Einführung
Natürlich funktioniert eine psychiatrische Institution, sei es nun eine Poliklinik oder eine Klinik oder eine psychiatrische Übergangseinrichtung, auch ohne psychoanalytische Grundlegung. Insofern ist es von vornherein klar, dass das psychoanalytische Denken real nicht notwendig ist für die Arbeitsfähigkeit der Institutionen. Dennoch, vielleicht nicht überraschend, will ich mit Nachdruck vertreten, dass ohne psychoanalytische Denken die Not in den Institutionen viel größer bleibt, als sie es ohnehin ist, und es schwer möglich ist, den Anforderungen einer psychiatrischen Institution voll gerecht zu werden. Den Ausführungen sollen Verortungen vorangestellt werden: ich will die Position, von der her ich spreche, kennzeichnen, und ich will den Zeitpunkt, in dem wir über das Thema nachdenken, historisch situieren.
Ich habe als Psychoanalytiker immer auch in Institutionen gearbeitet; besonders geprägt haben mich die letzten acht Jahre, erst als Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Liestal, Basel-Land, Schweiz, und zuletzt als ärztlicher Direktor der Erwachsenenpsychiatrie der Psychiatrie Baselland, zuständig zusätzlich auch für die Ambulatorien und Tageskliniken. Ich bin überzeugt, dass die Psychoanalyse für die Psychiatrie unentbehrlich ist; ich bin mir zugleich sicher, dass auch die Umkehrung stimmt, nämlich dass die Psychoanalyse ebenso sehr die Psychiatrie braucht, besser: die Begegnung mit den Patienten, die in psychiatrischen Institutionen behandelt werden und selten in den Praxen, um sich weiter zu entwickeln. Die psychoanalytische Arbeit in der Institution ist für mich immer ein doppelter Stachel gewesen, nämlich einerseits mit der Potenz psychoanalytischen Denkens den Horizont des klinischen Verstehens auszuweiten; dabei habe ich mich selbst besonders für negative Phänomene in der Psychose und der psychosomatischen Krankheit interessiert, um zu prüfen, ob sich Sinn dort zu finden lässt, wo keiner mehr zu sein scheint, ob die Zerstörung sinnhaften Erlebens selbst als verstehbares radikales Unterfangen zur Selbstbewahrung zu rekonstruieren ist (Küchenhoff 2013). Dazu ist es andererseits notwendig, die psychoanalytische Theorie selbst auf den Prüfstand zu stellen und in der Begegnung mit schwerem psychischem Leiden die psychoanalytischen Konzepte weiter zu entwickeln.
Die internationale Psychoanalyse, wie sie auch die IPA vertritt, bewegt sich. Ich erlebe – zum Beispiel beim letzten IPA-Kongress (International Psychoanalytical Association) in Boston - eine mehr und mehr reifende Einsicht, dass auch die Anwendungen der Psychoanalyse Psychoanalyse sind, dass es schlicht keinen Sinn macht, nur das klassische Verfahren der Kur als psychoanalytisch zu bezeichnen. Die Psychoanalyse bewegt sich wieder auf die Psychiatrie zu. Dafür gibt es untrügliche Zeichen; ich nenne nur die, die mich persönlich betreffen: ich bin selbst gebeten worden, Arbeitsgruppen sowohl in der DPV, die Teil der IPA ist, der SGPsa vergleichbar, als auch in der DGPT, die zur EFPP gehört, einzurichten, die zum Thema das Verhältnis „Psychiatrie und Psychoanalyse“ haben. Die Psychoanalyse ist in der Lage, auf die Psychiatrie zuzugehen, da sie konzeptuell sehr gut für dieses Anwendungsfeld gerüstet ist, wie noch zu zeigen sein wird. Gleichwohl besteht kein Grund, übertrieben optimistisch zu sein. „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“, sagt Hegel. Auch die psychoanalytische Eule der Weisheit kommt möglicherweise zu spät in der psychiatrischen Institution an, deren Entwicklung durch ökonomische Zwänge verdunkelt wird und die vielerorts zu unangemessener und falsch verstandener Effektivität verpflichtet wird. Die Psychiatrie steht nicht von selbst offen, sie muss erobert, manchmal auch zurück erobert werden. Anders als die Eulen aber bleiben die Menschen in der Dämmerung gern im Haus, auch die Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker, und das könnte sich in unserem Fall als ein großes Problem erweisen.
