Birgit Gaertner: Psychoanalyse an der Hochschule – Nischenexistenz und Faszinosum zugleich

 Psychoanalyse an der Hochschule – Nischenexistenz und Faszinosum zugleich[1]

0.Einleitung:

Seit einigen Jahren versuchen Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung – insbesondere Frau Esther Horn  - die Studierenden als Zielgruppe der Frühjahrs- und Herbsttagungen  gezielt anzusprechen. Eine Fachgesellschaft tut dies natürlich nicht ganz uneigennützig: die Studierenden der Geisteswissenschaften, der Medizin, der Psychologie, der Sozialpädagogik und der Erziehungswissenschaften bilden die zukünftige akademische Generation, die wir für die Psychoanalyse und ihre vielfältigen Anwendungen zu interessieren suchen. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle die Psychoanalyse an den universitären Ausbildungsstätten selbst - den Hochschulen - spielt und ob und wie der Brückenschlag zwischen der akademischen Welt und der Psychoanalyse hergestellt werden kann.

In über dreißig Jahren Lehre in den Fächern Sozialisationstheorie, Entwicklungspsychologie, Psychotherapie und Klinische Psychologie in durchweg praxisorientierten, anwendungsbezogenen Studiengängen (Soziale Arbeit, Musiktherapie und Psychosoziale Beratung) habe ich wiederholt eine paradoxe, oft auch verwirrende Erfahrung gemacht: die Psychoanalyse  und die lehrenden Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen  treffen in den akademischen Institutionen nicht selten auf Abwehr, zuweilen auch auf Entwertung. Die psychoanalytischen Konzepte und Inhalte jedoch üben in der Lehre durchaus Faszination aus und werden von den Studierenden zwar nicht breit, aber intensiv und oft mit großem Interesse rezipiert. Diese widersprüchliche Ausgangslage versuche ich im Folgenden zu beleuchten.

Ich beginne mit einer exemplarischen Beschreibung der Situation der Psychoanalyse an der Goethe-Universität in Frankfurt im Zeitraumder 60er bis 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts und einigen wenigen, kursorischen Ausführungen zur Situation an den Universitäten in Gießen und Kassel. In einem zweiten Schritt skizziere ich kurz die gegenwärtige institutionelle Rolle der Psychoanalyse und ihre personelle Verankerung an diesen Hochschulen. In einem dritten Schritt erörtere ich thesenartig mögliche Ursachen des Bedeutungsverlustes der Psychoanalyse in der hiesigen akademischen Welt. Der letzte, vierte Abschnitt untersucht kursorisch das der Psychoanalyse inhärente Faszinosum,  wie es gerade auch in universitären Kontexten nach wie vor beobachtbar ist.

I. Die Situation der Psychoanalyse an den Universitäten in den 60er bis 90er Jahren

„Obwohl stets umstritten, zählt das Freudsche Werk zu jenen intellektuellen Leistungen, die das 20. Jahrhundert entscheidend mitgeprägt haben. Sein bleibender Verdienst liegt wohl darin, dass er die Wissenschaft vom Unbewussten nicht auf den ärztlich-klinischen Aspekt beschränkte, sondern sie auf allgemeine kulturell-gesellschaftliche Phänomene ausdehnte.“ (Lohmann, H.- M., 2006)

Mit diesen Worten beginnt Hans-Martin Lohmann im Jahre 2006 im Deutschlandfunk seine Würdigung des wissenschaftlichen Lebenswerks Sigmund Freuds aus Anlass von dessen 150.Geburtstag. Bemerkenswert an dieser Formulierung ist die Betonung der intellektuellen Wirkmacht der Psychoanalyse weit über die klinische Arbeit hinaus auf die wissenschaftlichen Diskurse in den Geistes- und Kulturwissenschaften. Andere Autoren wie Joachim Küchenhoff (2005) , Peter Gay (2006), aber auch der Zeithistoriker Christian Geulen (2010) , der nicht zur psychoanalytischen Zunft gehört,  gehen noch einen Schritt weiter: sie bescheinigen der Psychoanalyse, dass sie „zu denjenigen wissenschaftlichen Theorien gehört, deren Formeln ......das außerwissenschaftliche Denken und Sprechen im 20. Jahrhundert besonders nachhaltig beeinflusst haben“ (Geulen, 2010, S.6, Hervorhebung B.G.). Peter Gay bringt den Einfluss der Psychoanalyse auf das alltägliche Bewusstsein kurz und bündig auf den Punkt:

„Wir alle sprechen die Sprache Freuds, ob wir es wissen oder nicht, ob wir ihn hoch verehren oder tief verachten. Die psychoanalytische Lehre oder zumindest der psychoanalytische Jargon ist unaustilgbarer Bestandteil unserer Welt geworden.“  (Gay, P. 1989, S.XIII)

Trotz dieser Allgegenwärtigkeit psychoanalytischer Denkfiguren und Konzepte im Alltagsbewusstsein ist die Psychoanalyse an den Stätten des institutionalisierten Denkens und Forschens, an den Hochschulen und Fachhochschulen in Deutschland in die Defensive geraten und zum Teil auch verschwunden. Otto Kernberg sieht in dieser Entwicklung ein globalesPhänomen im Verhältnis von Psychoanalyse und Universität :

„Die Psychoanalyse ist als wesentlicher Beitrag zur Kultur des 20. Jahrhunderts anerkannt, aber ihre zukünftige Rolle als Wissenschaft und Profession ist unsicher und wird infrage gestellt.“ (Kernberg, O.F., in: Mauss-Hanke, A., 2012, S.209)

Dies war nicht immer so. Ein  Blick in das vergangene Jahrhundert mag dies verdeutlichen.

