Rezensentin: Martina Feurer (Freiburg)
(Die Rezension erscheint demnächst in einer leicht veränderten Fassung in der Kinderanalyse).
Kaum hat das Gespräch zwischen Bürgin und dem siebeneinhalbjährigen Simone begonnen, treffen ihre unterschiedlichen Grundannahmen direkt aufeinander.
„Simone: Mhh… gell, Du willst mich nur drausbringen, so dass ich mehr sage.
Bürgin: Ich bin froh, wenn Du mir mehr sagst, aber drausbringen möchte ich dich nicht.
Simone: Doch.
Bürgin: Doch?
Simone: Doch.
Bürgin: Na, da tust du etwas zu mir, weißt Du, einfach so…
Simone: Doch!
Bürgin: Und glaubst gar nicht, was ich dir sage.
Simone: Nein, überhaupt nicht!
Bürgin: Da haben wir schon ein Problem zusammen, siehst Du. Denn Du sagst, ich sei so, wie Du dir denkst, dass ich sei.“
Und so geht es weiter. Bürgin schlägt Winnicottsche Kritzel vor, Simone sagt, er wolle „etwas viel besseres als ein Kritzel“ zeichnen.
Dieses spannende Interview, in dem es den beiden Gesprächspartnern gelingt, trotz ihrer sehr unterschiedlichen Grundannahmen miteinander in Kontakt zu kommen, steht in Psychoanalytische Grundannahmen. Vom analytischen Hören im klinischen Dialog. Dieter Bürgin, Angelika Staehle, Kerstin Westhoff und Anna Wyler von Ballmoos haben es gemeinsam geschrieben.
Die drei Autorinnen und der Autor schreiben, sie hätten dieses Interview nicht auf Grund seiner inhärenten Besonderheit ausgewählt. Es habe sich angeboten, weil die Videoaufnahme, auf der das Transkript beruht, eine gut verständliche, gemeinsame und wiederholbare Basis für ihr Anliegen bot, ihre eigenen Grundannahmen zu untersuchen. Das Gespräch war auf einer kinderpsychiatrisch-psychotherapeutischen Station aus diagnostischen Gründen geführt worden.
Den AutorInnen ‒ allesamt PsychoanalytikerInnen ‒ geht es in ihrem Buch um die Untersuchug ihrer eigenen psychoanalytischen Grundannahmen. Wenn Psychoanalytiker ihren Kollegen Ausschnitte aus eigenen Behandlungen vorstellen, enthält ihr klinisches Material implizite Überzeugungen, die den behandelnden Analytikern nur teilweise bewusst sind. Selbstverständlich haben auch die zuhörenden Kollegen ihre bewussten und unbewussten Überzeugungen, mit denen sie das vorgestellte Material hören. Wenn die Grundannahmen der Beteiligten sehr unterschiedlich sind, kann es schnell kompliziert werden. Unbewusste, ignorierte oder als Hindernis betrachtete Grundannahmen führen in Diskussionen leicht zu Rechthaberei, Rivalität und Vorherrschaftskämpfen um die „richtige“ Sichtweise. Es geht dann nicht länger um die Vielfalt unterschiedlicher Perspektiven, die Diskussion verengt sich auf die Opposition von richtigen und falschen Ansichten.
Woher kommen diese Grundannahmen, wie funktionieren sie, und warum sind sie für das Verstehen komplexer Zusammenhänge so unproduktiv?
Die AutorInnen beziehen sich in ihrer Erforschung psychoanalytischer Grundannahmen auf die Untersuchungen W. R. Bions und H. Faimbergs.
Bion hatte in seinen frühen Gruppenuntersuchungen herausgefunden, dass beim Zusammenkommen mehrerer Menschen Phänomene auftreten, die den TeilnehmerInnen nicht bewusst sind, die jedoch die Gruppendynamik stark beeinflussen. Er entwickelte die Hypothese, dass es drei irrationale basale Gruppenüberzeugungen gibt, die bewirken, dass die Mitglieder einer Gruppe sich in spezifischer Weise miteinander verbinden und damit ein eingeschränktes, gemeinsames, starres Ziel verfolgen. Diese Überzeugungen nannte er Grundannahmen.