Der folgende Text gliedert sich in folgende Teile: In einem ersten Teil wird ein Überblick darüber gegeben, auf welchen Ebenen Psychoanalyse in der Institution wirksam werden kann. Sie tut das, indem sie – wie jede andere Therapieschule auch – diagnostische und Behandlungsverfahren anbietet. Sie geht aber darüber hinaus, indem sie eine Metatheorie zur Verfügung stellt, die es erlaubt, heterogene Behandlungsbausteine zusammenzufügen, und indem sie den Alltag des psychiatrischen Handelns zu verstehen und therapeutisch nutzbar zu mache erlaubt. Schließlich versteht sich Psychoanalyse nicht nur als Therapie in der Institution, sondern als Analyse der Institution, mit dem Ziel, die Institution selbst zu einem therapeutischen Faktor werden zu lassen, zumindest zu verhindern, dass die Institution umgekehrt den Therapien entgegenarbeitet oder schädlich wirkt. Der zweite Teil beschreibt die Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, damit die Psychoanalyse auf den verschiedenen Ebenen fruchtbar werden kann. Zu unterscheiden sind dabei organisatorische Voraussetzungen wie Personalausstattung und Zeit-Management von den konzeptuellen Voraussetzungen, etwa der Bereitschaft aller Ebenen der Hierarchie zur Mitarbeit oder zur Toleranz. Zu den Voraussetzungen gehören aber auch didaktische Maßnahmen (psychoanalytische Kenntnis fällt nicht vom Himmel, sondern muss vermittelt werden) und eine ausreichende personelle Ausstattung mit Psychoanalytikern.
Teil I: Ebenen psychoanalytischer Wirksamkeit in der psychiatrischen Institution
Was also hat die Psychoanalyse der psychiatrischen Institution zu bieten? Zunächst einmal, auf einer untersten Ebene, spezifische Verfahren der Diagnostik und der Therapie. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich in keiner Weise von anderen Therapieschulen. Erfreulich ist zu sehen, wie die psychoanalytisch ausgerichteten Konzepte handhabbarer und dadurch brauchbarer für den psychiatrischen Alltag geworden sind. Als ein Beispiel aus dem Bereich der Diagnostik kann die Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik OPD stehen. Durch sie lassen sich einige wichtige Grundlagen psychoanalytischen Denkens fassbar vermitteln, wertvoll ist es z.B., Beziehungsmuster psychoanalytisch genau zu beschreiben und festzuhalten, was in der therapeutischen Beziehung und in den anderen emotional relevanten persönlichen Beziehungen immer neu schief geht, oder mit Hilfe der Strukturachse zu erfassen, wann eine vorwiegend intrapsychische Bewältigungsform versagt und durch Formen einer interpersonalen Abwehr ersetzt wird, die die Selbst- und Objektbilder verändert und verzerrt. Allerdings ist bereits die OPD für den Alltag sperrig und anspruchsvoll; sie setzt psychoanalytische Erfahrungen voraus und muss in Kursen trainiert werden, und sie benötigt ein Minimum an Zeit, das manchmal im bedrängten klinischen Alltag nicht zur Verfügung steht. Wer damit arbeitet, hat allerdings große Vorteile; anders als die übliche psychiatrische Diagnostik lässt sich die OPD nämlich auch für die Behandlungsplanung nutzen.
Als ein Beispiel für ein therapeutisches Angebot, das als spezifische Technik in der Psychiatrie stationär oder ambulant nutzbar ist, lässt sich die psychodynamische Kurz- und Fokaltherapie nennen. Sie erlaubt es, aus der Fülle der möglichen Konfliktthemen, die in der Diagnostik sichtbar geworden sind, eine Auswahl zu treffen und die vorrangigen und leidensrelevanten Probleme zu bearbeiten, und zwar so, dass die begrenzte Zeit, die für die Behandlung zur Verfügung steht, in der Therapie immer beachtet und nicht als Stör-, sondern als Therapiefaktor ernstgenommen wird (Küchenhoff 2004).