InFrankfurt hatte Alexander Mitscherlich  an der Johann-Wolfgang – Goethe – Universität von 1967 bis 1976 eine Professur für „Psychologie, insbesondere Psychoanalyse und Sozialpsychologie“  inne.  Dieser Lehrstuhl wurde  1975 in ein „Institut für Psychoanalyse“ mit drei Hochschullehrerstellen umgewandelt, die von den  Psychoanalytikern Hermann Argelander, Peter Kutter und  Hans-Volker Werthmann besetzt wurden. Werthmann beschreibt, auf welch erbitterten Widerstand die Implementierung der Psychoanalyse und dieses Instituts in den Fachbereich Psychologie der Goethe-Universität stieß und spricht in diesem Zusammenhang von einer „erneuten Exilierung der Psychoanalyse aus dem Fächerkanon der Psychologie“ innerhalb des Fachbereiches (Werthmann, H.-V., 2011, S.36); man habe den Psychoanalytikern weder  die Prüfungserlaubnis im Fach Klinische Psychologie erteilt, noch habe er in den 25 Jahren seiner Hochschullehrertätigkeit Klinische Psychologie im Regelcurriculum des Psychologiestudiums lehren können. „Damals..... mussten und konnten die Psychologiestudenten das Lehrangebot des Instituts für Psychoanalyse nur mit der Bereitschaft nutzen, zusätzliche Zeit dafür aufzuwenden. Das taten sie in großem Umfang. Die zweite Hälfte der 70er Jahre bis gegen Ende der 90-er war eine Hochblüte des Ansehens und Wachstums der Psychoanalyse an der Universität Frankfurt.“  (ebenda) .

Aber auch in anderen Fakultäten der Goethe Universität war die Psychoanalyse (wenn auch immer umstritten) einmal prominent vertreten, so z.B. in der medizinischen Fakultät. Stavros Mentzos leitete von 1971 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1995  als Universitätsprofessor die neu gegründete Abteilung für  Psychotherapie und Psychosomatik  und führte damit die Psychoanalyse „...  in die medizinische Ausbildung und in die Klinik“ ein – „während ähnliche Anläufe – besonders durch Alexander Mitscherlich etwa 10 bis 15 Jahre früher – auf einen entschiedenen Widerstand innerhalb der medizinischen Fakultät gestoßen waren“ (Mentzos, St., 1996. S.544).  Dass die Implementierung von Psychosomatik und Psychotherapie  hier überhaupt gelang, hing wohl wesentlich mit der neuen Approbationsordnung von 1969 zusammen, „welche die psychosomatische Medizin und die Psychotherapie als Lernziele in der medizinischen Ausbildung“ erstmals vorschrieb und hierfür neue personelle und institutionelle Strukturen vorgehalten werden mussten (ebenda, S. 542).   Die Abteilung von Mentzos wuchs in den Folgejahren stetig. Es gelang die zusätzliche Einrichtung  einer eigenständigen Professur für Psychosomatik im Jahre 1976 (Prof. Dr. Overbeck) sowie die Integration der Psychotherapeutischen Beratungsstelle für Studierende. Mentzos skizziert die Entwicklung nicht ohne Stolz: „Im April 1995 verfügte die Gesamtabteilung über 15 Stellen (einschließlich der zwei Professorenstellen), davon fünf im Funktionsbereich Psychosomatik und vier in der Psychotherapeutischen Beratungsstelle für Studierende.“ (S.545). Es  habe  sich  in den ersten Jahren „aufgrund der insgesamt eher antipsychoanalytischen Position der Psychiatrieeine gewisseDistanzierung, wenn nicht Polarisierung zwischen Psychiatrie und Psychotherapie“ entwickelt (ebenda), dies habe aber auch den Raum zu einer eigenständigen, vertieften inhaltlichen Profilierung hin zu einer ambulanten poliklinischen  Tätigkeit mit psychoanalytisch orientierter Diagnostik und Behandlung  eröffnet:

„Um ein nur äußeres und eher erheiterndes Merkmal dieser Distanzierung und der damit zusammenhängenden Schwierigkeiten zu erwähnen: Es hat eine gewisse Zeit gedauert, bis man einsehen und sich an die Tatsache gewöhnen konnte, dass bei dieser psychotherapeutischen Tätigkeit – zumal in der Ambulanz – das Tragen eines weißen Kittels nicht nur funktionslos, sondern auch absurd war.“ (Mentzos, 1996,S. 546)

Doch nicht nur in der  Psychiatrie und in der Psychosomatik spielte die Psychoanalyse an der Goethe Universität in diesen drei Jahrzehnten (70er bis 90er Jahre) eine bedeutende Rolle. Am Zentrum der Psychosozialen Grundlagen der Medizin hatte Michael Lukas Moeller die Professur für Medizinische Psychologie und der psychoanalytisch orientierte Sexualwissenschaftler Volker Sigusch die Professur für Sexualwissenschaft inne.

Am Institut für Heil- und Sonderpädagogik der Goethe-Universität lehrte der Psychologe und Psychoanalytiker Prof. Dr. Aloys Leber von 1972 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1986 das Fach Heilpädagogische Psychologie unter besonderer Berücksichtigung therapeutischer Verfahren und implementierte die psychoanalytische Pädagogik in die Erziehungswissenschaft. Leber hatte in Frankfurt  jahrelang ein psychotherapeutisches Heim für verhaltensgestörte Kinder und Jugendliche geleitet und  knüpfte in seiner Konzeption an die Arbeiten Aichhorns und Zulligers an. Seine legendären viersemestrigen Praxisreflexionsseminare für Studierende der Sonder-und Heilpädagogik unter Einbezug des szenischen Verstehens haben Generationen von Sonderschullehrern für die unbewussten Prozesse in der Interaktion zwischen dem Erzieher und seinen Schülern und Zöglingen sensibilisiert.

Der  Begriff des „Szenischen Verstehens“ geht wesentlich auf die Arbeiten von Lorenzer  zurück. Von 1974 bis zu seiner Emeritierung  1991 hatte der  Mediziner, Psychiater und Psychoanalytiker  Alfred Lorenzer , der zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut und  dann Professor an der Universität Bremen  gewesen war, einen Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Sozialisationstheorie an der Goethe-Universität inne. Ein Mediziner und Psychoanalytiker auf einem Lehrstuhl für Soziologie  - das war auch in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts zumindest ungewöhnlich.

