„Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste: Sentimentalität. … Aber die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand.” (Der Brandstifter Eisenring in Max Frisch, 1957, Biedermann und die Brandstifter).
Plötzlich war sie da. Jahrzehntelang hatte ich seit meiner Gymnasialzeit nicht mehr daran gedacht. Und dann, während der Bremer Frühjahrstagung mit dem bezeichnenden Titel „Gegenwart des Unheimlichen – unheimliche Gegenwart“ stieg beim Besuch einer Arbeitsgruppe zu „Populismus – Beunruhigung der Gegenwart - Offenes Gespräch“ die Erinnerung an Max Frischs Theaterstück „Biedermann und die Brandstifter“ in mir auf. Ich schob sie zunächst beiseite, aber sie kehrte immer mal wieder zurück, ließ sich nicht abweisen. Aufmerksam geworden begann ich das Stück erneut zu lesen und erfuhr, dass es letztes Jahr den 60. Jahrestag seiner deutschen Uraufführung in Frankfurt hatte – wo denn sonst in der damals noch so neuen Bundesrepublik? Mit Harry Buckwitz bei den Städtischen Bühnen Frankfurt hatte sich1958 ein Regisseur gefunden, der zu den wenigen gehörte, die ein kritisches Gespür für das Fortleben des braunen Sumpfes hatten, und die dann zu Beginn der 60er Jahre unter Führung von Fritz Bauer die Auschwitzprozesse initiierten.
Mit den Jahren ist Max Frischs Schauspiel etwas in Vergessenheit geraten und findet sich heute nur noch gelegentlich in den Spielplänen deutscher Bühnen. Aber: vielleicht wird es ja gerade wieder aufgeführt? Nicht im Theater, sondern im wirklichen Leben, auf das Frisch 1957 bei der Uraufführung in Zürich verwies? Im Vorwort der Suhrkamp-Ausgabe steht zu lesen: „das Lehrstück ohne Lehre“…. „entlarvt präzise eine Geisteshaltung, die der Technik des Totalitären zum Erfolg verhilft.“ Es sei „eine politische Parabel, die ihre kritische Kraft nicht aus der Entlarvung der Lüge und der Manipulation bezieht, sondern aus der Inszenierung der biedermännischen Wehrlosigkeit gegenüber Verbrechern, die sich überhaupt nicht tarnen, die vielmehr – woran erinnert das? – von Anfang an sagen, was sie wirklich wollen.“
Stellen wir uns also ein abendliches Essen bei Babette und Gottlieb – so heißen die Biedermanns bei Max Frisch – vor. Doch 2019 sind beide von Beruf Analytiker und Mitglieder eines psychoanalytischen Instituts. Sie haben zwei Freunde eingeladen, Colette und Etienne, ebenfalls Kollegen. Es dauert nicht lange, und das Gespräch kommt auf eine kontroverse Diskussion im Institut, nachdem an einem anderen Institut bekannt wurde, dass ein Kollege Mitglied in der „Alternative für Deutschland“ ist. Es hatte nun spontan auf einer Mitgliederversammlung eine Diskussion darüber gegeben, wie man sich in einem solchen Fall im eigenen Institut verhalten sollte. Da hat die DPV jetzt jemanden – wie im Original bei Max Frisch – auf dem Dachboden entdeckt, und man weiß nicht, wie man sich dazu verhalten soll: rauswerfen oder dabehalten.
Babette: Ihr wart ja leider nicht da bei der Mitgliederversammlung. So eine Diskussion haben wir schon lange nicht mehr gehabt!
Etienne: Wirklich? Ich habe auch schon gehört, dass es hoch her gegangen sein muss.
Gottlieb: So war es! Unglaublich kontrovers und zwar quer durch alle bisher uns bekannten ‚Fronten‘.
Babette: Ich habe unser Institut für einen Moment nicht wiedererkannt. Es kam eine feindselige Stimmung auf, in der – ich übertreibe jetzt mal, um die Richtung deutlich zu machen - die einen als politische Verfolger, die anderen als Parteigänger der neuen Rechten dastanden.
