Klaus Theweleit: „Das Lachen der Täter: Breivik u.a.“
Residenz-Verlag; aus der Reihe UNRUHE BEWAHREN
ISBN 978 37017 16371
2.Auflage 2015 248 S. , € 22,80
Rezensent: Dr.med.Horst Brodbeck
Das Buch ist aus der Frühlingsvorlesung zum Thema „Das Lachen der Täter“ entstanden, die am 10. und 11. März 2014 im Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz gehalten wurde und als eine Veranstaltung der Akademie Graz in Kooperation mit dem Kulturzentrum bei den Minoriten und DIE PRESSE stattfand. Auf dem Klappentext des Buches kann man lesen, dass die Reihe UNRUHE BEWAHREN auf eine „Gegenwartstendenz (antwortet), die immer ungemütlicher wird. Dem Fortschritt der Moderne wohnt einer Verschleißunruhe inne, während die Vergangenheit zunehmend entwertet und die Zukunft ihrer Substanz beraubt wird.“
Die Herkunft des Materials zu dieser Vorlesung und zur Ausgestaltung des Buches wird am Ende des Buches von Klaus Theweleit benannt: „Dieses Buch ist zum großen Teil gemacht aus Zeitung; geschrieben entlang aktueller Zeitungsberichte über die in <politischen> sowie <religiösen> Kontexten verübten Mordtaten der letzten Jahre und Jahrzehnte zwischen <Breivik> und <Charlie-Hebdo>; zwischen den Killern des IS im Nordirak und Syrien, dem Genozid an der Tutsi-Bevölkerung in Ruanda in den 90er-Jahren und den Morden des deutschen NSU im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Aber auch ältere Mordtaten sind in den Text einbezogen: der Massenmord an den Kommunisten im Indonesien der 60er-Jahre, die Folterungen an der indigenen Bevölkerung in Guatemala in den 80er- Jahren, zurück bis zu den Taten deutscher Weltkriegssoldaten, sofern sie unter den gemeinsamen Betrachtungspunkt: Das Lachen der Täter fielen (und fallen). Für sehr viele dieser Ereignisse gilt: <Alles was wir wissen, wissen wir von Journalisten.>“ (S.245)
Die gesammelten Zitate dienen dem Nachweis der Thesen des Buches, das den Untertitel trägt: „Psychogramm der Tötungslust“. In der journalistischen Darstellung der Gräueltaten entsteht durch deren reihenweise Zitierung eine Objektivität und Verdichtung, die jede Verdrängung unmöglich macht und den Leser in eine voyeuristische Nähe hineinzieht, so dass in einer zweiten, diesmal körperlichen Abwehrprozedur in Form von Übelkeit und Brechreiz die Abwehr gegen jede Form von Lustgewinn durch die (identifikatorische) Teilhabe an den Gräueltaten verstärkt wird. Auch dies ließe sich als Beleg für die Existenz von Tötungslust, wenn auch in Form der Abwehr dagegen, verstehen. Diese körperliche Reaktion macht das Buch aber auch zu einer Zumutung.
Die journalistischen Zitate sind zwar durchweg dem aktuellen Zeitgeschehen entnommen, aber es geht Klaus Theweleit doch auch um die Fortschreibung seiner Thesen aus den „Männerfantasien“, jenem zweibändigen Werk aus dem Jahre 1977, in dem er die faschistischen Männlichkeits- und Gewaltphantasien von Soldaten des 2. WK analysiert hatte. Er beschreibt darin einen bestimmten dominanten Männertyp, der seine Herrschaft ohne Rücksicht gegen andere mit Gewaltausübung und Töten durchzusetzen versucht. In einem Interview mit der FAZ sagt er von seinem neuesten Buch selber:„ Ja, stimmt schon, in gewisser Weise ist es auch eine Art, Männerfantasien revisited“. Doch es geht hier nicht so sehr um diese nahezu universell beobachtbaren Männerfantasien von Gewaltherrschaft und Tötungslust, sondern auch um die Bedingungen, unter denen aus Fantasien Handlungsakte werden mit der Folge, dass „ Psyche und Physis....vollkommen absorbiert von dem Akt“ sind (S. 15).
