Experten befürchten mittel- und langfristige Risiken für die psychische Gesundheit von Kindern.
Seit dem 1. August 2013 gibt es für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr einen bundesweiten Rechtsanspruch auf einen öffentlich geförderten Betreuungsplatz. 2019 waren bundesweit 1,9% der Kinder unter einem Jahr in Kindertagesbetreuung. Die Eltern von gut einem Drittel der Einjährigen (37,1%) haben ein Angebot der Kindertagesbetreuung in Anspruch genommen, bei den Zweijährigen waren es schon fast zwei Drittel (63,2%). Die Betreuungsquote steigt stetig an.
Wieso engagieren wir uns?
Die AG Frühbetreuung der Arbeitsgemeinschaft Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie in der VAKJP (Verein Analytische Kinder- und Jugendpsychotherapie) hat den Aufruf (siehe Link) verfasst, weil uns die derzeitigen Mängel in der öffentlichen Frühbetreuung zutiefst beunruhigen, die aktuelle Erhebungen ans Licht brachten, nicht zuletzt, weil wir forschend und behandelnd als analytische Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapeutinnen laufend Einblicke in Lebensanfänge, Früherfahrungen und frühes Erleben erhalten und die nachhaltigen Wirkungen einer (zu) frühen und unzureichenden Fremdbetreuung kennen lernen. Derzeit ist laut der DKLK-Studie 2020 häufig bereits die Aufsichtspflicht in den entsprechenden Einrichtungen gefährdet. Uns beunruhigt auch, dass die auffälligen Profile des Stresshormons Cortisol bei Kleinkindern während und nach dem täglichen Krippenaufenthalt und die damit verbundenen neurophysiologischen und psychosomatischen Folgen nicht professionell bewertet werden. Weil wir wissen, dass die hohe Anpassungsfähigkeit der Kleinkinder an das Umweltsystem und das zunächst unauffällige Verhalten der Kinder nichts sagt über die Entwicklung ihrer inneren Werkzeuge für Selbstwahrnehmung, Denken, Empathie sowie Selbst- und Stressregulation, sehen wir uns in der Verantwortung, uns einzumischen. Das ist ein ungewöhnlicher Schritt, der uns aus dem gewohnten und sicheren Feld unserer Professionen in unbekanntere Handlungsfelder führt. Wer, wenn nicht wir, kann aber der vorsprachlichen emotionalen Erfahrungswelt und Lebenszeit der Kleinkinder den persönlichkeitsbildenden Stellenwert geben, den ihr die Sozialpolitik und derzeit auch die Gesellschaft vorwiegend aus der Perspektive intellektueller Bildung und sozialer Anpassung nur unzureichend zukommen lässt.
Gesellschaftliche Dynamiken formen das Bild vom Kind
Am Anfang des 21. Jahrhunderts hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass Kinder nicht vorwiegend Disziplinierung, sondern Unterstützung für ihre Entwicklung und Entfaltung brauchen. Daraus hat sich, neben der Aufgabe von Erwachsenen für den Schutz des Lebens auch eine fast verhängnisvolle Fehldeutung ergeben: So heißt es, Kinder brauchen in erster Linie Förderung durch Bildung, was vorwiegend als kognitive Förderung verstanden wird. Kognitive Anregung und Förderung ist sicher wichtig. Aber am Lebensanfang ist eine ausreichend verlässliche Beziehungserfahrung Voraussetzung für eine gelingende weitere Entwicklung – übrigens auch für die kognitive Entwicklung. Die Verbindung mit einem Anderen, der von Geburt an Verstehen und Halt zur Verfügung stellt, ist notwendig, damit aus rohen körperlichen und seelischen Zuständen Gedanken und die Erkenntnis entstehen kann „Ich bin“. „Du bist“. „Ich bewirke etwas in Dir.“ Diese basale, anspruchsvolle Arbeit leisten vor allem Eltern, die meistens mehr oder weniger gut gelingt. Im Hinblick auf eine möglichst störungsarme Entwicklung der Kinder ist es deshalb am effektivsten, die elterliche Kompetenz für die frühen Bedürfnisse der Kinder zu unterstützen. Dazu ist es nötig, die Qualität der Beziehung zum Kind in den Fokus zu rücken, ausreichend Zeit zu haben, das Kind kennen zu lernen und die Erfahrungen mit dem Kind zu reflektieren. Für diese Prozesse brauchen Eltern und Kinder ausreichend gemeinsame Zeit, die durch zu frühe Fremdbetreuung gefährdet sein kann.