Auf der nächsthöheren Ebene bietet sich die Psychoanalyse als eine Metakonzeption an, die es erlaubt, den Alltag in der Institution reflektierend zu begleiten. Denn dieser Alltag ist von vielen Determinanten bestimmt, anders als in der Kur lässt sich das Behandlungssetting nicht auf die möglichst gute Exposition einer Übertragungsbeziehung ausrichten. Aber der psychoanalytisch ausgerichtete Mitarbeiter einer Akutstation, die ganz anderen als psychoanalytischen Regeln folgt, leiht dem Patienten ein anderes Ohr als der nicht analytisch denkende Kollege; er wird nicht allein darauf aus sein, Pathologie festzustellen, sondern Leiden zu vernehmen. Er wird auch dort, wo die Fähigkeit, sich auszudrücken, versiegt zu sein scheint, im Rückzug, im Verstummen, im Erstarren, nicht bloß Defizienz und Zusammenbruch der Ichstruktur annehmen, sondern eine verzweifelte Maßnahme gerade dieses Ichs, um sich vor den als überwältigend erlebten Anderen zu schützen. Er wird den Patienten, der süchtig oder psychotisch geworden ist, fair zu behandeln suchen und wird sich selbst hinterfragen, woher seine Abneigung z.B. gegen Menschen mit Alkoholabhängigkeiten kommt, und wird durch diese Selbstbefragung wieder frei, seinem süchtigen Patienten unbefangen zuhören zu können. Die psychoanalytische Haltung, das Denken in psychoanalytischen Kategorien, trianguliert das therapeutische Geschehen, weil es der Begegnung mit dem Patienten die Metaebene psychoanalytischer Reflexion der therapeutischen Beziehung beifügt, in welchem klinischen Kontext auch immer. Diese psychoanalytische Denkweise kann unabhängig vom Setting nutzbringend angewendet werden, in jeder klinischen Situation.
Eine nächste Ebene legt sich sogleich auf diese Ebene der Beziehungsarbeit und knüpft an sie an. Nun geht es um die Beziehungsanalyse nicht mehr in der Zweierbeziehung von Therapeutin und Patientin, sondern in einem Mehr-Personen-Kontext. Als Metakonzeption erlaubt Psychoanalyse in der Institution es, die Beziehungen zwischen den Patienten und Patientinnen und ebenso zwischen den Mitgliedern des Therapeutenteams und den Patienten und Patientinnen zu beobachten und zu reflektieren. Stellvertretend für viele sollen zwei klassische Konzeptionen stehen, die beide auch heute noch nützlich und nicht überholt sind, und es lohnt beide zu nennen, weil sich in deren Vergleich zugleich die Entwicklung psychoanalytischer Theorie spiegelt. Foulkes (1978) hat uns mit seinem Matrixkonzept die Möglichkeit gegeben zu verstehen, wie in einer Gruppensitzung, aber auch wie im Alltag einer psychiatrischen Abteilung sich eine unbewusste Matrix herausschält, an der jeder in spezifischer Weise beteiligt ist, indem er seine internalisierten frühen Objektbeziehungsmuster in diese Matrix einbringt und dementsprechend seine Position findet. Die unbewussten Konflikte werden in den Beziehungen reinszeniert. Diese Konzeption konnte sich aus der psychoanalytischen Neurosenkonzeption heraus entwickeln, sie setzt ganzheitliche Selbst- und Objektbilder voraus. Die Objektbeziehungstheorie in der Melanie-Klein-Nachfolge, von Bion bis Kernberg und darüber hinaus, hat uns gelehrt, dass diese Annahme voraussetzungsreich ist, dass wir von einem geringeren Integrationsniveau bei vielen Patienten und Patientinnen ausgehen müssen, die zu einer Externalisierung und Projektion von Selbstanteilen oder Objektbild-Fragmenten neigen, so dass sich die Selbstanteile des schwer in seiner Persönlichkeit beeinträchtigten Patienten gleichsam verstreut bei vielen Menschen finden, seien es nun dichotom gespaltene Bilder, seien es komplexer geteilte Fragmente. Das Team hat nun die Chance und – wenn sie die Chance nutzt - die Aufgabe, die Übertragungsfragmente oder die nur in der Gegenübertragung spürbaren Gedanken- und Emotionssplitter gleichsam aufzufangen und zu einem Bild zusammenzusetzen, das im Sinn der verdauenden, der Alpha-Funktion eines Teams an den Patienten zurückgegeben werden kann.