Mit diesen Ausführungen ist die Situation der Psychoanalyse an der Johann Wolfgang Goethe Universität im Zeitraum von Mitte der 60er bis in die 90er Jahre umrissen. Bevor ich in einem zweiten Schritt der Frage nachgehe, welche Spuren dieser einstigen Präsenz der Psychoanalyse an den verschiedenen Fakultäten und Fachbereichen  der  Frankfurter Universität wir heute noch vorfinden  können, muss der Vollständigkeit halber wenigstens erwähnt werden, dass natürlich auch an anderen Hochschulen allein in Hessen, z.B. an der Gießener Universität und insbesondere an der Universität Kassel (damals noch Gesamthochschule Kassel) wichtige Lehrstühle psychoanalytisch besetzt waren:  Horst-Eberhard Richter hatte bereits ab 1962 den Lehrstuhl für Psychosomatik in Gießen inne und baute Abteilungen für medizinische Soziologie und für medizinische Psychologie auf. In Kassel gab es mit Prof. Dieter Eicke, Prof. Dieter Ohlmeier und Prof. Hartmut Radebold gleich drei psychoanalytisch besetzte Professuren allein am Fachbereich Sozialwesen, also in der Ausbildung von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen. Am Fachbereich Erziehungswissenschaften hatte Hans Kilian einen Lehrstuhl für Sozialpsychologie und angewandte Psychoanalyse inne; wenig später kamen die  Psychoanalytiker Helmut Junker und  Eugen Mahler sowie der mit der Psychoanalyse sehr verbundene Philosoph Prof. Ulrich Sonnemann  hinzu. Ab Ende der 80er Jahre besetzten Prof. Marianne Leuzinger – Bohleber und Prof. Ralf Zwiebel die Stellen für Psychoanalyse am Fachbereich Erziehungswissenschaften sowie Rolf Peter Warsitz eine Professur für Soziale Therapie am Fachbereich Sozialwesen. (Radebold, H. , 1997. S. 19f.).

II. Zum gegenwärtigen Stand der Psychoanalyse an den Universitäten

Die Blütephase der Psychoanalyse an den erwähnten Universitäten war nicht von Dauer.

Heute gibt es im Institut für Psychologie der Goethe Universität noch einen sog. ArbeitsbereichPsychoanalyse mit einem Lehrstuhlinhaber (Prof. Dr. Tilman Habermas ) sowie einer psychoanalytischen Hochschulambulanz (Dr. Döll-Hentschker).  Die universitäre Psychiatrie wurde mit der  Psychosomatik und der Psychotherapie zusammengelegt, wobei letztere von behavioralen und psychoedukativen Konzepten fast vollständig dominiert ist. Der psychoanalytische Zugang zu psychosomatisch und psychiatrisch erkrankten Patienten wird von einem Psychoanalytiker (Prof. Dr. Ralph Grabhorn) und einigen wenigen in psychoanalytischer Ausbildung befindlichen Psychologen gewährleistet. Die ehemals eigenständigen Abteilungen für Psychosomatik, Medizinische Psychologie, Medizinische Soziologie, Sexualwissenschaft gingen in das Zentrum der Gesundheitswissenschaften und dort wiederum in das  Institut für Arbeits,- Sozial- und Umweltmedizin und in das Institut für Medizinische Psychologie ein.  Die Psychoanalyse spielt hier keine Rolle mehr.

In der Erziehungswissenschaft hingegen konnte die Nachfolge von Prof. Leber  gewahrt und einschlägig mit Prof. Katzenbachbesetzt werden. Auch die Nachfolge von Prof. Lorenzer konnte (hälftig an der Uni, hälftig am SFI) zunächst mit Prof. Haubl und nun mit Prof. Vera King besetzt werden.  An der Giessener Universität konnte in der Medizin die Psychosomatik mit Prof. Kruse und Prof. Leichsenring erhalten werden, in den Erziehungswissenschaften lehrte bis vor kurzem die Psychoanalytikerin Heike Schnoor.

An der Kasseler Universität  führte das Ausscheiden zunächst der Professoren Junker, Ohlmeier und Radebold und seit 2007 auch von Prof. Warsitz aus dem Fachbereich Sozialwesen zu einem Aderlass in der psychoanalytischen Lehre. Allerdings konnte an der Kasseler Universität fast 10 Jahre später ein postgraduales Studienprogramm Psychoanalyse aufgebaut werden, dass den Erziehungswissenschaften und den Studierenden der Sozialpädagogik und Sozialarbeit gleichermaßen offensteht und in enger Kooperation mit den analytischen Ausbildungsinstituten verwirklicht wird . Mit Prof. Patrick Meurs  als Nachfolger für Prof. Marianne Leuzinger –Bohleber ist es nach heftigen Konflikten gelungen, eine psychoanalytische Eckprofessur  am Institut für Erziehungswissenschaften zu erhalten. Insgesamt jedoch hat die Psychoanalyse auch an der Kasseler Universität in den letzten 25 Jahren unzweifelhaft an Präsenz und Bedeutung verloren. Im Folgenden soll den möglichen Ursachen thesenartig nachgegangen werden.

III. Thesen zum Bedeutungsverlust der Psychoanalyse an den Universitäten

III. 1. Gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen:

Die beschriebene Blütephase der Psychoanalyse stand in engem Zusammenhang mit der besonderen historischen und politischen Situation in den 6oer  und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Einerseits wurde die Psychoanalyse von der studentischen Protestbewegung als emanzipatorische Theorie des Subjekts zuweilen euphorisch rezipiert (allerdings auch, wie Radebold 1997 formuliert, mit fast „heilsartigen“ Erwartungen überfrachtet). Die Wertschätzung der Psychoanalyse reichte – und dies ist historisch sicherlich einmalig -  bis weit in die Reihen politischer Entscheidungsträger hinein: der hessische Ministerpräsident August Zinn etwa hatte wesentlichen Anteil an der Gründung des späteren Sigmund Freud Institutes, er wollte die Bemühungen Mitscherlichs zur wissenschaftlichen Etablierung einer psychoanalytischen Psychosomatik und Sozialpsychologie in Deutschland mit Nachdruck unterstützen, nachdem Mitscherlich schon Jahre zuvor in der Medizinischen Fakultät der Goethe Universität hiermit gescheitert war (vgl. hierzu auch Leuzinger-Bohleber, M. 2017).

