Die Debatte über die „Sexualpädagogik der Vielfalt“, die seit einiger Zeit in den Bundesländern Baden-Württemberg und Niedersachsen unter erheblicher Mobilisierung von Eltern und Lehrern stattfindet, gerät zusehends unter Legitimationsdruck. Ihr wird vorgehalten, dass sie letztlich wie Pädophile argumentiere und dort auch ideologisch verankert sei. Solche Zuordnungen sind verführerisch, weil mit ihnen nach dem Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche, staatlichen Erziehungsheimen, der reformpädagogisch sich gebenden Odenwaldschule und anderen Einrichtungen fast automatisch eine moralische wie politische Verurteilung einhergeht. Allerdings sind die Zusammenhänge, die es zu klären gilt, durchaus komplexer. Denn diese Art der Zuordnung fasst das Wesentliche nicht, das Pädophilie und „vielfältige Sexualisierung“ mit einander verbindet.
Die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ spricht sich nicht für das Recht von Pädophilen aus, auf Kinder straffrei zugreifen zu dürfen. Darum geht es ihr nicht. Sie übernimmt allerdings die Zielvorstellungen, die der pädophilen Propaganda, Pathologie und Charakterstörung zugrunde liegen. Sie zielt darauf ab, die Grenze zwischen den Generationen und den Geschlechtern zu überschreiten und ganz abzuschaffen. Beides sind jedoch maßgebliche Werte für eine kultivierte Gesellschaft. Das begründet die grundlegende Gemeinsamkeit mit der Pädophilie. Die Überschreitung der Generationengrenze bringt den Wunsch zum Ausdruck, dass Inzest als Inbegriff der Grenzziehung, nicht nur straflos gestellt, sondern psychologisch und pädagogisch als wertvoll geschätzt wird. In diesem Sinne bedeutet Sexualisierung, dass zärtliche und sorgende Beziehungen nicht frei von unsublimierter Sexualität sein sollen. Ganz im Gegenteil, erst wenn Zärtlichkeit resexualisiert werde, sei die Voraussetzung für sexualisierende Vielfalt geschaffen. Wenn die Rede vom „Dekonstruieren“ ist, dann sollen Lehrer, die Schamgefühle und Respekt auch in der Sexualpädagogik praktizieren, in der „Sexualpädagogik der Vielfalt“ durch Vertreter von Lobbygruppen ersetzt werden, die diese Schamgefühle nicht kennen. Es soll abgeschafft werden, was der Grenzüberschreitung im Wege steht. Wer sich dem widersetzt, gilt als unaufgeklärt, als Repräsentant einer sexualfeindlichen Kultur oder als rechtspopulistisch. Vielleicht gesellt sich demnächst das Etikett einer „Vielfaltphobie“ für Kritiker hinzu.
Das Inzestverbot als Inbegriff „patriarchaler Machtfülle“ dekonstruierend abzuschaffen ist nicht neu. Seit den neunziger Jahren ist es das erklärte Ziel einflussreicher feministischer Autoren wie Judith Butler. Es wurde zu einem tragenden Baustein der Genderstudies. Auch die Politik der Grünen, die in den 1970ziger und 1980zigwer Jahren Pädophilie strafffrei stellen wollte, gründete auf dieser Perspektive, die vor gut 25 Jahren im liberalen Milieu und der Publizistik salonfähig war. Das war ein Spiel der Erwachsenen mit dem Feuer, in dem Kinder, etwa an der Odenwaldschule, verbrannt wurden. Was trotz der damaligen Entgrenzungstendenzen, die sich präziser als sexuell übergriffige Aufladung der Gesellschaft beschreiben lassen, allerdings unterging, war, dass das Inzestverbot gerade nicht nur durch Gesetze aufrechterhalten wird, sondern durch kulturell überlieferte Weisheit als Norm in jedem einzelnen Menschen am Leben erhalten wird. Denn jeder ist Teil des kollektiven Wissens, dass die Beseitigung und Schwächung des Inzesttabus Mord und Totschlag innerhalb von Familien auslöst. Darüber hinaus führt es zu stetem Unfrieden in der Gesellschaft. Genau das würde nämlich eintreten, wenn der Vater die alternde Mutter gegen die erblühende Tochter oder die Mutter den schwächelnden Vater gegen den erstarkenden Sohn austauscht. Das Ergebnis wären Gewalt, Eifersucht, Rache und Zerstörung. Solidarisches wie einfühlsames und respektvolles Verhalten würden ausbleiben. Jeder Seitensprung in Beziehungen, der zu heftigen Gefühlen der Kränkung bis hin zu Gewalt und Scheidung führen kann, wäre im Vergleich dazu eine Petitesse. Deshalb wird das Inzesttabu aus Interesse an persönlicher Entwicklung und Respekt vor den anderen ganz selbstverständlich, ja, fast automatisch eingehalten. Denn keiner will sich den Erschütterungen aussetzen, die mit dessen Verletzung verbunden sind. Die Angst davor, die Loyalität der Eltern wie die kultivierende Menschheitserfahrung außer Kraft zu setzen, gibt dem Wunsch nach Überschreitung keine Chance. Wer das Tabu bricht, muss fürchten, ausgeschlossen zu werden. Um diesen Punkt zentriert sich die augenblickliche Auseinandersetzung um die sexualisierende „Pädagogik der Vielfalt“.
