Man hört und liest bisweilen, dass die Psychoanalyse veraltet sei. Ihre Theorie wäre wissenschaftlich nicht überprüft und ihre Praxis für viele Patienten nicht geeignet. Sie beschäftige sich in langen Therapien nur mit dem Innenleben und vernachlässige wesentliche soziale Entwicklungen. Diese Vorurteile konnte die Internationale Psychoanalytische Vereinigung in ihrem Weltkongress in Buenos Aires korrigieren. Unter dem Leitthema „Intimität“ kam ein breites Spektrum psychoanalytischer Erfahrungen zur Sprache. Eine herausragende Rolle spielte die Beschädigung der persönlichen Intimität und Integrität durch Gewalt, Terror und politische Repression. Gewalterfahrungen schreiben sich in das individuelle und kollektive Unbewusste ein. Sie können zu massiven Veränderungen des Körper- und Selbstgefühls sowie der sozialen Beziehungen führen und werden transgenerational weitergegeben.
Die Psychoanalyse verfügt über Konzepte, die die Wirkung traumatischer Erfahrungen sowohl neuro- als auch sozialwissenschaftlich erklären können. Es existieren zwar einige Subkulturen, die sich den neurobiologischen und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen verschließen, doch scheint der Main-Stream am interdisziplinären Diskurs interessiert. Dazu gehört, dass die psychoanalytischen Institute wieder vermehrt den Kontakt zu den Universitäten suchen sowie umgekehrt die Psychoanalyse in der universitären Lehre wieder zur Sprache kommt. In politischen Organisationen wie der UN werden Psychoanalytiker gehört, sie vermitteln in internationalen Konflikten und beteiligen sich an der Lösung aktueller gesellschaftlicher Probleme. Auch in Beratung und Coaching von wissenschaftlichen Institutionen und Unternehmen sind Psychoanalytiker aktiv.
Die Auseinandersetzung mit der Militärdiktatur in Argentinien war in Buenos Aires ein naheliegendes Thema. Sie weckte schmerzhafte Erinnerungen von jüdischen Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, die als Kinder der Shoa entronnen waren und in Argentinien eine neue Heimat fanden. Sie haben die Psychoanalyse in Südamerika geprägt. Die Reflexion der psychischen Auswirkungen der weltweiten Migrationsbewegungen und die Initiativen, Geflüchtete, besonders Kinder, menschlich zu unterstützen, waren weitere Beispiele für das gesellschaftliche Engagement der Kongressteilnehmer.
Die analytische Psychotherapie hält an ihrer Grundlage fest, im Rahmen einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung durch geduldige Resonanz, Mitgefühl und Einsicht einen Spielraum zu eröffnen, in dem sich ihre Patienten entfalten können. Sie sieht in ihrer Methode eine einzigartige Möglichkeit, Verletzungen der Intimität wahrzunehmen und zu bewältigen. Sie zeigt, wie die frühen Störungen von Kindern und Jugendlichen behandelt werden können. Derzeit sind viele Psychoanalytiker über den schon in den ersten Lebensjahren einsetzenden dauerhaften Mediengebrauch besorgt. Er kann zu körperlichen Störungen, emotionaler Entleerung und sozialer Entfremdung führen, wenn er nicht von vertrauens- und verständnisvollen Beziehungen begleitet wird. Aktuelle Studien und Fallberichte zeigen, dass psychoanalytisch inspirierte Verfahren auch bei psychosomatischen Erkrankungen, schweren Persönlichkeitsstörungen, chronischen Depressionen und schizophren genannten Störungen hilfreich sein kann. Dies gelingt besonders gut, wenn sie auch andere Methoden wie die Verhaltenstherapie patientenorientiert und differenziert einbezieht.
Die Verhaltenstherapie findet als gesundheitspolitischer Gegenspieler der Psychoanalyse derzeit eine größere Aufmerksamkeit. Sie nimmt jedoch viele originär psychoanalytische Erkenntnisse in ihre Theorie und Praxis auf. So geht z. B. die Schematherapie als eine derzeit populäre Version der kognitiven Verhaltenstherapie davon aus, dass (früh-) kindliche Erfahrungen das spätere Verhalten bestimmen. Es gelte, wie dies Freud vor über hundert Jahren forderte, die pathologischen Schemata bewusst zu machen und zu korrigieren. Bei der Behandlung von krankmachenden Beziehungserfahrungen messen die modernen Entwicklungen der Verhaltenstherapien der Beziehung der Patienten zur ihren Therapeutinnen und Therapeuten eine besondere Rolle zu. Die Psychoanalyse nennt dies seit über hundert Jahren „Übertragung“ und „Gegenübertragung“ und hat eine differenzierte Technik entwickelt, wie man die Analyse der therapeutischen Beziehung produktiv nutzen kann. Andererseits nähern sich moderne Psychoanalytiker auch der Verhaltenstherapie. Sie sehen kein Problem darin, aktiv schädliche Denkmuster und Verhaltensweisen zu hinterfragen und im Rahmen einer psychoanalytischen Behandlung ihre Patienten verhaltensorientiert zu beraten. Ein körperlich bewegter, sozial engagierter und kulturell aktiver Lebensstil ist auch ein Ziel der Psychoanalyse.