Der spätere hessische Minister für Wissenschaft und Kunst (und ehemalige Mitarbeiter von Adorno und Horkheimer), Ludwig von Friedeburg, setzte sich an der dezidiert als Reformhochschule konzipierten Gesamthochschule Kassel für eine „innovative Lehrerausbildung.... mit einer  Auseinandersetzung mit eigenen unbewussten Persönlichkeitsanteilen“ ein und unterstützte die Berufung von letztlich insgesamt 8 Psychoanalytikern auf Lehrstühle an den Fachbereichen Erziehungswissenschaften und Sozialwesen (s.o.) (Leuzinger-Bohleber, M., 2012, S.12).

Auf  eine vergleichbare Wertschätzung und Unterstützung bis in bildungspolitische und administrative Strukturen hinein muss die Psychoanalyse seit langem verzichten.

III. 2. Der Aufschwung der Verhaltenstherapie und das nachlassende Interesse an psychoanalytischer Weiterbildung

Der Siegeszug der Verhaltenstherapie im Wettstreit mit der Psychoanalyse in den letzten 25 Jahren an den deutschen Universitäten ist unbestritten. 2016 waren in Deutschland von 40 Lehrstühlen für Klinische Psychologie  zwei psychoanalytisch und 38 verhaltenstherapeutisch besetzt. Aber auch das Interesse der Psychologieabsolventen an verhaltenstherapeutischer Psychotherapieweiterbildung ist unvergleichlich viel höher als an einer psychoanalytischen oder tiefenpsychologischen  postgradualen Qualifikation.

Judith Lebiger-Vogel hat in einer empirischen Untersuchung zur Berufswahl Studierender im psychotherapeutischen Bereich ein komplexes Ursachengefüge für diese Entwicklung identifiziert (2011). Möglicherweise, so Lebiger-Vogel,  werde die Psychoanalyse als unzeitgemäßwahrgenommen, passe mit dem ihr eigenen Focus auf das „Verstehen unbewusster Konflikte und Erlebnismuster in lebensgeschichtlichem Zusammenhang“ nicht länger in einen gesellschaftlichen Kontext, der von „Ökonomisierung verschiedener Lebensbereiche...... sowie einer (postmodernen) Pluralisierung von Lebensentwürfen....“(Lebiger-Vogel, 2015, S. 349 -350) gekennzeichnet sei. In der Wissenschaftslandschaft habe ein „empirischer ‚Zeitgeist’ der Effizienz und der Effektivität ... auch im Zuge der Etablierung der Neurowissenschaften als neue ‚Leitwissenschaft’ an Popularität ... (gewonnen).... die zeitintensivere Psychoanalyse gilt nach der momentan im Gesundheitsbereich dominanten, an evidenzbasierter Medizin orientierten wissenschaftstheoretischen Auffassung  oftmals als nicht empirisch belegbar, als uneffektiv und ineffizient...“ (ebenda, S.351). Auf diese Weise habe sich der behavioristische Ansatz „....unter dem Label einer empirisch validierten Behandlungsmethode besonders in Abgrenzung zur bis Dato in der Psychoanalyse geläufigen Methode der Introspektion...etabliert.... Die Verhaltenstherapie als genuin psychologisches Therapieverfahren stärkte das Selbstbewusstsein der PsychologInnen gegenüber der damals stärker psychodynamisch orientierten Ärzteschaft im Bereich psychotherapeutischer Medizin.“ (ebenda).

Lebiger-Vogel verweist auf eine Untersuchung von Eichenberg u.a. aus dem Jahre 2007, in der die Autoren die Bedeutung des Lehrkörpers für die  Orientierungen und Identifizierungen der Psychologiestudierenden  untersuchen: demnach vollzieht sich  „ ....bei Psychologiestudierenden .... im Verlauf des Studiums oft ein Wandel von einer ursprünglich psychodynamischen Verfahren aufgeschlossenen Haltung in Richtung eines verhaltenstherapeutischen Interesses..“ (Lebiger-Vogel, 2015, S. 353). In ihrer eigenen, groß angelegten  empirischen Untersuchung  mit 551 Studierenden der Medizin, der Psychologie und der Sozialpädagogik kommt die Autorin ebenfalls zu dem Ergebnis: „Die Vermittlung der Verfahrensrichtungen durch die jeweiligen Lehrenden, durch universitäre ‚Vorbilder’, scheint....von großer Bedeutung für die fachkulturelle Identitätsentwicklung der Studierenden zu sein“ (ebenda, S. 364). Offensichtlich schließt sich hier ein Kreis: in der Klinischen Psychologie sind Studierende mehrheitlich mit verhaltenstherapeutisch qualifizierten Professoren und Professorinnen  konfrontiert, mit denen sie sich sukzessive identifizieren und die sie als berufliche Vorbilder für sich in Anspruch nehmen.

Hierzu passt,  dass über alle drei Studiengänge hinweg ein höheres Interesse an der Verhaltenstherapie als an psychoanalytisch begründeten Verfahren bekundet wird,  ganz besonders aber ausgeprägt bei den Studierenden der Psychologie (74%). Verhaltenstherapie  wird von diesen Befragten mit pragmatischen und praktischen Erwägungen sowie mit größerer Wissenschaftlichkeit in Verbindung gebracht (die Stichworte sind hier : kürzere und weniger aufwändige Ausbildung, gut mit Patienten umsetzbar, gut mit Karriere vereinbar). Den psychoanalytisch begründeten Verfahren hingegen  werde ein größerer Beitrag zum Verständnis seelischer Störungen und zur Förderung von Selbsterkenntnis zugestanden (Lebiger-Vogel, 2015, S.355). Die besondere Attraktivität der Verhaltenstherapie lässt sich also folgendermaßen zusammenfassen: sie gilt als „machbar“ und „praktikabel“, bedient das Bedürfnis nach „schnellen Lösungen und Orientierung“, gibt durch ihre Strukturiertheit „Halt“ und „Rahmen“  und die therapeutischen Prozesse sowie die eigene Karriereplanung können „zielstrebig“  gestaltet werden.  Solcherart könne die Hinwendung der Studierenden zur Verhaltenstherapie während des Studiums als eine Orientierung an der „Mehrheitskultur“ gelten, während Psychoanalyse-interessierte zunehmend die soziale Rolle von „Outcasts“  in ihren Fachbe-reichen einnähmen (ebenda, S. 370).

