Rezensent: Bernd Nitzschke
Für Wilhelm Reich stand fest: Psychoanalyse und Faschismus sind unvereinbar. Als politisch denkender und handelnder Psychoanalytiker gab er dieser Überzeugung in Wort und Tat schon lange vor 1933 Ausdruck. Ins Exil geflohen veröffentlichte er 1933 sein epochales Werk Massenpsychologie des Faschismus. Bevor man die Neuausgabe dieses Buches nun wieder zur Hand nimmt, sollte man über die historischen Zusammenhänge näher Bescheid wissen, in denen es konzipiert, publiziert, rezipiert – und Jahrzehnte nach seinem Erscheinen noch immer kontrovers interpretiert wurde. Das heißt, es geht hier nicht nur um einen Text, in dem die massenpsychologischen Voraussetzungen analysiert werden, die es einem ‚Führer‘ ermöglichten, ‚die Macht zu ergreifen‘ – es geht auch um das ‚Schicksal‘ der Psychoanalyse unter Hitler und um vereinspolitisch motivierte Versuche, Autor und Werk zu diffamieren.
Um sich trotz der Geschehnisse im NS-Staat auch weiterhin ungestört mit den Rätseln des Unbewussten beschäftigen zu können, trafen sich die Freudianer 1934 auf Schweizer Boden. Hier fand vom 26. bis zum 31. August in Luzern der 13. Internationale Psychoanalytische Kongress statt. Zu diesem Zeitpunkt wusste jeder, der es wissen wollte, wem die Stunde in Deutschland geschlagen hatte. Im Frühjahr 1933 waren die Schriften missliebiger Autoren verbrannt und in Dachau das erste Konzentrationslager eröffnet worden. Darüber berichteten die Münchner Neuesten Nachrichten am 21. März 1933 wie folgt: „Hier werden die gesamten kommunistischen und – soweit notwendig – Reichsbanner- und marxistischen Funktionäre, die die Sicherheit des Staates gefährden, zusammengezogen.“ Das heißt: Das erste Konzentrationslager auf deutschem Boden galt den politischen Gegnern Hitlers, wobei es unerheblich war, welcher ‚rassischen‘ Gruppe sie zugeordnet wurden. Unter der Schlagzeile Fünfzig Ermordete in Dachau erfuhr man ein dreiviertel Jahr später aus der in Wien erscheinenden Arbeiter-Zeitung am 4. Januar 1934 Einzelheiten über die in diesem Lager begangenen Grausamkeiten wie Baumhängen, Verprügeln oder Totschlagen wehrloser Gefangener. Kannte Freud derartige Meldungen? Wir wissen es nicht. Gewiss ist aber, dass er einen derjenigen sehr gut kannte, die der KZ-Haft mit knapper Not knapp entkommen waren: Wilhelm Reich.
Reichs damalige Lebensgefährtin, die Tänzerin Elsa Lindenberg, hatte ihr Domizil in der Berliner ‚Künstlerkolonie‘, einer Hochburg des Widerstands gegen Hitler. Reich war Mitglied der dortigen kommunistischen Zelle, der u. a. der Schriftsteller Arthur Koestler, der Philosoph Ernst Bloch und der Schauspieler-Sänger Ernst Busch angehörten. Nur wenige Tage nach dem Reichstagsbrand kam es zu einer Großrazzia, über die der Völkische Beobachter am 15. März 1933 berichtete: „Heute vormittag wurde durch eine Bereitschaft Schutzpolizei […] der große Block am Südwestkorso in Wilmersdorf, der den schönen Namen ‚Künstlerkolonie‘ führt, abgeriegelt und durchsucht. Dieser Gebäudekomplex beherbergte seit seinem Bestehen eine Auslese übelster Intellektueller und Kommune-Blutredner, die dort in luxuriösen Wohnungen, im Schutze eisenbeschlagener Türen, ihre Haßgesänge gegen das erwachende Deutschland verfaßten.“ Zu diesem Zeitpunkt war Wilhelm Reich schon nicht mehr in Berlin. Denn er gehörte zu den „österreichischen Staatsangehörigen“, die wegen „ihrer Betätigung in der kommunistischen Bewegung“ auf einer Liste standen, die die Gestapo im Mai 1933 der Bundespolizeidirektion Wien übermittelte. Dorthin war Reich geflohen, um seiner Verhaftung zu entkommen. Dass Reich in Gefahr war, das wusste auch Max Eitingon, der Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG), der im Sommer 1933 (nach Palästina) emigrierte. Er ließ Wilhelm Reich „mitteilen“, das Berliner Psychoanalytische Institut (BPI) „nicht mehr [zu] betreten, damit, falls er verhaftet werden würde, dies nicht in unseren Räumen geschehen könne“. So steht es in einem der Berichte, die Felix Boehm – der im November 1933 als ‚arischer‘ Nachfolger Eitingons das Amt des DPG-Vorsitzenden übernahm – für Ernest Jones, den Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) anfertigte, um ihn über das ‚Schicksal‘ der Psychoanalyse unter Hitler auf dem Laufenden zu halten.