Intimität scheint angesichts der medialen Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche, auch der sexuellen, ein antiquierter Begriff zu sein. Psychoanalytisch wissen wir jedoch, dass der Verlust von Intimität durch Reizüberflutung die Integrität unserer körperlichen und psychischen Struktur empfindlich stören kann. Die Vorstellung, dass körpernahe Affekte, Gefühle und die damit einhergehenden Vorstellungen zusammenstimmen müssen, ist auch neurobiologisch plausibel. Neuronale Synchronizität, Konnektivität und Kohärenz sind für körperliche und psychische Gesundheit unerlässlich. Von hier aus lässt sich eine Brücke zu den Sozial- und Kulturwissenschaften schlagen: Wir benötigen kohärente Narrative, um vernünftig handeln zu können. Armut, Gewalt und Drogenmissbrauch, aber auch subtilere Formen der (früh-)kindlichen Vernachlässigung beinträchtigen die Entwicklung eines kohärenten Körper-, Selbst- und Sozialgefühls.
In diesen Bereichen hilft die Psychoanalyse, indem sie in der Intimität der therapeutischen Begegnung bedrängende körperliche Empfindungen und verwirrende Vorstellungen, die meist mit schädlichen Beziehungserfahrungen verbunden sind, zur Sprache bringt. Sie kann sich auch hier auf die moderne Neurobiologie stützen, die gezeigt hat, dass unser Gehirn Emotionen und Kognitionen funktional verbinden muss, um psychische Stabilität zu gewährleisten. So arbeiten die Zentren zur Regulation von unbewussten Affekten, die im limbischen System und den Mandelkernen repräsentiert sind, zusammen mit Erinnerungssystemen, die vorwiegend im Hippokampus lokalisiert sind, und mit den höheren Funktionen, z. B. ethischen Werthaltungen, die im präfrontalen Kortex vermittelt werden. Dies ist durchaus kompatibel mit Freuds Strukturmodell von „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“.
Die Zunahme von neuronaler Kohärenz im Verlauf einer psychoanalytischen Behandlung lässt sich mittlerweile auch mit der funktionellen Magnetresonanztomografie belegen. Das heißt aber nicht, dass die Psychoanalyse zur Neurowissenschaft würde. Sie vermittelt eher biologische mit psychologischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven. Diese interdisziplinäre Herausforderung, der sich schon Sigmund Freud stellte, ist allerdings ziemlich komplex.
Psychoanalyse ist gleichzeitig Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaft, Science und Humanity. Sie benutzt sowohl die Methoden der evidenzbasierten Medizin als auch diejenigen der Kultur- und Geisteswissenschaften. Traditionell werden diese Methoden gegenübergestellt, sie können sich jedoch auch ergänzen. In die Interpretation naturwissenschaftlicher Befunde geht immer Sinn ein, der sprachlich formuliert wird und damit von der kulturellen Dynamik geprägt ist. Diese kann nicht naturwissenschaftlich erklärt, sondern nur hermeneutisch verstanden werden. Auch kann die Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nicht aus der Naturwissenschaft selbst begründet werden. Das haben wir aus der einstmals revolutionären Quantenphysik gelernt, die die grandiose technische Innovation der Kernspaltung ermöglichte. Die Quantenphysik konnte die Frage, ob die Atombombe eingesetzt werden soll, nicht beantworten. So wird auch die künstliche Intelligenz nicht ergründen können, ob eine bestimmte Anwendung technischer Neuerungen moralisch zu verantworten ist. Hier geht es nicht um Ursachenforschung, sondern um Begründungen im kommunikativen Handeln.
Eine spezielle Form des kommunikativen Handelns ist die Psychoanalyse. In der Intimität des therapeutischen Gesprächs können verpönte Regungen und verdrängte Erfahrungen wahrgenommen und, wenn es gut läuft, schöpferisch transformiert werden. Die Freiheit von äußerer Kontrolle ermöglicht häufig die Entwicklung eines authentischen Selbst, das mit seiner Herkunft, seinen Lebensumständen und seinen Möglichkeiten kreativer umzugehen lernt. Angesichts eines drohenden Schwindens von Intimität scheint dies aktueller denn je zu sein. Allerdings ist die Psychoanalyse nicht frei von Zwang. Die Lehranalyse, der sich werdende Psychoanalytiker unterziehen müssen, wird von manchen als antiquiertes Ritual erlebt. Auch in diesem Punkt war der Weltkongress in Buenos Aires wegweisend. Es wurde wieder einmal deutlich, wie wichtig die Lehranalyse ist, um Patienten psychoanalytisch verstehen und behandeln zu können. Dazu gehört aber auch, dass sich die Lehranalytiker flexibel auf die Bedürfnisse und Lebensumstände ihrer Kandidaten einstellen.
Psychoanalyse, die interdisziplinär wissenschaftliche Erkenntnisse und aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen aufnimmt, kann in einer durch die Gewalt unterkomplexen und populistischen Denkens gefährdeten Welt einen Freiraum eröffnen, in dem Patienten ihre emotionalen, intellektuellen und sozialen Potentiale entdecken. So wie die Psychoanalyse gesellschaftliche Entwicklungen aufnimmt, bereichert sie auch das politische und kulturelle Gedächtnis. Sie zeigt zum Beispiel, wie wichtig intime Bindungen sind und wie problematisch grenzenlose Offenheit in vielen Lebensbereichen sein kann.