Interview zur Geschichte des Anna Freud Centre mit Frau Dr. Dr. Inge-Martine Pretorius vom Anna Freud Centre (AFC) und University College (UC) London

Alexander Frohn

Frau Dr. Dr. Pretorius aus London, hat am 20.10.2018 zwei Vorträge am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie (DPG, DGPT) in Freiburg gehalten. Der erste Vortrag hatte den Titel:“ Psychoanalytische Psychotherapie mit Vorschulkindern: psychotherapeutische Techniken bei Entwicklungsstörungen und bei Neurosen.“ Der Titel des zweiten Vortrags war: „Psychoanalytische Psychotherapie eines präödipalen Knaben: Werden und Loslassen: Übergangsprozesse für charmante Prinzen und ihre Therapeutinnen.“

Zur Person: Inge-Martine Pretorius ist Dr. (PhD) in Mikrobiologie und Dr. in Psychoanalytischer Psychotherapie sowie analytische Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Sie leitet das Eltern-Kleinkind-Programm am Anna Freud Centre in London und ist klinische Tutorin für psychoanalytische Entwicklungspsychologie am University College London sowie am Anna Freud Centre. Sie organisiert dort den Masterstudiengang Kindliche Entwicklung und unterrichtet auch darin. Sie ist Kuratorin der Anna-Freud-Archive und arbeitet Teilzeit im National Health Service in einer Kindertherapieambulanz, die zu einem Kinderzentrum in einem sozialen Brennpunkt in London gehört. Sie hat über die transgenerationale Weitergabe von desorganisierter Eltern-Kind-Beziehung geforscht und auf dem Gebiet der Molekulargenetik und der Psychoanalyse veröffentlicht. Zusammen mit Marie Zaphiriou Woods hat sie das Buch „ Eltern-Kind-Gruppen. Psychoanalytische Entwicklungsforschung und Praxisbeispiele“ (2013) herausgegeben.

Das Anna Freud Centre, ursprünglich als Hampstead Clinic von Anna Freud  in London gegründet und nach ihrem Tod in Anna Freud Centre umbenannt, hat im Laufe der Zeit  große Veränderungen im Hinblick auf die Rahmenbedingungen der Arbeit erfahren. Dr. Pretorius beschreibt im folgenden Gespräch einige Aspekte der Geschichte des Anna Freud Centre, die für sie bedeutsam waren, sowie die aktuellen Auswirkungen des Umzugs des Anna Freud Centre von Maresfield Gardens (in der Nachbarschaft des Freud-Museums) im Westen Londons in das „Kantor Centre of Excellence“ in der Nähe des Bahnhofs King’s Cross (im Londoner Zentrum). Das Anna Freud National Centre for Children and Families (AFNCCF), wie es seit 2016 heißt, ist eine unabhängige, gemeinnützige Organisation. Da es keine akademischen Titel verleihen kann, hat das AFNCCF sich schon seit längerem mit dem University College London (UCL) verbunden. Die Master-Studiengänge, die das Centre anbietet und die im Interview dargestellt werden, sind nur möglich aufgrund der Zusammenarbeit mit dem UCL

Das folgende Interview wurde vor den oben genannten Vortragsveranstaltungen in Freiburg aufgenommen.

1. Waren Sie schon einmal im Südwesten Deutschlands?

Vor meiner Ausbildung zur Kinderanalytikerin habe ich als Molekular-genetikerin in verschiedenen Laboren rund um die Welt gearbeitet. So war ich auch einige Jahre an der Universität in Bielefeld und habe einiges von Deutschland gesehen, darunter auch den Süden. Ich liebe das Reisen und freue mich darauf, wieder in Freiburg und Heidelberg zu sein.

2. Wie kamen Sie zum Anna Freud Centre in London? 

Während meiner Forschungsarbeit in den Gen-Laboren wurde mir klar, dass die Doppelhelix einige meiner Fragen nicht beantworten konnte. Ich entwickelte zunehmend Interesse daran, was bedeutsam ist – nämlich die subjektive Bedeutung von Erfahrungen.  Das Tavistock Centre und das Anna Freud Centre (AFC), beide boten Einführungskurse in Psychoanalyse an. Ich wurde bei beiden angenommen, wählte aber das AFC wegen seiner Verbindung zu Anna und Sigmund Freud und zur Geschichte der Psychoanalyse. Die  Mitarbeiter und Studenten des AFC waren internationaler und auch die Verbindung mit dem University College of London (UCL) reizte mich.