Es scheint in dem Buch also um beide Themen zu gehen, um die Bedingungen, die zur Entstehung dieser Männerfantasien führen und um die Bedingungen, die aus Fantasien Taten werden lassen. Aber dies geschieht nicht wie in einer wissenschaftlichen Abhandlung, sondern in dem von Klaus Theweleit erfundenen Stil, der bereits in den „Männerfantasien“ Anwendung fand. Die FAZ (9.1.2016) beschreibt das in einem Kommentar: „Er tat das mit einem völlig neuen Verfahren und Wissenschaftssound, in einer Mischung von Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, autobiografischer Erzählung, Comics, Karten und politischen Kommentaren“. 30 Jahre nach Erscheinen der „Männerfantasien“ kommentierte Sven Reichart (Universität Konstanz) diesen Stil mit den Worten: „Tatsächlich kann von einem stringenten Aufbau des zweibändigen Werks nicht die Rede sein. Zwischen zahlreichen Comics und Gemälden finden sich auf 1147 Druckseiten lange Quellenzitate, die zuweilen launig-assoziativ, zuweilen gar nicht gedeutet werden. Dann gibt es wieder Passagen, in denen ein enger Bezug zu den Theorien und Deutungen von Sigmund Freud und Wilhelm Reich bis hin zu Melanie Klein und Gilles Deleuze/Felix Guarttari hergestellt und das Material entsprechend ausgedeutet wird. Das Buch ist aber alles andere als linear oder aus einem Guss geschrieben. Vor- und Zurückblättern sind in diesem durchlässig geschriebenen Netzwerk erwünscht und einkalkuliert. Theweleit gab in einem Interview den Ratschlag: < Meine Bücher sollte man eher wie einen Film lesen, nicht wie einen herkömmlichen Text>. Reichart kommt mit Benjamin Ziemann zu dem Urteil, dass „Männerfantasien“ noch heute als ein ebenso <genialisches> wie <konfuses> Buch gelten könne.
Diese Beschreibung lässt sich auch auf das neue Buch „Das Lachen der Täter, Breivik u.a.“ anwenden. Es entsteht der Eindruck, der Autor findet einen empathischen Zugang zu der Innenwelt der Täter und auch die Beschreibung kontextueller Faktoren der Außenwelt erscheinen wie plausible Erklärungen und lassen Ahnungen von Zusammenhängen und Begründungen entstehen, aber wie in einer Collage (z.B. Kurt Schwitters u. a.), in denen der Gesamtanblick und die Einzelelemente ständig einander abwechseln. Die Versuchung ist dann groß, die Einzelelemente in ihren Details zu betrachten und darüber das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Aber was will Klaus Theweleit uns mit diesem Buch sagen? Er spricht von sich, er spricht von uns und er spricht von unserer Gegenwart.
Nach Klaus Theweleit sind die Täter nicht krank, sie wollen es auch nicht sein. Sie verkörpern eine männliche Seinsform, in der sich ungehemmt „Machtrausch-Blutrausch-Tötungslust“ manifestiert, wenn sie denn kann oder könnte, und das nur: „In der absoluten Gewissheit, über dem Gesetz zu stehen.