III. 3. Die besondere Rolle von Psychoanalytikern und Psychoanalytikerinnenim institutionellen Kontext von Hochschulen -

Klassenhabitus oder auch die Wirkung von  sog. Allegianz[2]

In meinen einleitenden Bemerkungen habe ich kurz erwähnt, dass nicht nur die Psychoanalyse als Wissenschaft, sondern meiner Erfahrung nach Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen in den universitären Arbeitszusammenhängen auf Ambivalenz, wenn nicht sogar auf Vorbehalte stoßen. Dass es sich hier nicht nur um eine persönliche Erfahrung während drei Jahrzehnten in der Lehre  an Fachhochschulen und Universitäten handelt, mag ein Blick in die bereits zitierten historischen Beiträge zur „Psychoanalyse an der Johann Wolfgang Goethe Universität“ von Kutter, Mentzos, Overbeck, Moeller u.a. in dem Band „Psychoanalyse in Frankfurt am Main“ zeigen  (Plänkers u.a., 1996) : Ohne auf die einzelnen Texte an dieser Stelle eingehen zu können, so ist doch - teils explizit, teils zwischen den Zeilen -unübersehbar, dass die erwähnten psychoanalytischen Kollegen in den universitären institutionellen Strukturen, den Fachbereichen, Fakultäten und Hochschulgremien  auf eine eigentümliche Mischung von Vorbehalten, Entwertung, aber auch Neid stießen. Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen haben es in den außeranalytischen Räumen offensichtlich schwer, Bündnispartner zu finden oder gar Lobbystrukturen aufzubauen. Nicht selten erfolgte ihre Implementierung und Verankerung in Institutionen durch Kräfte von Außen (s.o.).

  • So etwa ist es Mentzos in seinem Beitrag wichtig zu betonen, dass seine Ernennung zum Professor und zum Leiter der neu gegründeten Abteilung für Psychotherapie und Psychosomatik durch den „vorläufigen Fachbereichsrat, einem Gremium, dessen Mitglieder nicht gewählt, sondern durch den Hessischen Kultusminister bestellt wurden,...(erfolgte). Erst kurz danach entstand der gewählte Fachbereichsrat...“ (nämlich 4 Monate später, B.G.) (Mentzos, St.,1996, S.543). Mentzos bringt hier seine Überzeugung zum Ausdruck, dass der später gewählte Fachbereichsrat ihn nicht berufen hätte.
  • Auch im Beitrag von Kutter mit dem programmatischen Titel „Stachel im Fleisch“ zieht sich das Thema des Kampfes gegen institutionelle Ranküne  und gegen machtvolle Intrigen von Psychoanalysegegnern wie ein roter Faden durch den Text (Kutter, 1996).

Im Folgenden soll es jedoch weniger um Verschwörungstheorien gehen, - auch wenn die Geschichte der Psychoanalyse an den Hochschulen zuweilen von  Phänomenen der Verschwörung durchzogen ist. An die  Psychoanalyse  als selbstreflexiver Wissenschaft kann der Anspruch herangetragen werden, die ambivalente Psychodynamik in den Beziehungen zwischen Psychoanalytiker/innen und Nichtanalytiker/innen in Institutionen zu verstehen. Was tragen sie dazu bei, was tun wir, dass es immer wieder zu Ausgrenzung und Entmachtung kommt?

Wer eine psychoanalytische Weiterbildung durchlaufen hat, kann auf eine ungewöhnliche und vergleichsweise aufwändige Bildungsgeschichte zurückblicken: auf ein (bereits auf hohem Niveau berufsqualifizierenden) Grundstudium der Psychologie, Medizin oder Pädagogik folgte eine jahrelange, kostenintensive, berufsbegleitend organisierte und zeitraubende postgraduale Weiterbildung. Anders als es in der Facharztausbildung der Fall ist, findet die psychoanalytische Ausbildung zeitlich außerhalb der Berufstätigkeit statt  und wird zumindest im ersten Drittel selbst finanziert. Nicht nur mit dem umfangreichen theoretischen Fächerkanon, vor allem auch mit der vierstündigen Lehranalyse und der mit ihr einhergehenden einzigartigen Chance zur intensiven Selbsterfahrung und Selbstaufklärung geht ein im engeren Sinne ganzheitlicher, kognitiv-intellektueller , emotionaler und persönlicher Bildungsprozess einher, der in der Bildungslandschaft seinesgleichen sucht. Darüber hinaus sozialisiert die psychoanalytische Ausbildung durch das System der selbst durchgeführten Behandlungen unter engmaschiger und langanhaltender Einzelsupervision außerordentlich gründlich und damit geschützt in die Praxis ein.  Man könnte also formulieren, dass ausgebildete Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen am Ende ihres postgradualen Bildungsweges innerhalb ihrer professionellen Bezugsgruppe eine Elite bilden. 

In Deutschland wartet zwar nach Abschluss dieses langen Qualifizierungs-prozesses die  Option einer beruflichen Existenz als Kassenpsychotherapeut/in mit relativer Einkommenssicherheit auf einem gehobenen Mittelschichtniveau. Gleichwohl zeigen die vorliegenden empirischen Untersuchungen und nicht zuletzt die erwähnte Forschungsarbeit von Lebiger-Vogel, dass die Motive, sich auf diesen langen Weg zu machen, selten pragmatischen Kosten-Nutzen-Überlegungen und Karrieregesichtspunkten folgen.[3] Vielmehr spielen intrinsische Motivation, Identifizierung mit der Psychoanalyse und natürlich auch Idealisierung eine tragende Rolle. 

Damit zeichnen sich Komponenten eines professionellen Habitus von Psychoanalytikern und Psychoanalytikerinnen ab, der – so meine These – insbesondere  in institutionellen Kontexten und im Kontakt mit Nichtanalytikern  aktualisiert wird und eine Psychodynamik von wechselseitiger Abgrenzung und Entwertung befeuert. Ich fasse diese Komponenten noch einmal stichwortartig zusammen: die zuweilen passagère Position als Outcast während des Studiums,  hohe Bildungsinvestitionen nach Abschluss der ersten akademischen Qualifikation , eine intensive, oft 7 und mehr Jahre dauernde postgraduale Weiterbildung mit regressionsfördernder Dynamik und durchaus infantilisierenden Ausbildungsstrukturen, last but not least die theoretisch wie klinisch breit gefächerte Vermittlung von Fachkompetenz -  diese Konstellation konstituiert eine Ungleichheit im Kontakt mit der professionellen Bezugsgruppe,  die– um es in Anlehnung an Bourdieu soziologisch zu formulieren, die Grundlage für eine Art Klassenhabitus in der Gruppe der Psychoanalytikermit der Selbstattribution einer fachlichen Elite bildet  (Bourdieu, P., 1982).