3. Was hat Sie dort am meisten beeindruckt?

Obwohl ich erst nach Anna Freuds Tod ans AFC kam, habe ich doch noch Lehrer und Supervisoren gehabt  die mit ihr gearbeitet haben und von ihr ausgebildet worden waren( z.B. Annemarie Sandler, Hansi Kennedy, die frühere Hanna Engl, die mit Anna Freud in den Hampstead War Nurseries gearbeitet hat; Anne Hurry, Rose Edgcumbe, Pauline Cohen, die auch in den War Nurseries gearbeitet hat; Clifford Yorke und Marie Zaphiriou Woods). Ich lernte Anna Freuds Betonung der Beobachtung schätzen und ihren entwicklungsorientierten Ansatz zum Verständnis der Normalität bzw. Pathologie der kindlichen Entwicklung. Wann immer ich ihre Schriften lese, beeindruckt mich jedesmal von Neuem die Klarheit und Genauigkeit ihres Denkens. Ich empfinde es als großes Privileg, am AFC ausgebildet worden zu sein, besonders heute, wo die Ausbildung in Kinderpsychoanalyse in der Tradition Anna Freuds nicht länger fortbesteht. Sie wurde im Jahr 2003 als Ausbildungsgang geschlossen, die letzten Absolventen gab es im Jahr 2009.  (siehe auch Frage 7) Seit meiner Ausbildungszeit dort beschäftige ich mich mit den Archiven des Anna Freud Centre und betreue heute die Archive des Hampstead Kriegskinderheims (Hampstead War Nursery, eines der wichtigen frühen Tätigkeitsfelder von Anna Freud nach der Emigration).

Anna Freud und die meisten ihrer Mitarbeiter waren Flüchtlinge, die sich während des 2. Weltkrieges um die vom Krieg betroffenen Kinder kümmerten und nach dem Krieg um die überlebenden Kinder aus Theresienstadt und anderen Orten der Verfolgung betreuten. Es hat mich  beeindruckt, wie sorgfältig Anna Freud und ihre Mitarbeiterinnen gearbeitet haben und wieviel liebevolle Fürsorge sie den Kindern gaben. Im Rahmen dieser Arbeit habe ich einige dieser “Kriegs-Babys” getroffen; inzwischen Erwachsene, die als Kinder im Hampstead Kriegskinderheim  in Obhut waren. Ihre Geschichten sind unglaublich bewegend.

4. Wie kooperiert das Anna Freud Centre mit dem University College London?

Obwohl Anna Freud sich um die Anerkennung der Kinderanalytischen Ausbildung in ihren Hampstead Kinderanalyse-Kursen und ihrer Ambulanz (1984 umbenannt in Anna Freud Centre - AFC, 2016 in Anna Freud National Centre for Children and Families- AFNCCF) durch die International Psychoanalytic Aassociation (IPA) bemühte, wurde ihr dies nicht gewährt (Reeves 2018). Trotzdem zog diese Ausbildung  über viele Jahrzehnte Studenten aus der ganzen Welt an. Da es nicht möglich war mit Abschluss der kinderanalytischen Ausbildung gleichzeitig Mitglied in der  IPA (International Psychoanalytical Association) zu werden, suchte das Anna Freud Centre 1993 die Akkreditierung durch das University College London zu erreichen. Peter Fonagy hatte dies gegenüber Ann Marie Sandler, der damaligen Leiterin des AFC, angeregt.

(Erläuterung: Die Anerkennung der “Kinderanalyse in der IPA” kann nur zusammen mit bzw. nach der regulären Ausbildung in Psychoanalyse mit Erwachsenen erworben werden. Heute wird allerdings die Durchführung einer hochfrequenten Kinder- oder Jugendlichenanalyse im Rahmen der regulären Ausbildung akzeptiert.)