Das klingt so einfach, und doch wissen wir alle, wie schwer die Umsetzung ist. Denn der Spiegel, den das Team aufstellt, in dem sich der Patient reflektieren und wiederfinden kann, ist allzu oft stumpf oder zum Zerrspiegel geworden. Daher nun die nächste Ebene.
Beziehungsanalyse in der Zweierbeziehung und im therapeutischen Team braucht, um wirksam werden zu können, die Supervision, die die nächste Ebene darstellt und der institutionalisierten und auf Dauer gestellten Reflexion der Beziehung entspricht. Sie muss es leisten können, in der Analyse der Befindlichkeit der Teammitglieder, der Teamkonflikte und der Teamprozesse den Spiegel des Teams wieder blank zu putzen, die Mitarbeitenden also arbeitsfähig zu erhalten. Die Supervision kann diese Funktion freilich nur erfüllen, wenn sie psychoanalytisch ausgerichtet ist. Heute ist die psychoanalytische Supervision nicht nur theoretisch gut fundiert, sondern wird als Ausbildungsgang angeboten. Die Fähigkeit zur Supervision von Teams fällt nicht vom Himmel der psychoanalytischen Ausbildung, wenn sie nicht gelehrt und trainiert wird. Denn es ist keine leichte Aufgabe, die die Supervisorin übernimmt, sie muss verschiedene Rollen in sich vereinen; am wichtigsten ist wohl die des Containers für die hohe Emotionalität, die in psychiatrischen Teams unweigerlich aufkommt, wenn beziehungsorientiert gearbeitet wird, aber sie wird auch als Expertin und klinische Lehrerin angesprochen – was Abstinenz bedeutet, das definiert sich in der Supervision anders als in der analytischen Therapie. Manchmal fällt der Supervisorin auch in Zeiten eines raschen Mitarbeiterwechsels die Rolle der Traditionswahrung und -vermittlung zu. Zugleich muss sie sich schützen, und in diesem Punkt muss sie unterstützt werden vom Leiter der psychiatrischen Institution: Supervision darf nicht aufgesogen werden und andere Ziele übernehmen und für Managementanliegen und administrative Aufgaben entfremdet werden.
Auf der obersten Ebene steht die Ausweitung der psychoanalytischen Beziehungsanalyse auf die Institution selbst. Psychodynamische Organisationsberatung ist mittlerweile gut etabliert (Kernberg 1998, Lohmer&Möller 2014, Becker 1995, Gfäller 2010), sie wird bei weitem nicht nur in psychiatrischen Institutionen angewendet, sondern z.B. auch in großen Organisationen der Politik und der Wirtschaft. Die IPU, die Internationale Psychoanalytische Universität in Berlin, hat nicht ohne Grund vor einem Jahr einen Studiengang Organisational Studies aufgebaut. Für die psychodynamische Organisationsberatung sind gruppenanalytische Konzepte wesentlich, erneut beschränken sich die psychoanalytischen Ansätze nicht darauf, unbewusste Konflikte in der Matrix der Institution aufzuspüren, sondern richten sich auf die Analyse der Struktur, in der Annahme, dass in vielen Institutionen die Strukturen, die Aufgabenverteilungen unter den Mitarbeitern, die hierarchischen Rollen, die Grenzen zwischen Therapeutenteam und Verwaltung, um nur einige zu nennen, brüchig und schief sind. Psychoanalytische Organisationsberatung fokussiert heute darum zurecht auch darauf, ob die in der Institution ausgetragenen persönlichen Feindschaften und vermeintlichen Konflikte nicht Ausdruck eines schlechten Strukturniveaus der Institution sind, ganz vergleichbar dem OPD-Befund, dass Menschen mit ausgeprägt gering integriertem Strukturniveau zwar eine Vielzahl von Konflikten zeigen, aber dass entscheidend für ihre Therapie nicht die Konfliktbearbeitung, sondern die Stärkung der geringen Haltfähigkeit der Struktur ist (Lohmer, Möller 2104, S.35). Bion war einmal mehr auch in diesem Bereich Vorreiter; seine Analyse gleichsam psychotischer Gruppen, die er Grundannahmegruppen nannte, kann beim Verständnis der Organisationsdynamik große Hilfe leisten. Wenn die Ängste in der Gruppe, so Bion, zu groß werden, zieht sich die Gruppe auf Grundannahmen zurück, die sie schützen sollen. Die Gruppe nimmt eine abhängige Position an und unterwirft sich ganz der Obhut eines Führers. Sie sucht ihr Heil entweder im Kampf oder in der Flucht. Oder sie teilt sich in Paare auf, die unter sich Sicherheit vermitteln, aber mit den anderen nicht mehr verbunden sind (Bion 2015).