Zur Erklärung ihres Entstehens greift Bion auf die Biologie zurück.
Grundannahmen entwickeln sich für ihn aus pränatalen, teilweise angeborenen Präkonzeptionen, die sich nach der Geburt zu protomentalen Aktivitäten entwickeln. Daraus entstehen schon in der frühen Kindheit Annahmen und Verhaltensweisen, die den Umgang mit Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Kampf und Flucht, Paarbildung und Singularität stark beeinflussen. In Gruppensituationen werden nach Bion diese primitiven psychischen Mechanismen unbewusst reaktiviert. Sie sind nicht nur binär angeordnet und rigide, sie verhindern auch jegliche weitere Entwicklung.
H. Faimberg entwickelte in den letzten Jahrzehnten eine Methode, mit der PsychoanalytikerInnen ihre jeweiligen Grundannahmen und die Grundannahmen ihrer PatientInnen zusammen untersuchen können. Sie hatte in ihren Behandlungen festgestellt, das die Basisannahmen eines Analytikers bestimmen, wie er seinen Patienten zuhört und worauf er achtet. In einer psychoanalytischen Arbeitsgruppe entstehen bei jedem Einzelnen Hypothesen über die Grundannahme der vorstellenden Person, Hypothesen über die Grundannahmen des Patienten und Hypothesen über Grundannahmen der diskutierenden Gruppenmitglieder. Faimbergs Methode „listening to listening“ führt neben dem Hervortreten der verschiedenen Grundannahmen zu der nicht immer angenehmen Erfahrung, bis dahin für selbstverständlich und „wahr“ gehaltenes Wissen in Frage stellen zu müssen und die Einsicht auszuhalten, dass niemand „die Wahrheit“ besitzt. Über diese Erfahrungen hinaus ermöglicht Faimbergs Vorgehen, Missverständnisse zwischen Einzelnen und Gruppen nicht als Hindernis, sondern als hilfreiche und erkenntnisfördernde Phänomene zu betrachten, hinter denen sich Grundannahmen verbergen.
Bewusste psychoanalytische Grundannahmen bestehen oft aus Theorien, aus Entdeckungen in der eigenen Analyse und aus persönlichen Erfahrungen. Die unbewussten Grundannahmen sind basale, zumeist nicht weiter hinterfragte Überzeugungen, die sich in Aussagen wie „Ich sehe dies einfach so!“, „Ich bin der Überzeugung, dass...“ oder „Ich kann nicht anders als...“ zeigen. Der größte Teil davon ist kaum wahrnehmbar, bleibt im Hintergrund aktiv und beeinflusst auf unmerkliche Weise Weltanschauungen und Menschenbilder.
Den AutorInnen war es für ihre gemeinsame Arbeit wichtig, den Begriff der Grundannahmen weiter und offener als Bion zu verwenden: „[...] nämlich als eine Summe von basalen, expliziten und impliziten und von vielfältigen Emotionen durchsetzten ‚Ansichten‘, Überzeugungen, Vorstellungen, Haltungen, die unser psychoanalytisches Arbeiten andauernd begleiten und, als mehr oder weniger integrierte Theorien und ‚Erkenntnsise‘, uns stets begleiten. Ohne spezielle Anstrengung werden sie nicht mitgeteilt, obwohl sie unser Konzeptualisieren und Intervenieren weitgehend bestimmen.“ (S. 13)
Nachdem die AutorInnen sich an vier Wochenendtreffen über ihre Grundannahmen und die unterschiedliche Rezeption des klinischen Material ausgetauscht hatten, beschlossen sie, Video und Transkript noch einmal einzeln anzuschauen und die persönlichen Eindrücke auf dem Hintergrund der eigenen Grundannahmen aufzuschreiben. In einzelnen Kommentaren stellen sie ihre persönlichen Eindrücke vor und formulieren die psychoanalytischen Grundannahmen, mit denen sie arbeiten.