“ In „Männerfantasien“ nannte er das den „soldatischen“ Mann. Theweleit setzt ihn in die Reihe der „Tempelritter“ (knight templar = KT – dies sind auch die Initialen des Autors – zufällig?), weil Breivik damit argumentiert hatte, er habe als Templer gehandelt. Der Autor kommt zu dem Schluss: „Das Morden und Massenmorden gehört zum < ganz normalen> Mann-Typ dazu – immer dort, wo die Schleusen einmal geöffnet sind“ (S. 225). Damit widerspricht er den „Sozialpsychologen“, die als „Gewalt-Theoretiker“ darauf hinaus wollten, “dass die tötungsbereiten Killer-in-spe oder Selbstmordattentäter Ausnahmemenschen sein müssten bzw. sollten.“ Er widerspricht vehement und sagt, dass dem nicht so sei. Zwar findet er das auch „besorgniserregend“, aber meint, dass es „schlicht anzuerkennen gilt, dass die Mordvollzüge immer von ganz normalen Männern in ganz normalen Organisationen aus- und durchgeführt werden.“ Dennoch kreist der Autor die Entstehungsbedingungen, die Prädispositionen, die entstehen und die darauf warten, dass „Schleusen“ geöffnet werden, die Handlungsakte möglich machen, näher ein. Das aber sind Bedingungen, die zur conditio humana gehören, nämlich „psychophysische Turbulenzen spätpubertärer Adoleszenten“ (S.187). Dabei bezieht er sich auf psychoanalytische Erkenntnisse, wie sie Moses Laufer/M. Eglé Laufer in „Adoleszenz und Entwicklungskrise“ (Klett-Cotta, Stuttgart, 1994) dargelegt haben. Zu „psycho-physischen Veränderungen“ kommt es nicht nur durch „körperlich-hormonelle Veränderungen; d.h. der/die Jugendliche hat keine Kontrolle mehr über den eigenen Körper“....“und damit auch zu den Körpern der Umgebung“ , sondern auch, „weil der Körper der Betroffenen (und damit auch sein ICH - Anmerkung des Rez.) sich in eine fundamentale Unsicherheit geschleudert sieht“ (S.187). Der Autor bezieht sich auf M.Laufer/ M.E.Laufer, aber auch auf M.Leuzinger-Bohleber, wenn er auf den „<Zusammenbruch> bisheriger Identifizierungen, das Versagen der Abwehrorganisation gegenüber weiterlaufenden frühkindlichen Aggressions-konglomeraten mit entsprechenden Fantasien der Körperzerstörung“ hinweist (S.186). Dort sind auch „erhöhte Inzestversuchung auf der Geschwisterebene und ein häufig entstehender Hass auf den eigenen Körper“ erwähnt.
Die „fragmentierte Körperlichkeit“ scheint für den Autor ein spezifisches Merkmal für diesen Männer-Typ zu sein. Diesen Zustand, den er als „Körperzustand“ begreift, anzuerkennen, bewahre davor, „lässig soziologisierend“ in die Falle allzu „leichter Verständlichkeit“ zu geraten. Diese jungen Menschen werden nicht „umgekrempelt“, „sie bringen ihre Tötungs- und Selbsttötungs-bereitschaft mit“ (S. 189). Lässt man sich auf diese Gedanken ein und folgt dem Autor im Erkennen von „primärprozesshafte(n) halluzinatorische(n) Wunscherfüllungen, die sich in speziellen Wahrnehmungsrealitäten realisieren“ (S.227) bleibt die Frage, ob es sich dabei um eine Entwicklungsstörung oder um eine unausweichliche und nur durch äußere Einflüsse zu kompensierende individuelle Lebenserfahrung handelt, wobei es zu einer gesellschaftlichen Aufgabe würde, durch kulturelle Einflüsse und Angebote auszugleichen. In vielen Kulturen dürften Übergangsrituale diese Prozesse begleiten und kanalisieren.