Der vorklinische Kurs des Anna Freud Centre (Beobachtung von Babys, Kleinkindern und Vorschulkindern, Theoriekurse zur kindlichen Entwicklung und Psychoanalyse sowie eine Forschungskomponente) wurde zu einem Masterstudiengang in psychoanalytischer Entwicklungspsychologie (MSc, Psychoanalytic Developmental Psychology) .Ergänzend konnten Studenten, die darüber hinaus die 4 – 5 Jahre dauernde weitergehende kinderpsychoanalytische Ausbildung machten, ein unabhängiges Forschungsprojekt wählen, welches ihnen den akademischen Abschluss mit Promotion in Psychoanalytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie ermöglichte (DPsych). Damit war die Hoffnung verbunden, dass dieser akademische Titel den ausländischen Studenten helfen würde, eine Akkreditierung und Beschäftigung in ihren Heimatländern zu bekommen.

Dieser Kinderpsychoanalytische Ausbildungsgang nach Anna Freud wurde dann trotzdem 2003 aufgegeben (siehe Frage 7). Dennoch gedeiht und entwickelt sich der Master in Psychoanalytischer Entwicklungspsychologie (MSc in PDP) weiter, und es wurden sogar zwei weitere Master-Studiengänge eingerichtet. Das Postgraduate Department für psychoanalytische Entwicklungspsychologie (DPsych) steht in Verbindung zur Britischen Stiftung für Psychotherapie (British Psychotherapy Foundation, BPF), welche Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten in der Tradition der so genannten Middle Group  ausbildet (Middle Group, u.a. Winnicott, Balint). Als das Anna Freud Centre seinen Ausbildungsgang aufgegeben hatte, war die British Psychotherapy Foundation auf das Anna Freud Centre zugegangen. Seither absolvieren die Kandidaten der Kinderanalyse ihre klinische Ausbildung in der Foundation, während der Forschungsteil am University College (AFC-UCL) stattfindet. Das UCL ist ähnlich angesehen wie die Universitäten von Oxford und Cambridge. Für die Ausbildung bedeutet das mehr Anerkennung. Der Doktortitel „DPsych“, den die Kandidaten erhalten, wird vom University College London verliehen.

Ich selbst habe ein Teilzeitstelle in der Psychoanalyse-Abteilung des University College, und unterrichte dort im Kurs für den Masterabschluss. Außerdem supervidiere ich Forschungsprojekte im Masterstudiengang und bei Promotionen. Der Großteil der Lehre findet in den Räumen des Anna Freud National Centre for Children and Families statt.

5. In Deutschland ist eine Direktausbildung in Psychotherapie als Universitätsstudium geplant, das heißt, es soll wieder vermehrt Psychoanalyse an den Universitäten gelehrt werden. Wie finden Sie es, Psychoanalyse an einer Universität zu lehren?

Gegenwärtig wird in England die Theorie und Forschung der Psychoanalyse an den Universitäten gelehrt, aber die psychoanalytische/psychotherapeutische klinische Ausbildung wird an Ausbildungseinrichtungen gelehrt, die zur IPA oder der Association of Child Psychotherapists (ACP) gehören. In London sind dafür das Institute of Psychoanalysis (für psychoanalytische Ausbildung im Erwachsenenbereich), das Tavistock Centre und die British Psychotherapy Foundation (für Ausbildung in Kinder- und Jugendlichenpsychoanalyse/Psychotherapie) zuständig. Insofern bilden die Universitäten keine PsychoanalytikerInnen/ PsychotherapeutInnen aus, jedoch bilden sie klinische Psychologen und Berater aus.

6. Das Anna Freud Centre hat Anfang November in London ein Colloquium zur „Aktualität von Anna Freud – Blick in die Zukunft“ abgehalten und Ihr Part war dabei, Ihre Forschung über die Geschichte Anna Freuds anhand verschiedener Dokumente, Fotos und Filmaufnahmen vorzustellen. Gäbe es da etwas aus dieser Arbeit, was Sie hervorheben würden oder was für Sie selbst ganz neu war?