Für Bürgin ist D. W. Winnicotts Konzept vom Gebrauch des Objekts eine wichtige psychoanalytische Grundannahme, mit der er arbeitet. Bürgin möchte Simone ermöglichen, ihn als Erweiterung seiner Psyche zu gebrauchen und für seine Entwicklung zu nutzen. Seine zweite Grundannahme betrifft die Schaffung eines gemeinsam geteilten Übergangsraums, in dem ein gemeinsam geteiltes Drittes entstehen kann.
Wyler von Ballmoos legt den Schwerpunkt auf ihre Interpretation der Grundannahmen Bürgins und Simones. Sie unternimmt den Versuch, deren Grundannahmen mit ihren eigenen bewussten Grundannahmen zu interpretieren. Ihr ist bewusst, dass die Orientierung an den eigenen Grundannahmen ihr zwar erlaubt, das Material auf ihr vertraute Weise aufzunehmen, gleichzeitig jedoch ihr Verständnis zwangsläufig einschränkt, da sie Elemente überhört und übergeht, die nicht zu ihren vertrauten Grundannahmen gehören. Indem sie sich mit ihren eigenen Assoziationen, Phantasmen und Annahmen in den Interviewer und den Jungen versetzt, wird sie nachträglich zu einem Dritten in diesem Prozess. Abschließend weist sie darauf hin, dass die reale Anwesenheit des Objekts/Interviewers die Bedürftigkeit des Jungen nach einem entwicklungsfördernden Objekt deutlich machen konnte. Simone gelingt es, Bürgin zu gebrauchen.
Westhoff schreibt, dass es für sie eine große Herausforderung bedeutete, die eigenen Grundannahmen anhand des klinischen Materials zu hinterfragen. Sie betont, wie wichtig für sie das unaufhörliche Fragen ist, das sich gegen vermeintliche Gewissheiten richtet. Toleranz gegenüber Nicht-Wissen stellt eine wichtige psychoanalytische Grundannahme für sie dar. Das eigene Vorgehen immer wieder dahingehend zu hinterfragen, ob es eine freie Haltung behindert oder fördert, verlangte ihr viel Arbeit ab. Sie entdeckte, dass sie Schwierigkeiten hatte, einmal gedachte Gedanken und Assoziationen wieder in Frage zu stellen.
Für Staehle ist das Angewiesensein jedes Menschen auf einen Anderen eine wichtige psychoanalytische Grundannahme. Von Beginn des Lebens an brauchen Menschen einen Andern, um sich entwickeln zu können. Niemand kann seine Grundannahmen ohne Andere herausfinden. Zugang zu sich selbst setzt den Anderen voraus. Sie weist darauf ihn, dass Simone im Interview seine Grundannahme vermitteln konnte, dass er ein Gegenüber braucht, mit dem er lernen kann, Verschiedenheit zu ertragen und dass er diese andere Person für seine Entwicklung zu nutzen vermag.
Die Arbeitsgruppe erlebte das Erforschen der individuellen Grundannahmen als hilfreich, lustvoll und stimulierend. Sie beschreiben ihre Haltung als neugierig-wohlwollend und taktvoll. Sie seien sich alle sympathisch zugetan und würden gerne miteinander arbeiten. Sie wissen, dass ihre kreative Arbeitsgruppenatmosphäre keine Selbstverständlichkeit ist. Ihre nicht sehr divergenten Grundannahmen über den psychoanalytischen Rahmen, zu Übertragung und der Bedeutung des Anderen erleichterten das Entstehen eines interpersonalen Übergangsbereichs, der ohne Machtkämpfe und Ausschließlichkeitsansprüche auskam.
Die AutorInnen erfuhren an sich selbst und den anderen, dass man Grundnahmen nicht loswerden kann. Niemand kann ohne Grundannahmen denken. Sie lassen sich entwickeln und hinterfragen, aber nicht abschaffen. Sie schaffen Stabilität, engen aber zugleich ein.