Klaus Theweleit gibt an, „in den Gewaltakten <soldatischer> Männer“ drei Wahrnehmungs-identitäten gefunden zu haben, die sich ständig wiederholten: die Wahrnehmungsidentität <leerer Platz>, < blutiger Brei> und <Black Out>. Dazu sei kurz erläutert, dass S. Freud in der „Traumdeutung“ (1900) im VII. Kapitel auf den Begriff der „Wahrnehmungsidentität“ im Zusammenhang mit seiner Konzeption der Befriedigungserlebnisse eingeht. Er unterscheidet zwischen dem Primärvorgang, in dem eine unmittelbare Triebabfuhr erfolgt, und dem Sekundärvorgang, der unter dem Einfluss von Hemmung und Aufschub der Erregung zu einer Ablenkung führt (Denkidentität). Primärprozesshafte halluzinatorische Wunscherfüllung würde nun auf dem kürzesten Weg zu einer Wahrnehmungsidentität führen, d.h. das ursprüngliche Befriedigungserlebnis in der Triebabfuhr würde ohne sekundärhafte Umwege erreicht. Klaus Theweleit nimmt nun an, dass in den Wahrnehmungsidentitäten < Leerer Platz>, <blutiger Brei>, <Black out> „ dann alle drei (in verschiedenen Intensitäten) zu einer momentanen körperlichen Erleichterung, die sich bevorzugt in exzessivem Gelächter Bahn bricht, (führen)“. Er erläutert den jeweiligen psychophysischen Vorgang beim Täter: 1. Bei <leerer Platz> geht es um „Beseitigung allen <Gewimmels> der äußeren Welt, das sich <uns> in den Weg stellt“, „Wegschießen von allem <was im Weg steht>“, „was etwas anderes denkt: falsche Religion, falsche Ansichten, falsches Sexualverhalten, falsches Selbstbewusstsein. Jede Art fehlender Unterordnung unter das Gebotene (= Gesetze der eigenen Organisation) ist aus dem Weg zu ballern“ (S.229). 2. Bei <blutiger Brei> geht es darum, das Empfinden „sein(es) eigene(n) fragmentierte(n) <Innen> durch den Tötungsakt nach außen zu kehren. Nicht <Ich>, die Anderen – das Andere – sind der blutigen Matsch“. Es dient dem „Erreichen einer (vorübergehenden) Homöostase“ (S.228). 3. Das Erreichen der Wahrnehmungsidentität <Black out> bedarf eines gleichwertigen Gegners, den es zu vernichten gilt. Pogromartiges Gemetzel wäre nur die Beseitigung von <Ungeziefer>. Ein wahres <Black Out> ist dann identisch mit dem Sprung „to paradise“.
Es sind für Klaus Theweleit diese beiden Themen, die für die Entstehung des <soldatischen> Mannes zentral zu sein scheinen: die fragmentierte Körperlichkeit und die sich daraus ableitende hohe innere Gespanntheit, die sich Abfuhr sucht, um in einen Zustand von Homöostase zu gelangen. Fragmentierte Körperlichkeit beschreibt er als ein Durchgangsstadium, eine Entwicklungsphase, in der körperliches Wachstum und geschlechtliche Reifung nicht nur den Körper verwandeln, sondern auch eine <Identitäts-Diffusion> (E.H.Erikson) bewirken. Es geht um Spannungsabfuhr und Sicherheitsfindung für Körper und Selbst. In diesem Zustand wiederum sind verunsicherte junge Männer besonders anfällig für primitive oder totalitäre Angebote, die Zugehörigkeit, Anerkennung und Teilhabe an Macht versprechen. Darauf hingewiesen und in einen universellen Kontext gestellt zu haben, ist das besondere Verdienst dieses Buches. Der spätere Täter findet in dem „neuen riesigen Überkörper der Überorganisation“ (S.51) seines in „machtvoller Eingebundenheit neu entstehenden großen Institutionsleibs“ (S.51) seine verlorene Identität wieder. Folgt man Theweleits Sicht der Körperlichkeit, wird die „Hand“ (des Täters) zum Teil des Über-Körpers, für den „alle, die nicht zur Eigengruppe gehören – das heißt zugespitzt : zum eigenen Körper -, prinzipiell des Todes sind“ (S.47). So lässt sich verstehen, dass die <Hand> (als Körperteil des Täters und zugleich teilhabend am Über-Körper der Über-Organisation) verschmilzt mit einem Gefühl von „Machtzuwachs, Feiercharakter, Jubel des Terrors zur eigenen Körperstabilisierung“ (S.56). Hier wird klar, dass es dabei nicht um politische Konflikte oder Überzeugungen geht, auch nicht um Religion, sondern dies allein dem „Zusammenflicken der eigenen zerstörten, von Fragmentierung bedrohten Körperlichkeit“ (S.37) dient. Die sich daraus ergebenden Folter- und Tötungsakte entstehen nach Klaus Theweleits Erkenntnissen erst durch vier spezifische begünstigende Bedingungen: 1.) es müssen straflos durchgeführte Gewaltakte sein und der ausübende Täterkörper sich als Teil der übergeordneten Macht, die alles erlaubt oder sogar anordnet, empfinden; 2.) der Gewaltakt wird zur <Fiesta> und zur <Ausstellung< ; 3.) er mündet in eine mit Lachen begangene Feier und 4.) endet in einen bejubelten Zusammenschluss mit der übergeordneten größeren Organisation (S.51). Klaus Theweleit beschreibt das so: „Zur Homöostase der Fragmentierenden gehört das Schauspiel des Tötens, kulminierend in exzessivem Gelächter der Ausübung höchster Macht. Die Entladung äußert sich in Rauschgefühlen. Der Rausch ist zum Brüllen. Das Gelächter ist das orgiastische Gefühl des Killers“ (S.92).