Nach seiner Flucht hielt Reich in Wien beim Bund der proletarisch-revolutionären Schriftsteller Österreichs am 7. April 1933 einen Vortrag über „Die Massenpsychologie der nationalen Bewegung“ (eine der Vorstufen des hier besprochenen Buches). Am 27. April schrieb Anna Freud an Ernest Jones, Reich habe „bei seinem kurzen Aufenthalt hier in kommunistischen Versammlungen politische Reden mit psychologischem Anstrich“ gehalten. „Was das in heutigen Zeiten für die analytische Vereinigung bedeuten kann, weiß jeder. […] Mein Vater […] kann nicht erwarten, Reich als Mitglied loszuwerden. Ihn beleidigt die Vergewaltigung der Psychoanalyse ins Politische, wo sie nicht hingehört.“ Drei Tage zuvor, am 24. April, hatte man Reich bei einer Vorstandssitzung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) aufgefordert, die von ihm vertretene Position – die er in der Massenpsychologie des Faschismus als „Sexualökonomie“ bezeichnete, die „auf dem soziologischen Fundament von Marx und dem psychologischen von Freud“ aufbaute – nicht mehr unter Berufung auf die Psychoanalyse öffentlich vorzutragen. In Reichs Worten: „Der Vorstand der Vereinigung forderte von mir mit Rücksicht auf die herrschende politische Situation die Einstellung meiner politischen Arbeit und soziologisch-wissenschaftlichen publizistischen Tätigkeit. […] Ich erklärte, eine solche Zusage nicht machen zu können.“
Wollte man bisher die von Wilhelm Reich 1933 formulierte Analyse des realen Faschismus beziehungsweise der Gläubigkeit der Anhänger und Befürworter autoritärer Herrschaft (kirchlicher, politischer oder sonstiger Gruppierungen) nachvollziehen, musste man auf einen der ‚Raubdrucke‘ der Massenpsychologie zurückgreifen, die in der Folge der Wiederentdeckung Reichs durch die 68er-Bewegung erschienen sind, oder man nahm eine Neufassung zur Hand, in die Reich die ‚Orgon‘-Theorie umfangreich eingearbeitet hat. Bis heute zitierten geschichtsvergessene Autoren, die Reich kritisieren wollten, immer wieder spätere Überarbeitungen, ohne auf die Unterschiede zur Originalausgabe der Massenpsychologie zu achten, geschweige denn darauf hinzuweisen. Nun aber hat Andreas Peglau eine sorgfältig editierte Neuausgabe des Originaltextes der Massenpsychologie des Faschismus von 1933 vorgelegt, ergänzt durch das Nachwort zur 2. Auflage von 1934, eine Zeittafel mit den wichtigsten Lebens- und Werkdaten zu Wilhelm Reich sowie einen biographisch-zeitgeschichtlichen Abriss, in dem der Kontext des Werkes vorzüglich erläutert wird. Diese Neuausgabe ist allen Lesern zu empfehlen, die nachvollziehen wollen, wie sich ein jüdisch-marxistischer Psychoanalytiker 1933 in einer Exil-Publikation mit dem sich abzeichnenden Unheil nationalsozialistischer Macht- und Gewaltpolitik auseinandergesetzt hat. Mögen auch manche der Antworten, die Wilhelm Reich damals gab, für unsere Zeit nicht mehr zutreffen – die Fragen, die er stellte, sind auch heute von höchster Aktualität (s. https://www.boell.de/sites/default/files/2020-11/Decker-Braehler-2020-Autoritaere-Dynamiken-Leipziger-Autoritarismus-Studie.pdf – Aufruf 01.12.2020). Der Schlaf der Vernunft, der Ungeheuer gebiert, ist die Voraussetzung der Macht der Lügenbarone in Washington (Trump) und London (Johnson), der Killerpräsidenten in Brasilien (Bolsonaro) und auf den Philippinen (Duterte), der kleinen Autokraten in Polen (Kaczyński) und Ungarn (Orbán), der lebenslänglich großen Führer in Moskau (Putin) und in Peking (Xi Jinping). Man muss die Angst schüren und die Wut auf andere lenken: das ist das Kalkül der Herrschaft, das Reich beschrieben – und an dem sich bis heute nichts geändert hat.
Auszug aus einer sehr viel ausführlicheren Besprechung der Neuedition von Wilhelm Reichs Massenpsychologie und Faschismus, die Bernd Nitzschke im Internet veröffentlicht hat. Link: https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=27469.