Die Psychotherapieforschung focussiert in jüngerer Zeit verstärkt die Allegianz der Therapeuten und Therapeutinnen als besonders bedeutsamen Wirkfaktor des psychotherapeutischen Prozesses: wenn man von der Wirksamkeit der eigenen praktizierten Methode überzeugt sind, so kommt dies der psychotherapeutischen Arbeit sehr zugute. In Anlehnung hieran vermute ich, dass Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen vor allem im öffentlichen Raum und jenseits ihrer Position hinter der Couch von der Wirksamkeit der psychoanalytischen Methode und der klinischen Validität der psychoanalytischen Theorie außerordentlich überzeugt sind und dies auch ausstrahlen. (Dass dieser Habitus im engeren Sinn unanalytisch ist, sei nur am Rande bemerkt, denn wenn wir etwas in unserer langen psychoanalytischen Sozialisation gelernt haben, dann ist es dieVorläufigkeit und der prozessuale Charakter psychoanalytischer Konzepte.)

Gleichwohl: vom Klassenhabitus  der Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen  in außeranalytischen Kontexten ist es nicht weit entfernt zur institutionellen Psychodynamik von (abgewehrtem) Neid ihrer Kollegen und Kolleginnen und  als Folge hiervon wechselseitiger Entwertung. Als Wissenschaft vom Unbewussten  lädt die Psychoanalyse per se zu Projektionen ein; hier jedoch kommt als weiterer Faktor, der die kollegiale Kommunikation erschwert, die Komplexität des Theoriegebäudes hinzu. Stichwortartig formuliert umfasst dieses Theoriegebäude:

  • die psychologische Sozialisationstheorie der kindlichen, jugendlichen und erwachsenen Entwicklung,
  • eine differenzierte psychodynamisch fundierte Krankheitslehre, die Symptomatologie, Ätiologie und Pathogenese zusammenzubinden in der Lage ist,
  • Kulturtheorie und Sozialpsychologie,
  • psychoanalytische Beiträge zur Religionskritik
  • die psychoanalytische  Pädagogik und schließlich
  • Theorien und Konzepte psychotherapeutischer Behandlungen in unterschiedlichen Settings (diese Aufzählung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit).

Das  psychoanalytische Theoriegebäude formuliert also Beiträge zu den verschiedensten Nachbardisziplinen und begründet gleichsam universale Geltungsansprüche, die die Grenzen der einzelnen ausdifferenzierten Wissenschaftsgebiete  überschreiten. Die reale theoretische Potenz der Psychoanalyse  lässt sie als ein Schwergewicht erscheinen, dem auf Augenhöhe schwer zu begegnen ist. Wen sollte es vor diesem Hintergrund verwundern, wenn dann die identifizierbaren Flanken -  die zweifellos bestehenden Angriffspunkte der Psychoanalyse  -fast triumphal aufgegriffen und in oft vernichtender Diktion gegen sie verwendet werden? (An dieser Stelle soll exemplarisch nurein Beispiel erwähnt werden: die jahrzehntelang vernachlässigte psychotherapeutische Wirksamkeitsforschung, die die Psychoanalyse als psychotherapeutisches Verfahren in Zeiten der evidenzbasierten Medizin ins Hintertreffen geraten ließ und ein Einlasstor für wissenschaftliche Entwertung bildete.)

Zusammenfassend   möchte ich formulieren, dass die Kommunikation in akademischen Kontexten durch Klassenhabitus, stark ausgeprägter Allegianz und theoretisch-konzeptioneller Potenz auf Seiten der Psychoanalytiker und Psychoanalytikerinnen und den hierzu komplementären affektiven Reaktionen von Neid und Entwertung auf Seiten der nicht analytisch weitergebildeten Kollegen/ Kolleginnen erschwert wird.

III. 4. Psychoanalytiker und Hochschullehrer in einer Person – Implikationen einer beruflichen Doppelrolle

Abschließend möchte ich kurz mögliche Implikationen der beruflichen Doppelrolle skizzieren, die mit der Lehrtätigkeit an der Hochschule auf der einen und der psychoanalytisch- therapeutischen Praxis auf der anderen Seite einhergehen.

Dabei geht es mir weniger um  die (zugegebenermaßen  real existierenden) Kompatibilitätsprobleme, wenn etwa durch institutionelle Erfordernisse (Sitzungen, institutionspolitisch wichtige soziale Netzwerk-Termine etc.) z.B. Psychotherapiesitzungen gefährdet oder kurzfristige Terminabsagen erforderlich sind. In solchen Momenten ist es schwer, beiden beruflichen Praxisfeldern gerecht zu werden und es bedarf der sorgfältigen Abwägung und des Austarierens der unterschiedlichen Anforderungen. Solche Konflikte entstehen jedoch auch durch andere, die psychoanalytische Arbeit flankierende Engagements z.B. in der Berufspolitik, der Verbandspolitik oder in der Forschung.

Die berufliche Doppelrolle beinhaltet jedoch ein besonderes Spannungsverhältnis, das aus den sehr unterschiedlichen Anforderungsprofilen resultiert      und welches Auswirkungen auf die berufliche Identität hat.

     Thomas Pollak hat in mehreren Arbeiten (1999, 2017) die psychoanalytische Tätigkeit in professionstheoretischer Perspektive untersucht und      charakterisiert sie mit folgenden Worten:

„Psychoanalytiker sind kontinuierlich mit dem Unbewussten ihrer Patienten befasst, mit jenen entscheidenden primären Lebenserfahrungen, die normalerweise aus dem Bewusstsein ausgeschlossen bleiben. Diese Aufgabe verlangt ein Offenhalten des Zugangs zum eigenen Unbewussten, dem die normalen Abwehrmaßnahmen eines gesunden Erwachsenen entgegenstehen. 
Mit jeder neuen Behandlung übernimmt der Analytiker die Aufgabe, für die Zeitstrecke der Analyse ein bedeutungsvoller Anderer (Mead 1934) für seinen Patienten zu sein. Die Patienten stellen an ihn den Anspruch auf eine ungeteilte Beziehungsresonanz, einen Anspruch, der im normalen Lebenszyklus nur gegenüber wenigen Menschen erfüllbar ist. 
Diese beruflichen Anforderungen machen es notwendig, einen besonderen professionellen Habitus zu erwerben und aufrecht zu erhalten. Für eine kontinuierliche Überprüfung seines eigenen Handelns ist der Analytiker auf die Selbstanalyse und den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen verwiesen“ (2017). 