Die Vorkämpfer der „frühkindlichen Sexualisierung“ übersehen diese Gefahren nicht nur, sie können sie sich nicht einmal vorstellen. Sie beweisen damit ein fundamentales Unverständnis für die Schutzbedürftigkeit von Kindern und ihre Abhängigkeit von ihren Bezugspersonen. Man mag sich fragen, welche Erfahrungen die Protagonisten dieser Vorschläge selbst als Kinder und Jugendliche mit Abhängigkeit gemacht haben. Die Erfahrung des Ausgeliefert-Seins jedenfalls kann im Erwachsenenalter in einer sexuellen Aufladung der gesamten Emotionalität sichtbar werden, als eine Art Umkehr des Erlebten . Das Sexualisierende wird dann zum vorherrschenden Blick auf die Außenwelt. Die Überflutung mit sexualisierenden Bildern und die Einübung in sexuelle Praktiken, wie die „Pädagogik der Vielfalt“ vorschlägt, könnten aus diesen Quellen gespeist werden. Die großen Lebenssphären, die uns Beruf, Freizeit, Lernen, Wissen, Genuss, Zärtlichkeit und Freundschaft mit anderen möglich machen, wir nennen das auch Sublimierung, entstehen jedoch dadurch, dass das unsublimiert Sexuelle nicht überall vorherrscht. Dazu ist die Akzeptanz von Differenz, wie z.B. der Generationengrenze eine wichtige Voraussetzung. Die Vertreter der „Pädagogik der Vielfalt“ propagieren ihre Positionen in der Art eines politischen Sendungsauftrags, mitunter im Sinn einer als religiös anmutende Auserwähltheit. Es wirkt als wollten sie andere dazu verführen, ihre Sichtweise zu übernehmen – auch die Kinder, die informiert werden sollen. Wenn ihre Vertreter aus der Wissenschaft dann wie einst Helmut Kentler und dieser Tage Rüdiger Lautmann, Elisabeth Tuider und Uwe Sielert meinen, die Kinder könnten doch mit Nein auf unerwünschte Übergriffe (als solche müssen einige der Aufgaben an die Kinder verstanden werden) reagieren, beweisen sie ihre Ignoranz bezüglich der Verletzlichkeit von Kindern. Sie können die jeweils unterschiedliche Schutzwürdigkeit der Kinder und Jugendlichen nicht respektieren. Wenn z.B. Homosexualität, Transgender oder andere Formen gelebter Sexualität von Erwachsenen gesellschaftlich nicht diskriminiert werden sollen, so erreicht man doch dieses Ziel nicht, indem man Kinder mit der größtmöglichen Vielfalt von Sexualverkehrspraktiken bekannt macht. Außer Acht gelassen wird das empfindliche Beziehungsgefüge in Familien und anderen wichtigen sozialen Gruppen, welche für die Entwicklung von Lust, Begehren und Liebe maßgeblich sind. Die Aufforderung an die Kinder, Nein zu den Verführern, den übergriffigen Aufklärern, zu sagen, würde unabhängige, kritikfähige, starke Kinder erfordern (die es vielleicht manchmal sogar gibt). Im vorliegenden Fall wird jedoch von Kindern etwas erwartet, was nicht selbstverständlich voraus gesetzt werden kann. In der Aufforderung doch Nein zu sagen oder sich abzuwenden, wenn ihnen „das“ nicht passt, kommt eine Argumentationsfigur bei den Anhängern der Frühsexualisierung in den Blick, die sie mit Pädophilen teilen, ohne es zu wissen.
Wesentlich daran ist ein weit reichender Mangel an Einfühlungsvermögen in die Welt der Kinder, die auf projektive Weise mit sexuellen Vorstellungen und Wünschen von Erwachsenen konfrontiert werden. Die „Sexualpädagogik der Vielfalt“ steht für einen vollständigen Beziehungsverlust zur kindlichen Welt. Dass sie sich um Kinder ständig bemühen, ist dazu gerade kein Widerspruch. Denn die Art wie sie es tun, geht an den Bedürfnissen der Kinder vorbei, weil sie nur das an ihnen wahrnehmen, was den eigenen (ideologisch gefärbten) Vorstellungen von der Erfüllung sexueller Wünsche entspricht. In der Unbekümmertheit des trotzig anmutenden „die können doch Nein sagen“ wird der ideologisch begründete Zugriff auf Kindheit deutlich, der sie unentrinnbar daran glauben lässt, dass Kinder von Anfang an den sexuellen Wünschen von Erwachsenen zustimmen möchten. Sei es Gruppensex, Sado- Masochismus, Prostitution, Erniedrigung, Dominanz, Homosexualität, Perversion, Analverkehr et cetera. Sie sind sich ihrer „Sache“ so gewiss, dass sie sich als Stellvertreter unterdrückter kindlicher Interessen ausgeben und eben gerade nicht als Förderer der – mehr oder weniger sublimierten – kindlichen sexuellen Neugier fungieren.
Diese Art der Verwechselung eigener Interessen mit denen von Kindern und der Gesellschaft lässt dann jenseits der argumentativen auch die emotionale Ähnlichkeit zu manifesten Pädophilen hervortreten. Die Aufhebung der Geschlechter- und Generationengrenze taucht diesmal nicht als pädophiles Programm auf, sondern als Wunsch sexuelle Akzeptanz durch Indoktrination zu erzwingen. Der Zugriff auf die Kinder soll es möglich machen.
Der Autor war Professor für Geschlechter-und Generationenforschung an der Universität Bremen und Leiter des gleichnamigen Instituts. Letzte Publikationen Von Höllenhunden und Himmelswesen. Plädoyer für eine neue Geschlechter-Debatte und Herausgeber der deutschen Ausgabe von Hamel/Nicholls (Hrsg.): Handbuch Familiäre Gewalt im Fokus. Fakten-Behandlungsmethoden-Präventionwww.Ikaruverlag.com