Was aber ist los mit diesen Menschen? Hier geht Klaus Theweleit davon aus, dass es für diese Menschen (durch die körperliche Wandlung in der Pubertät – aber auch infolge spezifischer frühkindlicher Beziehungserfahrungen) zu einer „abgrundtiefen Fremdheit zwischen Welt und Ich“ (S.100) gekommen ist, die das Lachen („Hahahahaha“) zum „Ausdruck höchster Einsamkeit“ werden lässt. Theweleit nimmt an, dass es „die Einsamen sind, die sich tot lachen“ (S.101). Das Gelächter füllt eine innere Leere, die sich sonst füllen könnte mit der Gewissheit: „Ich weiß nichts, ich bin nichts, ich habe keinen Ort, ich habe niemanden, an den oder die ich mich wirklich halten kann; Nichts, das mich hält, ich falle“ (S.100). Hier lässt sich die Not-wendigkeit von Bindung und Zugehörigkeit ableiten, die sich mit einer „Angst vor Unordnung und tiefem Wunsch nach Reinheit“ (S.168) verknüpft hat. Nichts darf stören: „Alles <Fremde>: raus“ (S.160). Klaus Theweleit schreibt: „Der gepanzerte, von Schmutz- und Fragmentierungsängsten bedrohte Körper des soldatischen Mannes hält äußeres <Gewimmel>, sei es von tatsächlichen Insekten und kleinen Tieren, sei es von Menschen <niederer Rasse>, die er <selbstredend> als Ungeziefer bezeichnet, nicht aus. Er wird gewalttätig....Es sind dies Akte der eigenen zwanghaften körperlichen Stabilisierung“ (S.169).
Mit seinen Überlegungen, Ableitungen und Thesen gibt uns Klaus Theweleit nützliche Hinweise zu der unübersichtlichen Migrationsproblematik und deren Diskussion in Medien und Gesellschaft. Sie machen es möglich, neben Empörung und Ablehnung doch zu einer differenzierteren Betrachtung zu kommen. Für diese jungen Menschen aus uns fremden Kulturen gilt ja besonders, was für alle männlichen Adoleszenten zu bewältigen gilt. Klaus Theweleit schreibt dazu: „Junge Menschen, insbesondere junge Männer mit der Empfindung einer gesellschaftlichen Ortlosigkeit, die im adoleszenten Alter immer mit einer körperlichen Unsicherheit einhergeht, sind massiv davon bedroht, in diesem Zustand körperlich zu fragmentieren. Wenn dann die Unsicherheit über den eigenen sexuellen Status hinzukommt, wenn noch eine Freundschaft bricht, eine Liebesbeziehung oder eine Vereinszugehörigkeit misslingt und bei der Gelegenheit noch >Du gehörst ja nicht hierher> ins Spiel gebracht wird, geht der schwache Boden unter den Füßen womöglich ganz weg: <Hier werde ich nie was!> <Hier lässt man mich nicht leben!> Dann muss etwas Größeres her. Diesen Zustand aufzufangen und zu bearbeiten, stehen offenbar <Prediger> bereit“ (S.218). Im nächsten Absatz folgt sein Rat an uns: „Dagegen hilft nicht, die Jugendlichen auf die <Errungenschaften der westlichen Zivilisation> einzuschwören; in dieser gesellschaftlichen Lebensform Fuß zu fassen, misslingt ihnen aktuell ja gerade. Helfen würden nur Beziehungen, Liebschaften, gute, tragfähige Gruppen oder Vereine und natürlich ein guter Arbeitsplatz. Sie geben Boden unter den Füßen. Erst dann kann er wachsen. Wer nicht in dieser Form wachsen kann, wächst in den Idiotismus der Großmacht. Das ist so was wie ein Gesetz“ (S. 218).