Aber dennoch ist die gleichsam neurosenpsychologische Sichtweise darum nicht überflüssig, die beispielsweise im sog. Tavistockmodell vertreten wird. Es geht davon aus, dass jede Organisation eine oder mehrere Kernaufgaben hat, um deren willen sie existiert. Mit der Erfüllung der Aufgabe sind spezifische Risiken notwendig verbunden, und diese Gefahr des Scheiterns macht Angst. Die Angst ist nicht vermeidbar, aber es ist die Aufgabe der Institution, mit ihr fertig zu werden, sie konstruktiv zu bearbeiten. Kann sie sie nicht bewältigen, dann werden psychosoziale Abwehrmechanismen eingesetzt, die durchaus den neurotischen Abwehrformen in der individuellen Konfliktabwehr gleichen (Jaques 1955, Menzies Lyth 1959, Long 2006).
Eine psychiatrische Institution hat die Aufgabe, seelisch belastete Menschen zu behandeln. Mit der Erfüllung der Aufgabe verbunden ist die Gefahr, sich nicht genügend abgrenzen zu können, aber auch die Gefahr zu versagen und nicht wirklich angesichts des großen Elends des Kranken helfen zu können. Wenn jetzt die Institution nicht genügend Schutz bietet, sei es als vertragliche Sicherheit für den Arbeitsplatz des Mitarbeitenden, sei es durch die wertschätzende und einfühlsame Unterstützung der leitenden Fachpersonen, sei es in Form von Garantieerklärungen für das Fortbestehen des Therapieangebots, für das die Mitarbeitenden sich einsetzen, dann bleibt die Angst unbearbeitet, der Mitarbeitende übertönt sie, indem er sich ein rigides Verhalten gegenüber Patienten angewöhnt, die dann nicht mehr an ihn oder sie herankommen, oder er wendet die Enttäuschung in destruktives, passiv-aggressives Unterminieren der Institution um.
Teil 2: Zu den Voraussetzungen psychoanalytischer Arbeit in der Institution
Organisatorische Voraussetzungen
Zeit:
Eine der Errungenschaften der großen analytischen Kur ist, Zeit zu geben, um Denk- und Erlebensräume zu lassen oder zu schaffen. Diese Zeit ist nicht oder kaum noch gegeben in einem klinischen Alltag; ein falsch verstandener, missbräuchlich verwendeter Slogan „ambulant vor stationär“ droht die intensiven Möglichkeiten der stationären Behandlung abzuwürgen, Krankenversicherer stellen Klinikärzte unter einen Generalverdacht zu lügen, wenn sie unentwegt Bestätigungen fordern für die absolute Notwendigkeit der stationären Therapie, so als hätten die Verantwortlichen sich nur zum Schein z.B. dem Schweizerischen Krankenversicherungsgesetz und seiner Forderung auch nach Wirtschaftlichkeit neben Wissenschaftlichkeit und Wirksamkeit unterstellt. Wir müssen um Entgeltsysteme kämpfen, die die Möglichkeiten einer multidisziplinären, multimodalen stationären oder teilstationären Therapie nicht radikal auf eine medikamentöse Neueinstellung reduziert. Und dennoch: im stationären wie im ambulanten Setting gilt, dass die psychoanalytische Arbeit nicht nur das Imaginäre, das Reich der Phantasie und der unbewussten Wünsche, sondern auch die Realität berücksichtigen muss. Psychoanalytische Arbeit braucht Zeit, und ein zuträgliches Minimum darf die Therapiezeit nicht unterschreiten. Aber sie muss sich auch auf die Realität einer knappen Zeit einrichten und nicht gegen die Zeit, sondern mit der Zeit als Therapiefaktor arbeiten. So gilt es eine Doppelstrategie zu verfolgen: um Zeit zu kämpfen, aber zugleich mit der Zeit rechnen und mit ihr mitgehen, sie einbeziehen. Dann stellen sich schwierige, aber notwendige und auch spannende Fragen: was bedeutet es für die therapeutische Beziehung, wenn sie sich schnell wieder lösen muss? Wann muss der Therapeut die Trennung vorbereiten – vielleicht schon in den ersten Gesprächen? Wie sinnvoll ist eine enge Bindung in einer sehr kurzen Krisenintervention? Werden die ambulant tätigen Kolleginnen gleich einbezogen? Personalausstattung:
Zeit wird von Personen, die sie haben, zur Verfügung gestellt. Wenn nicht genügend Personen da sind, die eine therapeutische Beziehung anbieten und eingehen können, verringert sich die Zeit der Anwesenden entsprechend. Sparmaßnahmen, die die weitgehend ökonomisch verselbstständigten Spitäler erreicht haben, drücken massiv auf den Personalbestand. Noch sind die Kliniken der Schweiz privilegiert, aber die Gefahr ist groß, dass die klinisch-psychiatrischen Institutionen so verkümmern wie in manchen Nachbarländern, die sich auf biologische Maßnahmen reduzieren müssen. Dabei ist es ja kein Geheimnis, sondern gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, dass Psychotherapie unabdingbar für den Genesungsprozess psychischer Krankheit ist. Eine Pharmakologie ohne Beziehungsarbeit ist kaum wirksam und überdies ein Artefakt. Auch für die medikamentöse Therapie ist die Psychoanalyse wichtig, deshalb plädiere ich – in einem Buch, das ich herausgebe, das im Frühjahr 2016 erscheinen wird und den Titel „Psychoanalyse und Psychopharmakologie“ trägt (Küchenhoff 2016) – für eine psychodynamische Psychopharmakologie. Auf eine allein neurobiologisch ausgerichtete institutionelle Therapie, die mit wenig Personal auskommt, kann jedenfalls niemand mehr hoffen, der Behandlungszeiten in der institutionellen Psychiatrie verkürzen möchte – das war einmal und hat sich als große Illusion herausgestellt.
Konzeptuelle Voraussetzungen: Freiräume, institutionell
Ausreichend viele Therapeuten und Therapeutinnen, die sich Zeit nehmen können – das sind wichtige Voraussetzungen, aber sie reichen nicht aus. Die Zeit und der persönliche Einsatz müssen auch für die therapeutische Arbeit genutzt werden können und nicht restlos aufgehen in noch bessere Organisation und Bürokratie und Dokumentation. Psychoanalytische Arbeit braucht immer wieder Momente des freien Nachdenkens, des offenen Nachspürens und des abgesicherten, geschützten Hörraumes. Wenn Rilke in seinem schönen Gedicht „Über die Geduld“, bezogen auf den Einzelnen und die eigene Selbstreflexion, sagt: „Man muss Geduld haben, gegen das Ungelöste im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.“, so sind auch die Gedanken der Anderen, die sich einer psychiatrischen Institution anvertrauen, in einer fremden Sprache geschrieben, die manchmal nur die Sprache des Handlungsdialogs oder des Körpers sein kann, auch die Therapeuten brauchen Geduld und das heißt auch: den kreativen Ort, an dem sie mit eigenen Gedanken und in der Überprüfung der eigenen Empfindungswelt das zu repräsentieren versuchen, was dem Kranken nicht in seiner eigenen Sprache zugänglich ist.
Akzeptanz der Arbeitsweise auf allen Ebenen der Hierarchie:
Aus all dem folgt, dass psychoanalytisches Arbeiten in der Institution nicht als Initiative und Engagement einzelner begeisterter Therapeutinnen denkbar ist. Es kann sich nicht gegen die im Leitbild und die im Behandlungskonzept niedergelegten Wertvorstellungen einer Institution behaupten, sondern muss in ihnen explizit enthalten oder zumindest durch sie ermöglicht werden. Alle hierarchischen Ebenen sollten in den Grundsätzen übereinstimmen und sich dafür einsetzen, sie umzusetzen.