Wenn mit der Forderung „Kinder brauchen möglichst früh Bildung“ Frühförderung in einer Institution“ gemeint ist, können sich darin aber auch andere Bedürfnisse, Wünsche oder Notlagen – persönliche und gesellschaftliche - verbergen, die nichts mit dem zu tun haben, was Kleinstkinder brauchen. Frauen haben (so steht es im Grundgesetz) das gleiche Recht auf eigenes Einkommen und berufliche Selbstverwirklichung wie Männer: ein familiärer Konflikt, der durch Fremdbetreuung gemildert oder gelöst wird, kann die Folge sein. Weil die Erwachsenen ihren Lebensstandart halten wollen oder auch die prekäre finanzielle Situation es erfordert, wird Fremdbetreuung gebraucht. Weil die Wirtschaft preiswerte weibliche Arbeitskräfte sucht oder auf gut ausgebildete Frauen nicht verzichten kann oder will, ist Fremdbetreuung nötig. Weil die noch immer patriarchalen Gesellschaftsstrukturen es Vätern schwer machen, sich die Verantwortung für die Pflege und Erziehung der Kinder mit den Müttern zu teilen, ist die Lösung Fremdbetreuung.
Die Erwachsenen befinden sich in einer Situation in der persönliche Wünsche und Ziele immer wieder in Konflikt geraten mit den Notwendigkeiten der Kinderfürsorge. Die Gründe für die Entscheidung zur Frühbetreuung beruhen jedoch gewöhnlich aus einem Geflecht individueller, familiärer und gesellschaftlicher Faktoren. Die Eltern gehen dann u.U. Kompromisse hinsichtlich der Krippenbetreuung ihrer Kleinstkinder ein, die Entwicklungsschwierigkeiten für die Kinder nach sich ziehen können. Das ist besonders dann der Fall, wenn die Frühbetreuung nicht an die Erfordernisse der Kinder angepasst ist.
Zu ergänzen ist, dass für Kinder aus „Problemfamilien“ Frühbetreuung eine Chance sein kann Defizite auszugleichen. Auch und gerade für diese Kinder wird eine hochwertige, professionelle Krippenbetreuung gebraucht, die an den Bedürfnissen der Kinder orientiert ist.
Die Corona-Pandemie aktualisiert die Forderungen unseres Aufrufs, weil sich die Probleme der unzureichenden Betreuung zuspitzen.
Die Schließung von Schulen und Kindertagesstätten hat einer Studie des Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg zufolge ( DLF 12.5.2020) unter den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie den größten Effekt und die Wachstumsrate der bestätigten Infektionen um 7,9 Prozentpunkte verringert. Hinter dieser Erfolgsmeldung verbirgt sich die Frage der Kinderbetreuung, als das größte soziale Dilemma der Coronakrise, welches sowohl die Familien als auch die Institutionen / Kitas vor kaum zu bewältigende Probleme stellt. Eltern fühlen sich zunehmend zermürbt und zerrissen zwischen beruflicher Heimarbeit und der Betreuung ihrer Kinder.