In Überlegungen und Thesenbildung greift Klaus Theweleit immer wieder auch auf Sigmund Freud und die Psychoanalyse zurück. Seine Gedanken finden sich schon im VII. Kapitel der „Traum-deutung“ (1900), in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ (1921) und in „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) wieder, aber er erwähnt diese Herleitung nicht zitierend, was verwundert, denn ihm ist die Psychoanalyse als Wissenschaft vom Menschen durchaus vertraut. Vielleicht ist es sein Grundgedanke von den „Männerfantasien“, den er nicht in psychoanalytische Kategorien auflösen möchte. Ich könnte mir aber denken, dass Freud sich des Buches jedoch gerne bedient hätte, um seine Thesen aus „Das Unbehagen in der Kultur“ mit Beispielen zu belegen. Dennoch würde es sich lohnen, die psychoanalytischen Entwicklungstheorien, die Auffassungen zur frühen Kindheits-erfahrung und die Wechselwirkungen individueller und gesellschaftlicher Faktoren auf die Ich-Entwicklung detaillierter zu untersuchen, die für die Entstehung der „Männerfantasien“ grundlegend sein mögen. Dies könnte das Verständnis weiter vertiefen. Klaus Theweleit macht zum Körperbild lediglich Anleihen bei Margret Mahler und Antonio Damasio. So bleibt die Vermutung, dass es ihm nicht so sehr um theoretische Konzepte ging, sondern um die Frage, was für ein Ungeheuer der Mensch doch ist oder sein kann, wenn er nicht wirksam eingebunden wird, sondern als „frei flottierender SS-Mann“ seine Gewaltfantasien in Gräueltaten zur eigenen Homöostase auslebt. Diese Perspektive lässt ein Buch zum Gruseln entstehen.
Das Buch lässt sich aber auch verstehen als Aufforderung an die Psychoanalyse und die Psychoanalytiker, sich nicht auf den Posten von wissenschaftlichen Beobachtern zurückzuziehen, sondern mit ihren Erkenntnissen Einfluss nehmen zu wollen, um Bedingungen zu erreichen, die zu etwas führen, wie es Erik H.Erikson (1966) beschreibt: “Ferner muss unsere Demokratie den Jugendlichen Ideale bieten, die von jungen Menschen der verschiedenen Herkunft geteilt werden können und auf Autonomie in Form von Unabhängigkeit und Unternehmungslust ausgerichtet sind“ (S.112).
Darum möchte ich mit einem Zitat aus der Neujahrsbotschaft des gegenwärtigen IPA-Präsidenten Stefano Bolognini schließen: „Um auf das zurückzukommen, was ich anfangs über die aktuelle Situation gesagt habe, möchte ich unsere psychoanalytischen Kollegen dazu ermuntern, sich nicht ihrer potenziellen kulturellen und sozialen Funktion zu entziehen. In tragischen und schmerzhaften Zeiten wie diesen, in welchen die menschliche Zerstörungskraft auf gefährliche Art und Weise zuzunehmen scheint, können Psychoanalytiker durch das Studium psychosozialer Probleme und Spannungen zwischen Gruppen und Völkern einen wertvollen Beitrag leisten - wenn auch in begrenztem und bewusst eingeschränktem Maße. Sigmund Freud selbst hat dies getan, und manchmal wird es nach wie vor von Kollegen getan, die im kulturellen Bereich besonders einfühlsam, couragiert und engagiert sind. Lassen Sie uns angesichts dieser Aufgabe uns nicht zurückziehen, sondern uns mit der Unterstützung unserer wissenschaftlichen Gemeinschaft und all unserer Kollegen auf angemessene Art und Weise der Herausforderung stellen.“ (Neujahrsbotschaft 2016)