Systemtheoretischer Exkurs
Systemtheoretisch betrachtet wird oft vom therapeutischen Bereich einer Poliklinik oder Klinik die Verwaltung als Umwelt angesehen, von der sich das therapeutische System abhebt (Luhmann 1994). Das hat zur Folge, dass sich das therapeutische System nach eigenen Regeln und Gesetzen gestaltet, die eingehalten werden müssen, damit sich das System selbst erhalten kann. In gewissem Umfang muss sich das therapeutische System notwendig nach eigenen Regeln entwickeln, insofern ist es autopoietisch; aber das gilt nicht total, vielmehr muss es zugleich auch offen sein gegenüber seiner Umwelt, also beispielsweise gegenüber der Verwaltung. Therapeutische Systeme sind in diesem Sinn notgedrungen offene Systeme. Sie können sich nicht abschließen, auch wenn sie die Regeln des eigenen Aufgabenbereichs selbst regulieren. Das therapeutische System muss also sicherstellen, dass der Verwaltungsbereich, zu dem auch die Finanzabteilung gehört, ein stabiles Umfeld garantieren kann, das die Voraussetzung für das analytische Arbeiten, also die Arbeit im System selbst, ist. Die Finanzabteilung muss nichts von den psychoanalytischen Regeln selbst verstehen, diese sind nur innerhalb des therapeutischen Systems relevant. Aber sie muss die Ansprüche, die sich aus den Regeln ergeben, zur Kenntnis nehmen und sich zu ihnen verhalten. Wenn sie nicht bereit ist, die Voraussetzungen zu schaffen oder aufrecht zu erhalten, so muss es zu einer Auseinandersetzung darüber kommen, ob die Verwaltung selbstgesetzten Regeln folgt, über die eine Auseinandersetzung über deren Verbindlichkeit notwendig ist, oder ob die mangelnde Bereitschaft aus einer objektiven Realität abgeleitet werden muss, der System und Umwelt gleichermaßen unterworfen sind. Dann ist, um im Beispiel fortzufahren, nicht die Verwaltung der diskursive Gegner, sondern vielmehr Verbündeter im Kampf um Ressourcen.
Containing ist das Prinzip nicht nur in der Therapie oder der Supervision, sondern auch der Führung einer psychiatrischen Institution. Die leitenden Mitarbeiter im therapeutischen Bereich stellen den Mitarbeitenden Schutz und Halt zur Verfügung. Das gilt aber auch für sie selbst; sie brauchen ihrerseits die Absicherung durch die ökonomischen Träger, seien sie nun in der Direktion oder im Verwaltungsrat zu suchen. Das Containingprinzip gleicht den ineinander ruhenden russischen Matrjoschkas. Psychoanalytisches Handeln in der Institution muss also abgesichert sein, es ist zum Scheitern verurteilt, wenn es als heroische Tat oder als klammheimliche Einzelinitiative inszeniert wird.
Didaktische Voraussetzungen:
Psychoanalytisches Denken muss gelernt werden, es kann nicht vorausgesetzt werden bei den Mitarbeitenden. Soll eine Institution also psychoanalytisch erfolgreich wirken, muss sie dafür sorgen, dass die Mitarbeitenden auch tatsächlich im psychoanalytischen Denken ausgebildet werden. Dabei lassen die Arbeitsanforderungen meist keine Zeit, jedenfalls was die Assistenzärzte betrifft, auf die externe psychoanalytische Weiterbildung zu warten. Also müssen didaktische Konzepte vorliegen, die vom ersten Tag der Tätigkeit eines jungen ärztlichen oder psychologischen Mitarbeiters das Feld psychoanalytischer Haltungen zu eröffnen erlauben. Der sog. „Basiskurs Psychotherapie“ (Küchenhoff&Mahrer Klemperer 2008) ist ein wichtiges didaktisches Mittel, weil er sich orientiert an dem Alltag der Assistenzärztinnen und der Pflegenden und die Stationen eines Patienten zum Gegenstand hat. Innerhalb eines Jahres arbeiten die jungen Kollegen mit zwei Tutorinnen in Gruppen nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch an der Frage, wie sich eine therapeutische Beziehung gestaltet, wie sie beobachtet und genutzt werden kann. Einführung in die bereits erwähnte OPD bietet eine andere Zugangsmöglichkeit.