Der gewaltige Kraftaufwand, den Lebensunterhalt verdienen zu müssen und zugleich 24 Stunden verantwortungsvoll für die Kinder da zu sein, wird nicht adäquat unterstützt. Deshalb fordern Eltern als Lösung die baldige Öffnung der Kitas, unter welchen Bedingungen auch immer. Es geht ihnen weder darum, ihre gesellschaftliche Verantwortung, noch die für ihre Kinder loszuwerden, sondern sie kämpfen um das finanzielle Überleben als Familie. Wie können unter den derzeitigen Bedingungen die Grundbedürfnisse besonders von Kleinkindern berücksichtigt werden?
Die momentane Situation in den Kitas ist besorgniserregend, das gilt besonders für die unter Dreijährigen. Zum Beispiel, wenn der Mindestbetreuungsschlüssel ausgesetzt wird, um dem verschärften Personalmangel begegnen zu können. Oder, wenn die Kinder von wechselndem, fremden Personal betreut werden, da die bisherigen Bezugserzieherinnen fehlen oder die Gruppen anders zusammengesetzt werden. Ein Corona Elterngeld als Ausgleich für eine unbezahlte Freistellung oder im Falle einer Kündigung, würde den Eltern Unsicherheiten und Ängste nehmen, dafür Sicherheit und Zeit geben, sich auf ihre Kinder einstellen, sie versorgen, verstehen und fördern zu können. Die damit gegebene Möglichkeit Bindungsprozesse zu unterstützen, ist besonders für die Kleinkinder essentiell, damit sie sich körperlich und seelisch entwickeln können. Gleichzeitig würden Betreuer*innenmangel und Hygieneauflagen etwas leichter zu bewältigen sein, weil weniger Kinder in die Krippe gehen müssten.
Der Aufruf (siehe Link) enthält ähnliche Forderungen wie die oben genannten, aber auch weiterführende Lösungsvorschläge, die über die aktuelle Krise hinaus tragfähig die Bedürfnisse der Kleinkinder, der erwachsenen Mütter und Väter und der Betreuungsinstitution zusammenzuführen, ohne dass die basalen Bedürfnisse der Kleinkinder nach Beziehung, Halt, Verstehen vernachlässigt werden. Unsere Vorschläge zur Wende in der Frühbetreuung sind einschneidend und berücksichtigen die Bedürfnisse aller Beteiligten , wie das Elterngeld für Mutter und Vater in den ersten 24 Lebensmonaten, die Stützung der Väter und der familiären Triade, die Verbesserung der Ausbildung und Vergütung der Erzieherinnen, Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen, wie Gruppengröße und eine qualitativ hochwertige Forschung über Auswirkung und Folgen äußerfamiliärer Früherziehung.
Wie gehen wir vor?
Wir haben in allgemeinverständlicher Sprache in den vergangenen zwei Jahren für die Politiker nachstehenden Aufruf verfasst, den über 200 Experten und Hochschullehrer als Erstunterzeichner aus den Fachgebieten Psychotherapie, Pädagogik, Sozialwissenschaften, Medizin und Neurowissenschaften unterstützen. Über die Presse, die Medien und im Internet wollen wir eine breite Diskussion anstoßen. Wir möchten die politischen Entscheidungsträger, besonders das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und den gleichnamigen Ausschuss des Deutschen Bundestages und die zuständigen Ministerien und Abgeordneten auf Länderebene dazu bewegen, unsere Forderungen aufzugreifen und Veränderungen vorzunehmen. Wir vermuten, um überhaupt gehört und wirksam zu werden, ist ein Zusammenschluss von Experten und Institutionen verschiedener Fachgebiete, die sich in der frühen Entwicklung auskennen, nötig.
Aufruf zur Wende in der Frühbetreuung von Kindern
Falls Sie sich unserem Aufruf anschließen wollen, schicken Sie uns bitte eine e-mail an: kontakt(at)fruehbetreuung.de. Bitte teilen Sie uns Ihren vollen Fachabschluss und Ihre Berufstätigkeit mit.
Unsere webseite www.fruehbetreuung.de wird Ende Mai 2020freigeschaltet.
Dr.med. Agathe Israel und AKJP Gisela Geist
Sprecherinnen der Initiative