere Bibliothek, S.219

Heinrich, Klaus (2020). Reden und kleine Schriften 1. Anfangen mit Freud. Freiburg, ca-ira-Verlag, S.17

Stampfl, Nora S. (2019). Zwischen Realität und Virtualität- Zur Verortung öffentlicher Bibiliotheken. In: Hauke, Petra (Hg.) (2019). Öffentliche Bibliotheken 2030. Herausforderungen-Konzepte-Visionen, Bad Honnef, Bock+Herchen Verlag, S.62

Oldenburg, Ray (1989). The great good place. Cafes, coffee shops, community centers, beauty parlors, general stores, bars, hangouts, and how they get you through the day. New York, Paragon House.

Freud, Sigmund (1932). Warum Krieg. In: Institut für geistige Zusammenarbeit am Völkerbund (Hg.) (1933). Warum Krieg? Pourqoui la guerre? Why war?. Paris. Correspondence. Open Letters. Bd.2, S.25-62.

3 Bildquellen:

Bibliotheksräume des Psychoanalytischen Seminars Freiburg

Foto nach Genehmigung: Anette Burkhart