Gottlieb: Und das alles entzündete sich an der Frage, ob man im Falle eines Falles einen solchen Kollegen ausschließen sollte oder nicht.
Colette: Ist es nicht das, was wir immer erleben, wenn es um ‚entweder-oder‘ geht: dass man nicht mehr gemeinsam nachdenken kann?
Etienne: Aber worum gings denn inhaltlich in der Diskussion?
Babette: Also ich habe mich ganz klar gegen einen Ausschluss ausgesprochen! Wo kommen wir hin, wenn wir politische Gesinnungsschnüffelei betreiben und jemanden ausschließen, wenn er zu einer Partei gehört, deren Programm uns nicht passt.
Gottlieb: Das denke ich auch: immerhin sitzt diese Partei in mehreren Landesparlamenten und inzwischen auch im Bundestag. Sie ist nicht vom Bundesverfassungsgericht verboten. Ich denke, ob es uns gefällt oder nicht: wir müssen einfach akzeptieren, dass es auch in unseren Reihen Mitglieder dieser Partei gibt. – Ich gehe übrigens davon aus, dass es bei der Größe unserer Vereinigung mehr als nur dieses eine bekannt gewordene Mitglied gibt. Manche trauen sich wahrscheinlich nicht sich zu outen.
Etienne: Davon ist bestimmt auszugehen. Und ich meine auch, dass wir niemanden wegen seiner Parteizugehörigkeit ausschließen dürfen. Das würde wirklich zu einer Gesinnungsschnüffelei führen. Dann würde es ziemlich paranoid werden.
Babette: Genau! Aber komischerweise haben wir da keinen Konsens bei uns. Einige beharren ganz energisch auf Ausschluss. Ich fürchte, das würde auf eine Spaltung hinauslaufen. Ausschließen hieße doch Abspaltung, um das eigene psychische Gleichgewicht wieder zu finden!
Gottlieb: Eben! Was einige noch nicht begriffen haben ist, dass wir hier vor einer neuen Integrationsaufgabe stehen. Auch diese Rechten gehören zu uns – horribile dictu -, und wir müssen versuchen, uns damit auseinanderzusetzen. Wir müssen das Gespräch suchen, uns damit inhaltlich auseinandersetzen und das wirklich, wie sagt man, containen. So schwer uns das auch fällt.
Colette: Huch! Containen?? So wie in einer Selbsterfahrungsgruppe? Meint Ihr wirklich, das geht?
Babette: Wir sind sicher keine Selbsterfahrungsgruppe. Aber eben doch eine Gemeinschaft, die über das Berufliche hinausgeht. Sieh Dir doch nur unsere Vortragsveranstaltungen und Mitgliederversammlungen an: wie oft stehen wir vorher und hinterher beisammen, freuen uns, dass wir uns wiedersehen und tauschen auch oft persönliche Dinge miteinander aus.
Gottlieb: Eigentlich sind wir doch so etwas wie eine große Familie, oder?
Etienne: Na ja, wir benehmen uns zwar manchmal so, aber geht da nicht unter, dass wir ein Berufsverband sind? Dass wir eine Satzung mit Zielen und Zwecken haben, und dass wir dafür monatlich bezahlen?
Gottlieb: Aber das sind doch nur formale Dinge! Sollen wir wie Psychoanalyse-Beamte argumentieren mit der Satzung unseres Vereins?
Etienne: Mhm…. Das geht mir jetzt alles etwas zu schnell. Immerhin steht doch etwas ziemlich Wichtiges in unserer Satzung: wenn ich mich richtig erinnere wird als Zweck unserer Vereinigung festgehalten, dass wir uns auf die Förderung der von Sigmund Freud begründeten Wissenschaft der Psychoanalyse verpflichten. Und sind wir damit nicht ganz zentral auf Aufklärung im weitesten Sinn verpflichtet?
Babette: Ja eben: gerade, weil wir der Aufklärung verpflichtet sind, müssen wir auch sehen, dass es bei uns auch Leute mit rechten politischen Ansichten gibt. Das dürfen wir doch nicht ignorieren und Idealen von einheitlichem Denken hinterherjagen!