Durch meine Arbeit in den Archiven habe ich es schätzen gelernt, wie bescheiden und unprätentiös Anna Freud war und dass es für sie beständig Vorrang hatte, was im besten Interesse des Kindes liegt. Da gibt es z.B. eine Korrespondenz aus dem Jahr 1941 zwischen Anna Freud und einer US-amerikanischen Spendenorganisation. Sie schlugen ihr vor, Fotos von den Kindern zu senden, die verzweifelt mit zerrissenen Kleidern und Verbänden in Ruinen sitzend zu sehen sein sollten, um die Spendenbereitschaft zu steigern. Anna Freud antwortete höflich, aber bestimmt mit einem Nein, weil sie die Würde der Kinder schützen wollte.

7. Das Anna Freud Centre, jetzt noch in Maresfield Gardens, soll von dort wegziehen und dann ab dem Jahr 2019 näher zur Londoner Innenstadt im „Kantor Centre of Excellence“ angesiedelt sein. Sind damit inhaltliche oder organisatorische Veränderungen verbunden?

Mit der Ernennung einer neuen Leitung im Jahr 2003 (Peter Fonagy, Mary Target und Linda Mayes – wobei beide Letzteren wenige Jahre später aus der Leitung ausgeschieden sind) wendete sich das AFC innovativen Aufgabenfeldern zu, dem Training und der Forschung in mentalisierungsbasierter Therapie (Mentalization-Based-Treatment). Anna Freuds Kinderpsychoanalytischer Ausbildungsgang – in weiten Kreisen der “Gold-Standard” genannt – wurde 2003 geschlossen und der letzte Ausbildungskandidat beendete  2009 seine Ausbildung. Die Einstellung der kinderanalytischen Ausbildung am Anna Freud Centre hat  die psychoanalytische Arbeit drastisch verändert.1965 kamen z.B. täglich 70 bis 80 Kinder fünf Mal in der Woche zum Anna Freud Centre (damals Hampstead Clinic) für ihre hochfrequent durchgeführte Psychoanalyse (Sandler 1965). 2016 gab es nur noch einen psychoanalytischen Fall mit nur drei Sitzungen pro Woche und einige niederfrequente Behandlungen mit einer Sitzung pro Woche.Was von der psychoanalytischen Arbeit mit Kindern im Säuglings-, Kleinkind- und Schulalter  am AFNCCF, dem neuen „Centre of Excellence“ bleiben und wie diese Arbeit aussehen wird, wird zur Zeit überprüft und sieht einer unsicheren Zukunft entgegen. Der Umzug in ein zweckdienliches Gebäude in der Nähe des Bahnhofs King’s Cross ist der Höhepunkt der im Jahr 2003 eingeleiteten Neuausrichtung mit Betonung auf Forschung und weniger genuin psychoanalytischem Erfahrungshintergrund. Das neue Gebäude bietet zahlreiche Räume für Forschung und Unterricht in Aus- und Fortbildung, jedoch keine so genannte Kleinkinder-Hütte (Toddler Hut, für die therapeutischen Eltern-Kleinkinder-Gruppen) und auch nur wenige Therapieräume. Das verdeutlicht die Prioritäten und Umstrukturierungen des AFNCCF auf anschauliche Weise

8. Wird am Anna Freud Centre der Beschluss der International Psychoanalytical Association diskutiert, nun auch 3- bis 5-stündige Analysen im Rahmen der Ausbildung zu akzeptieren?

Da es keine kinderanalytische Ausbildung in der Tradition von Anna Freud mehr gibt, brauchen wir das nicht mehr zu diskutieren.

 

References

Reeves, J.K. (2017). About Losing and Being Lost without Anna Freud's “Revolutionary Overhaul”: Reading anna Freud. By Nick Midgley. Anna Freud in the Hampstead Clinic: Letters to Humberto Nágera. J. Amer. Psychoanal. Assn., 65(6):1077-1101.

Sandler, J. (1965). The Hampstead Child-Therapy Clinic. In World Health Organization, Aspects of family mental health in Europe (Public Health Paper No. 28) (pp. 109-123).  Geneva: World Health Organization.

Alexander Frohn, Freiburg, Psychoanalytiker (DPG), psychoanalytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Mitglied des Vorstands am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Freiburg (IPPF)