Das Profil des Hochschullehrers ist demgegenüber radikal anders gewichtet.  Sein berufliches Handeln ist professionstheoretisch gesehen vor allem formalisiertes, von  Rollenkonformität gekennzeichnetes Verhalten, das den unterschiedlichen Erfordernissen des Kompetenzprofils von Lehrenden  gerecht wird. Der psychoanalytische Hochschullehrer  oszilliert also zwischen diesen beiden Rollenprofilen, psychologisch formuliert: zwischen diesen beiden Zuständen seines (beruflichen Ichs). Dies stellt zwar einerseits eine Herausforderung dar, kann aber in verschiedenster Hinsicht auch als Ressource gewertet  werden und zwar nicht nur für das eigenen narzisstische Gleichgewicht,  oft genug ist die therapeutische Arbeit auch eine unschätzbare Quelle klinischer Erfahrungen für die entwicklungspsychologische und klinische Lehre.

Mir kommt es an dieser Stelle und im Zusammenhang mit dem Verstehen der besonderen Psychodynamik, auf die Psychoanalytiker und Psychoanalytiker-innen  in den akademischen Institutionen treffen, jedoch noch auf einen anderen Gesichtspunkt an. Die Lehre und die analytische Praxis,  beide Erfahrungsbereiche bilden zentrale Konstitutentien der beruflichen Identität des psychoanalytischen Hochschullehrers. Anders als seine professoralen Kollegen und Kolleginnen, deren berufliche Kernidentität sich auf die Rolle des Hochschullehrers bzw. der Hochschullehrerin stützt, stehen dem auch psychoanalytisch arbeitenden Professor / der Professorin immer zwei Säulen der beruflichen Identität zur Verfügung. Bei institutionellen Konflikten und Krisen in der Hochschule, bei beruflichen Kränkungen aber auch Erfahrungen eigener Begrenztheit z.B. im Wissenschaftsbetrieb ist der kompensatorische Rückgriff auf die psychoanalytische Professionalität und berufliche Identität möglich und kann solcherart durchaus protektive Wirkung entfalten: die Gewissheit, ein „bedeutungsvoller Anderer“ für die Patienten in der Praxis zu sein und dort auf eine befriedigende Weise Wirksamkeit in einer sehr intimen Zusammenarbeit entfalten zu können, immunisiert gleichsam gegen die Widrigkeiten institutioneller Konflikte und Ohnmachtserfahrungen.

Auch in dieser Hinsicht bilden also psychoanalytisch tätige Kollegen an den Hochschulen eine privilegierte Ingroup. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die kollegialen Beziehungen und begründet den ambivalenten Blick auf die Angehörigen der psychoanalytischen Zunft zumindest mit, es zementiert nicht selten deren Existenz in Machtvakuen.

Wenn solcherart die Psychoanalyse an den Universitäten historisch in Nischen abgedrängt wurde und den Psychoanalytikern und Psychoanalytikerinnen dort bis heute oft mit Ambivalenz begegnet wird, worin äußert sich dennoch die Faszinationskraft der Psychoanalyse? 

Dieser Frage soll abschließend nachgegangen werden.

IV.  Psychoanalyse an der Universität  – Faszinosum in akademischen Nischen

                     Obgleich die Marginalisierung der Psychoanalyse in der universitären Welt also weit vorangeschritten ist, existiert sie – man könnte sagen, mit gestutzten Flügeln – in Nischen der universitären Welt. Hierfür gibt es durchaus  Beispiele, die dem  Trend zu widersprechen scheinen[4]. An Fachhochschulen (Soziale Arbeit, Sozialpädagogik) und in der Pädagogik (Erziehungswissenschaften, Sonder- und Heilpädagogik) sind die mit psychoanalytisch qualifizierten Professoren und Professorinnen besetzten Nischen ein wenig größer. Ich vermute, dass dies mit dem für Fachhochschulen spezifischen Qualifikationsprofil zusammenhängt: hier ist die Habilitation nachrangig, aber die außerhalb der Hochschule erworbene Praxiskompetenz ist Bedingung für eine Berufung. Darüber hinaus ist gerade in den pädagogischen Berufen die klinische Relevanz der Psychoanalyse ganz besonders hilfreich. Insgesamt vermute ich, dass die berufspolitischen und akademischen Widerstände gegen die Psychoanalyse zwar auch an den Fachhochschulen existieren, dort aber weniger militant in Erscheinung treten als an den psychologischen Instituten oder gar medizinischen Fakultäten der Universitäten.

                    Damit komme ich zur abschließenden These einer von der Psychoanalyse ausgehenden Faszinationskraft für Studierende in den einschlägig relevanten Studiengängen, nämlich vor allem in denjenigen, die für Berufe qualifizieren, in denen Verstehensprozesse in der Beziehung zu den Klienten eine zentrale Rolle spielen.