Colette: Schön und gut. Aber müssen wir deshalb jemanden bei uns akzeptieren, der zu einer Gruppe gehört, die contra-aufklärerisch orientiert ist?
Babette: Wie meinst Du das?
Colette: Da ließe sich eine lange Liste aufzählen. Habt Ihr über die zunehmenden Kämpfe mit dem rechtsradikalen Flügel innerhalb der ‚Alternativen‘ in Nordrhein-Westfalen oder in der Fraktion des Münchner Landtages gelesen? Hast Du mal die Reden von Björn Höcke gehört? Der die Re-Germanisierung des deutschen Volkes fordert? Habt Ihr mal überlegt, was das für unsere analytische Vereinigung bedeutet? Für unsere Mitglieder und Ausbildungskandidaten aus Osteuropa, aus dem Iran, aus Asien? Für unsere jüdischen Mitglieder? Oder für uns aus Frankreich?
Inzwischen war in der Diskussion unübersehbar eine angespannte Stimmung entstanden, aber da man miteinander befreundet war, legte man den eigenen Affekten Zügel an, ließ es nicht zum Äußersten kommen.
Gottlieb: Tja, der Björn Höcke. Das ist doch der Rechtsaußen der AFD. Damit kannst Du doch nicht alle AFD-Mitglieder identifizieren! Die kommen doch aus allen Schichten der Bevölkerung. In der AFD gibt es doch auch viele gemäßigte Kräfte, die nicht einverstanden sind mit solchen Positionen. Und gerade als Psychoanalytiker dürfen wir den Einzelnen doch nicht mit der Gruppe erschlagen. Wir müssen doch das Individuum sehen, oder?
Etienne (gereizt): Ach wirklich? Ich meine, in der klinischen Situation mit unseren Patienten ist das ja sehr angebracht. Aber in unserem Verein, der sich doch berufspolitisch positionieren muss, kommt doch etwas anderes ins Spiel. Berufspolitisch denke ich an Bions „Arbeitsgruppen-Niveau“, und das heißt auch möglichst klare Grenzen zu definieren, was und wer zu uns gehört und wer nicht. Sonst laufen wir doch Gefahr genau die Position vieler Bürger und Intellektueller, die in den 30er Jahren Mitglied der NSDAP wurden, zu vertreten, und die sich bei jeder Gelegenheit von den Radikalinskis in ihrer Partei verbal distanzierten, aber nicht austraten. Wo hat sich denn die AFD distanziert von den gewaltbereiten Glatzen in Chemnitz und Köthen, die teilweise mit dem Hitlergruß durch die Straßen marschierten? Im Gegenteil: sie sind mitgelaufen! Und hast Du etwas von vehementem Protest in der AFD gehört, als Herr Gauland die Nazizeit als einen ‚Vogelschiss‘ in der ‚tausendjährigen stolzen Geschichte der Deutschen‘ bezeichnete? Oder hat es einen Sturm der Entrüstung bei den ‚Alternativen‘ gegeben, als Gauland davon sprach, dass wir stolz sein können auf die Leistungen der deutschen Wehrmacht im 2. Weltkrieg? Und das nach der Wehrmachtsausstellung! - Die Partei blieb größtenteils stumm, nur vereinzelt erfährt man von Austritten, wie zum Beispiel vor kurzem der Fraktionsvorsitzende der AFD im Münchner Stadtparlament.
Gottlieb (um Entspannung bemüht, sich zurücklehnend, scheinbar bedächtig): Aber Etienne, das ist ja alles richtig. Aber haben wir wirklich das Recht ein einzelnes Mitglied dieser Partei sofort mit dieser braunen Soße zu identifizieren? Müssen wir nicht vielmehr das Gespräch suchen und zunächst ganz vorurteilslos daran gehen? Ist das humanistische Weltbild der Psychoanalyse nicht gerade dem Individuum verpflichtet?