Aufrichtig beschreiben sie auch die Grenzen, auf die sie bei ihrer gemeinsamen Untersuchung gestoßen sind. Viele Fragen mussten offen bleiben, weil die Beteiligten in Grenzregionen des Wissens gerieten, in denen Grundannahmen nur noch schemenhaft erkennbar waren und auf archaische Phantasien hindeuteten. Allein schon die Fragen nach dem Ursprung der Triebe und des Unbewussten führten sie in Bereiche, in denen Festlegungen schwierig wurden und „das Territorium des Nicht-Wissens sich ausbreitete“. Da sie sich nicht in Glaubenssysteme verstricken wollten, ließen sie die verschiedenen Hypothesen nebeneinander stehen.
Das Entwickeln und Stehenlassen von Hypothesen gelingt ihnen jedoch nicht immer. In dem Abschnitt, in dem sie der Frage nachgehen, ob Grundannahmen vielleicht nur ein anderer Begriff für unbewusste Phantasien sind, verhindert eine gemeinsame Grundannahme der AutorInnen ihre theoretische Analyse. Um herauszufinden, wie unbewusste Phantasien und Grundananhmen sich unterscheiden, untersuchen sie den Begriff der unbewussten Phantasie bei S. Freud und M. Klein. Klein griff den sexuellen Charakter unbewusster Phantasien bei Freud auf und entwickelte ihn weiter. Bei Klein stellen unbewusste Phantasien die primitivste psychische Aktivität dar, die nahezu von Geburt an vorhanden ist und sich als erste psychische Reaktion auf Körpererfahrungen entwickelt.
Bei den AutorInnen werden Freuds und Kleins unbewusste Phantasien zu einem nicht genauer definierten Phantasieraum erklärt, in dem sich bildhaft-konkrete unbewusste Phantasien zu Grundannahmen abstrahieren und prototypisieren. (S. 69) Diese übergeordneten Summen unbewusster Phantasien entwickeln sich zu immer komplexeren Konzeptualisierungsebenen, können aber auch rückwirkend den Phantasieraum so verändern, dass aus Grundannahmen neue unbewusste Phantasien entstehen.
Die AutorInnnen bezeichen ihre Hypothese der Entwicklungsfähigkeit von Grundannahmen als ihre gemeinsame Grundannahme.
Wenn jedoch Grundannahmen bisher dadurch definiert wurden, dass sie Entwicklung eher einschränken und verhindern, woher kommt dann die von den AutorInnen postulierte Entwicklungsfähigkeit?
Das Dilemma von Grundannahmen scheint sich in der Gruppe wiederholt zu haben: sie schaffen Stabilität und Verbindung, engen aber zugleich ein.
Zum Schluss noch einmal Simone:
„Bürgin: Wie ist es denn mit dem Simone – kann der sich auch verwandeln und…
Simone: Ja, lieber werden.
Bürgin: Lieber – bist du denn böse?
Simone: Gewesen!
Bürgin: Ja?
Simone: Aber jetzt merke ich, dass ich es nicht mehr machen soll. Könnten wir nun etwas anderes spielen?“
(...)
Bürgin sagt, sie hätten nur noch fünf Minuten Zeit, es würde ihn eigentlich noch interessieren, wie Simone das gemacht habe, um nicht mehr böse zu sein.
Simone hat seine eigenen Ansichten über diese letzten fünf Minuten: „Ich möchte etwas spielen, das kurz geht.“
(...)
Bürgin macht einen zweiten Versuch: „Ich weiß nicht, was kurz geht. Können wir nicht einfach noch ein bisschen reden?“
Simone verneint. „Ich habe eine andere Idee. Da gibt es doch diesen Hai (zeigt auf ein Regal) oder nicht? Mit dem könnten wir doch noch ein bisschen spielen.“
Bürgin lässt sich auf den Vorschlag ein.
(...)
Am Ende des Gesprächs gehen beide zusammen aus dem Zimmer.
Simone sagt: „Die Notfallnummer der Sanität lautet 1112.“
Bürgin: „Ich habe es gehört: Notfall!“