                    Seit 2010  bin ich Mitglied in einer Arbeitsgruppe von Psychoanalytiker/innen und Gruppenanalytiker/innen, die an Fachhochschulen und Hochschulen lehren und sich 1-2 mal im Semester am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt treffen, um ihre Erfahrungen auszutauschen. Dabei gehen wir der  alle Kollegen und Kolleginnen verbindenden Frage nach: „Wie lehre ich Psychoanalyse ?“.  Aus diesem sehr fruchtbaren Diskussionszusammenhang  ist 2014 ein Sammelband mit dem Titel „Psychoanalyse lehren und lernen an der Hochschule“  hervorgegangen (Gerspach u.a. 2014). 22 Kollegen und Kolleginnen geben Einblick in ihre, von der Psychoanalyse in unterschiedlichster Weise inspirierten Lehre in den verschiedensten Formaten. Im Vorwort formulieren die Herausgeberinnen und Herausgeber:

„Psychoanalyse ist keine Wissenschaft wie jede andere, die man sich kognitiv aneignen kann, ohne persönlich davon angesprochen zu sein. Dies führt bei Studierenden, aber auch im Kreis der Kolleginnen und Kollegen am Fachbereich oftmals zu Irritation, Abwehr und Ärger. Das Modell der Psychoanalyse als eine tiefenhermeneutisch-sinnverstehende Erfahrungswissenschaft weist eben weit über jene Selbstbeschränkungen und uneingestandenen normativen Setzungen der reinen Beobachtungs- und Erklärungswissenschaften hinaus, denen ein empathischer Zugang zu den lebensgeschichtlich eingeschriebenen affektiven Nöten der Klientel verborgen bleibt – und damit jede Möglichkeit zur Emanzipation von früh erworbenen, konfliktgesteuerten Beziehungsmustern verspielen.“(ebenda, S.9)

Ohne an dieser Stelle auf die einzelnen Praxisbeispiele psychoanalytischer Lehre eingehen zu können, lässt sich übergreifend  formulieren, dass die in diesem Band versammelten Autoren bei ihren Studierenden ganz offensichtlich auf große Resonanz bei der Vermittlung einer sinnverstehenden Erfahrungswissenschaft  reagieren, die ihnen darüber hinaus immer auch die Option eines selbstreflexiven Bezugs zur eigenen Lebenspraxis und Lebensgeschichte ermöglicht. Im Kontakt mit ihren psychoanalytisch qualifizierten Lehrenden lernen die Studierenden den „Umgang mit Affekten, Phantasien und Assoziationen als Mittel der Erkenntnisgewinnung... sowie die Bedeutung der bewussten und vor allem unbewussten Anteile der Erfahrung von Intersubjektivität im Praxisfeld...“(ebenda, S. 10). Solcherart kann Sinnentstelltes, dem Wiederholungszwang anheim gefallenes und oft verstörendes Symptomverhalten von Klienten kontextuell (entwicklungspsychologisch, lebensgeschichtlich, klinisch etc.) eingeordnet und im vertieften Sinn verstanden werden.  Dies eröffnet über die Verstehensdimension hinaus oft auch neue Handlungsmöglichkeiten, verändert jedoch fast immer die Beziehungsdynamik zu den Klienten und kann günstigenfalls  ein Beitrag zu deren Autonomieentwicklung bilden. Als besonderes Alleinstellungsmerkmal einer psychoanalytisch begründeten Lehre kristallisiert sich in den Beiträgen des Bandes die Vertiefung des „Selbstverstehens als Grundlage für ein besseres Fremdverstehen“ (Gerspach u.a.)  heraus.

„Während allgemein in der Lehre häufig nach Neutralität und Objektivität verlangt wird, gehen wir gerade den umgekehrten Weg und möchten die  Studierenden darin schulen, sich den eigenen Affekten und Befindlichkeiten als Erkenntnismittel zu öffnen.  Erst über das Zulassen wie Reflektieren der Nähe wird die nötige professionelle Distanz erlangt werden können – ein Wissen, das in vielen gängigen Konzepten so nicht vorhanden ist.“ (ebenda)

          In diesem Sinne ist die Psychoanalyse auch heute nicht nur nicht unzeitgemäß, sondern ganz im Gegenteil hochaktuell. Sie findet Resonanz gerade dort, wo die reflektierte und selbstreflexive Beziehungsgestaltung den Schlüssel für Professionalität in einem erweiterten Sinne bildet. Ob und wie ihre Begrenzung  in den zu engen Nischen von Hochschulen und Fachhochschulen überwunden werden kann, bleibt zu diskutieren.

          Ich möchte meine Ausführungen mit einem Zitat aus Freuds Briefwechsel mit Groddeck abschließen. Groddeck hatte sich  „über die seltsame Atmosphäre auseinanderstrebender Kongresslöwen“  im  wissenschaftlichen Austausch mit Kollegen beschwert und angedeutet, dass er nun lieber  wieder „den stillen Weg der Praxis gehen“  wolle. Freud antwortet hierauf  im Dezember 1924:

          Ärgerlich ist mir natürlich ein Zug an Ihnen, den ich gern beeinflussen möchte, wiewohl ich weiß, ich werde nicht viel ausrichten können.Es tut mir leid, dass Sie eine Mauer zwischen sich und den anderen Löwen in der Kongressmenagerie auftun wollen.  Es ist schwer, Psychoanalyse als Vereinzelter zu treiben. Es ist ein exquisit geselliges Unternehmen. Es wäre doch viel schöner, wir brüllten oder heulten alle miteinander im Chor und im Takt, anstatt dass jeder in seinem Winkel vor sich hin murrt.“ (Freud, S. , 1968, Kapitel 28) 

 

Zur Autorin: Prof. Dr. phil. Birgit Gaertner, Psychoanalytikerin (DPV), Frankfurt University of Applied Sciences

 

           Anmerkungen:

            [1] Überarbeitete Fassung eines im Rahmen des Programms für Studierende gehaltenen Vortrags auf der DPV - Frühjahrstagung 2018

            2 Mit dem Begriff der Allegianz wird insbesondere in der Psychotherapieforschung das Ausmaß beschrieben, in dem der Therapeut von der Wirksamkeit seines eigenen Verfahrens überzeugt ist.

3 Einschränkend muss hier angemerkt werden, dass  der Beruf des analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten für die Gruppe der Sozialpädagogen/-pädagoginnen und Erziehungswissenschaftler/innen ökonomisch durchaus eine Aufstiegsoption darstellt.

4 Z.B. Prof. Georg Bruns in Bremen; Prof. Bernd Ahrbeck in Berlin; Prof. Beutel in Mainz; Prof. Evelyn Heinemann in Mainz; Prof. Heike Schnoor in Gießen , um nur einige Beispiele zu nennen.

 

Literatur

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Gerspach, M. / Eggert-Schmid-Noerr, A. /Naumann, T. /Niederreiter, L.(Hg.)(2014): Psychoanalyse Lehren und Lernen an der Hochschule,

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