Colette: Das hört sich sehr gesprächsfreundlich und offen an, lässt doch aber etwas Entscheidendes außer Acht: denn, wenn jemand Mitglied dieser ‚Alternative‘ ist, dafür monatlich Mitgliedsbeiträge bezahlt und womöglich noch Funktionen in der Partei übernimmt, heißt das nicht, dass er tatsächlich die Partei als Ganzes unterstützt? Er unterstützt doch qua Parteimitgliedschaft auch die Rechtsradikalen, die in der AFD jetzt „der Flügel“ genannt werden. Und er ist gerade nicht ein Individuum, dass gedanklich mit der einen oder anderen Position dieser Partei konform geht, sondern qua offizieller Mitgliedschaft eben Parteigänger einer Gruppe mit allen ihren Flügeln. Vargos Llosa hat in seinem neuen Roman Karl Popper zitiert und vom „Ruf der Horde“ gesprochen, dem diese Leute folgen. Und wenn Ihr ihn dann nur noch als Individuum sehen wollt, ignoriert Ihr doch gerade diesen ganz entscheidenden Aspekt!
Etienne: Das denke ich auch. Dass hieße doch davon abzusehen, dass hier jemand contra-aufklärerische Positionen unterstützt und damit gegen Ziele und Zwecke unseres Vereins verstößt! Gerade aus diesem berufspolitischen Konflikt heraus müssen wir so Jemanden ausschließen. Schau doch mal in unsere Satzung und den Ethikkodex, wo verwiesen wird auf die Erklärung der Menschenrechte, auf das deutsche Grundgesetz und den IPA-Ethikkodex. Das alles steht doch diametral gegen diese ‚alternative‘ Ideologie.
Colette: Ich frage mich, wie sich unsere Kollegen und Ausbildungskandidaten, die den sog. Migrationshintergrund haben, eigentlich fühlen müssen, wenn wir offizielle Vertreter dieser Linie in unseren Reihen dulden? Vor kurzem hat die AFD-Fraktion im Baden-Württembergischen Landtag eine Anfrage nach der Staatsangehörigkeit und dem Ausbildungsort der Künstler an den Landesbühnen gestellt! Wollen wir auf die nächste Anfrage nach Staatsangehörigkeit, Herkunft und Ausbildungsort von Analytikern in diesem Lande warten? Ist das und vieles Anderes, was jeden Tag bekannt wird von den ‚Alternativen‘, nicht enorm schädlich für das Ansehen unserer Vereinigung in der Öffentlichkeit?
Babette (jetzt lauter werdend): Ich denke, dass es gerade das Ansehen unserer Vereinigung stärkt, wenn wir die Wahrnehmung demokratischer Freiheiten und Rechte auch bei uns unterstützen und gerade nicht jemanden ausschließen, bloß weil uns das Programm der ‚Alternative‘ oder einzelne Aussagen ihrer Mitglieder nicht gefallen.
Etienne (seufzt): Oh je! Da kommen wir wirklich nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Ich denke, die allgemein politische Verpflichtung auf demokratische Spielregeln in unserer Vereinigung ist eine Sache. Hier denken wir als Staatsbürger, die sich den gesetzlich vorgegebenen Regeln unterwerfen. Und da können wir Konsens haben. Aber eine andere Sache ist es doch psychoanalytisch zu denken. Ich denke da an Wolfgang Loch, der 1974 in einer seiner zentralen Arbeiten festgehalten hat, dass die Psychoanalyse verpflichtet ist, alle Macht- und Herrschaftspositionen, alle Gesetze und vorab die Rahmenbedingungen, die sie zur Erreichung ihres Zieles einnehmen und einsetzen muss, ihrer eigenen Untersuchungsmethode zu unterwerfen. Sehr klar und eindeutig hat er das vertreten! Wir können m.E. nicht dabei stehen bleiben gesetzestreue Bürger zu sein, sondern als Mitglieder unseres Berufsverbandes müssen wir in erster Linie unsere Rahmenbedingungen, auch die unserer Vereinigung, psychoanalytisch reflektieren. Muss man denn erst Mitglied der CDU sein, um zu sehen, dass da Brandstifter unterwegs sind, dass die rechtsextreme Gewalt, die jetzt Walter Lübcke ermordete, ihre sprachlichen Propagandisten bei der AFD hat? Das können wir doch eigentlich mit unseren psychoanalytischen Bordmitteln auch feststellen, oder? Das alles unterstützen Mitglieder der ‚Alternativen‘, ob sie das bewusst wollen oder nicht; ebenso Projekte der Re-Germanisierung. Ich will hier gar nicht ausführen, was das psychoanalytisch betrachtet heißt. Das ist ja alles in etlichen Artikeln und Büchern bereits ausbuchstabiert worden. Jedenfalls trägt doch jedes einzelne Mitglied bei denen für so etwas Verantwortung. Egal ob sie laut auf dem Marktplatz völkischen Bullshit verbreiten oder still ihre Mitgliedsbeiträge bezahlen. Und wollt Ihr das wirklich ignorieren mit der Haltung eines ordentlichen demokratischen Bürgers, der das Individuum hochhalten will? Hieße das nicht von der gewollten und unterstützenden Zugehörigkeit zu den ‚Alternativen‘ abzusehen?
Babette: Mensch Etienne, jetzt haben wir hier eine Diskussion wie neulich in unserer MV. Ich muss sagen, dass ist mir alles zu radikal. Wir können doch nicht unsere analytischen Deutungen über das, was gesetzlich gefordert ist, stellen! Ich sage Dir voraus, dass wir juristisch einen Ausschluss der ‚Alternativen‘ nie durchgesetzt kriegen. Die werden dagegen erfolgreich klagen, und wir müssen sie bei uns behalten.
Colette: So what? Lass sie doch gegen einen Ausschluss klagen! Lass sie doch vor Gericht gewinnen! Vielleicht gehen wir in die Berufung, vielleicht auch nicht? Aber zentral für uns als Analytiker ist, dass wir uns positionieren! Dass wir Flagge zeigen! (Mit Emphase:) Machen wir es doch wenigstens diesmal anders als unsere Kollegen in den 30er Jahren, die ganz gesetzestreu unseren Verband gleichgeschaltet und unsere jüdischen Kollegen ausgeschlossen haben. Die haben genau das vermissen lassen, was Wolfgang Loch fordert: nämlich psychoanalytisch zu reflektieren, was das denn für unseren Verband bedeutet die jüdischen Mitglieder auszuschließen. Wenn sie das gemacht hätten, hätten sie nicht naiv glauben können, noch irgendwie psychoanalytisch weiterarbeiten zu können. Sollten wir AFD- Mitglieder erfolgreich ausschließen, werden sie sich natürlich laut lamentierend als Opfer darstellen, um nicht sehen zu müssen, dass sie berufspolitisch quer zu dem stehen, was wir als Analytiker anstreben. Ich jedenfalls würde gern in der Zeitung lesen – auch im Fall einer juristischen Niederlage -, dass die Deutsche Psychoanalytische Vereinigung Mitglieder der ‚Alternativen‘ nicht in ihren Reihen haben will.
Gottlieb: Also Ihr wollt doch wohl nicht im Ernst die aktuelle Situation gleichsetzen wollen mit der der 30er Jahre als die Nazis an die Macht kamen? Ihr tut ja gerade so als ob die Nazis wieder vor der Tür stehen. Übergeht Ihr damit nicht, dass wir heute in einer ganz anderen geschichtlichen Situation leben? Ich habe überhaupt keine Sorge, dass unser großer Verband mit seinen vielen kritischen Mitgliedern i. S. eines Björn Höcke gleichgeschaltet werden könnte. Verrennt Ihr Euch da nicht etwas?
Colette: Da stimme ich Dir gern zu: dass die politische und auch berufspolitische Situation von uns Analytikern heute anders ist als damals. Was allerdings die allgemeine politische Situation angeht, so erleben wir momentan besonders im Osten Deutschlands, wie die AFD erfolgreich staatliche Institutionen besetzt – ganz so, wie es vor 1933 in der Weimarer Republik war. Bei der Bundeswehr, der Polizei und im Verfassungsschutz breiten sie sich erfolgreich aus! Wenn ich hier das Beispiel der damaligen Selbstgleichschaltung bei der DPG bemüht habe, dann nur, um deutlich zu machen, wohin ein Denken in nur staatsbürgerlichen Kategorien und ein Absehen von psychoanalytischer Reflexion bei uns letztlich führen kann. Unser Verband ist eben nicht nur eine politische Konstruktion, sondern – und deshalb haben wir ihn ja gegründet – zuallererst eine Rahmenbedingung für psychoanalytisches Forschen und Heilen, wie es so schön heißt.
So ging es noch lange hin und her an diesem Abend bei den Biedermanns und schließlich trennte man sich mit einer unübersehbaren Missstimmung.
Max Frisch hatte 1958 für die deutsche Erstaufführung seines Stückes noch ein Nachspiel geschrieben. An dessen Stelle haben wir hier jetzt Nachgedanken von Colette und Etienne auf ihrem
Heimweg
Colette: Oh je, ich glaube wir haben uns da ganz schön in die Nesseln gesetzt.
Etienne: Na ja, wirklich neu war ja für die nicht, was wir gesagt haben.
Colette: Mag sein, aber irgendwie dringen unsere Überlegungen nicht zu ihnen durch. Deren Position ist so gesetzestreu und staatskonform: man will keine Gesinnungsschnüffelei betreiben, niemand soll wegen seiner politischen Auffassung ausgegrenzt werden, man muss das Individuum sehen usw. Das sind alles Sachen, die ich auch unterschreiben kann. Aber dabei bleiben sie stehen.
Etienne: Ja, es ist, als ob sie dann nicht mehr Analytiker sein und weiterdenken dürfen. Als ob eine Angst vorherrscht klar zu sehen, dass hier das Individuum unbewusst einen Pakt geschlossen hat mit etwas Regressiv-Destruktivem, das wirklich ‚alternativ‘ ist zu dem was wir mit der Psychoanalyse anstreben. Deshalb finde ich deren Parteinamen so ungemein treffend: Alternative für Deutschland! Ich denke hier geht es doch ganz zentral um eine berufspolitische Unvereinbarkeit, nicht um eine allgemein politische!
Colette: Schon merkwürdig, dass eine psychoanalytische Position gegen diese ‚Alternative‘ so in Frage gestellt wird. Meinst Du, das hängt mit der deutschen Geschichte zusammen? Schließlich haben sie in den 30er Jahren schonmal gekniffen und waren lieber gesetzeskonform als analytische Denker. Und jetzt sonnen sie sich in Demokratie und Gesetz und argumentieren juristisch.
Etienne: Ich weiß nicht. Mit solchen historischen Vergleichen sollten wir vorsichtig sein. Wer weiß, wie wir uns damals verhalten hätten mit der Angst im Nacken. Aber heute, denke ich, brauchen wir eigentlich keine Angst zu haben.
Colette: Neulich sprach ich mit Jonathan. Du weißt, das ist der, der als Organisationsberater arbeitet. Er fragte mich, ob wir in der DPV überhaupt in unserer Satzung so etwas wie ein ‚Leitbild‘ formuliert haben? Das haben wir ja tatsächlich nicht, und er meinte, das haben inzwischen viele Organisationen und Vereine. Da könnte man doch reinschreiben, dass die Mitgliedschaft in der DPV unvereinbar ist mit rassistischen, antisemitischen, xenophoben und/oder Gewalt verherrlichenden Haltungen. Unsere Satzung mit dem Verweis auf das Grundgesetz, die UN-Charta und den IPA-Ethikkodex ist da viel zu schwammig.
Etienne: Gute Idee. Aber das alles braucht etwas Mut und vielleicht auch mehr Lust an der Analyse. Momentan fürchte ich, dass die Sache in vielen Panels und Arbeitsgruppen totdiskutiert wird, um dann sagen zu können, wir haben alles besprochen.