Beim IPA – Kongress in Boston habe ich einen Vortrag gehalten im Rahmen eines Panels, das sich dem Thema „Teaching psychoanalysis to psychiatric residents“ (Küchenhoff 2015) gewidmet hat. Ich habe abschließend 12 Punkte genannt, die berücksichtigt werden müssen. Ich gebe einige davon wieder, um zu zeigen, dass eine psychoanalytische Didaktik notwendig, aber gar nicht leicht umsetzbar ist.
Setze nicht zu viele Kenntnisse bei den Assistenzärzten voraus, sie wissen viel weniger, als Du annimmst.
Erwarte nicht, dass die Assistenzärzte Freudzitate mit Hochachtung und Ehrfurcht begrüßen, nur weil Du sie für so bedeutsam hältst.
Versuche nicht, die Assistenzärzte in einen entlegenen Bereich der psychiatrischen Praxis zu entführen, den sie nicht kennen, sondern hilf ihnen dabei, ihren eigenen Arbeitsbereich zu explorieren.
Biete den Assistenzärzten praktische Hilfe an! Zeige ihnen, wie nützlich die Psychoanalyse für die Lösung ihrer Alltagsprobleme ist.
Stelle einen “supervisorischen Übergangsraum” zur Verfügung und ermutige die Kandidaten, ihre Fälle offen und mit allen ihren Konflikten und Emotionen zu präsentieren.
Entwerte nicht die üblichen psychiatrischen Behandlungsformen! Führe nicht die Psychoanalyse als überlegene Alternative ein! Verbinde vielmehr Deinen psychoanalytischen Zugang mit den anderen Therapiemethoden!
Sei auf der anderen Seite klar darin, dass Du Psychoanalyse nicht auf das Standard-Setting beschränken wirst, sondern dass Du sie in allen klinischen Situationen nutzen wirst.
Gib den Assistenzärzten einen Einblick in Deine eigene therapeutische Praxis – zeige eigene Videos und lass sie an Deinen Erstgesprächen teilnehmen.
Wer unter dem Stichwort “psychoanalytische Didaktik” im Internet recherchiert, wird nur eine Handvoll Einträge finden. In Hinsicht auf die sog. Direktausbildung, die vor der Tür steht, werden wir uns alle diesem Bereich stärker widmen müssen und Fragen beantworten müssen wie diese: wie wird Psychoanalyse auch außerhalb der Ausbildungs-Institute, in den Institutionen und zukünftig auch im Studium, anschaulich und differenziert vermittelt?
Rekrutierung psychoanalytischer Mitarbeiter:
Die wichtigste Methode, Psychoanalyse zu vermitteln, besteht freilich darin, dass Psychoanalytiker durch ihren gelebten Einsatz für die Psychoanalyse überzeugen, dass sie also in ihrer Alltagstätigkeit persönlich vermitteln, wie sie die Psychoanalyse einsetzen, mit der sie identifiziert sind (Dunn 2013). Dies führt zum letzten Punkt, der mir selbst sehr wichtig ist, den ich vertiefen möchte und den Psychoanalytiker in der Praxis nicht gern hören.
Was nun folgt, sind persönliche Anmerkungen zu den personellen Voraussetzungen, Psychoanalyse in der Institution zu vermitteln. Ich erlebe eine Scherenentwicklung in den letzten Jahren: Die neu ins Berufsleben startenden Psychologinnen und Assistenzärzte vermissen die Psychoanalyse, von der sie nur flüchtig während des Studiums gehört haben, auf die sie aber neugierig geworden sind. Sie suchen gezielt nach einer klinischen Institution, die sich psychoanalytische Konzepte auf die Fahnen schreibt oder deren Leiter ein aktiver Psychoanalytiker ist, also jemand, der den Titel nicht nur auf der Visitenkarte führt, sondern seine psychoanalytische Identität einbringt in die Institution. Ganz anders die Lage bei den Kadertherapeutinnen und -therapeuten. Zunächst macht sich sicher das decade of the brain bemerkbar und die in den 90er Jahren ständig wiederholte Entwertung der Psychoanalyse, die viele Studienabsolventen damals abgeschreckt und abgehalten hat, sich der Psychoanalyse zu widmen. Die Studenten der 90er Jahre sind nun Fachärzte und Fachärztinnen und berufserfahren; unter ihnen finden sich von vornherein schon nicht sehr viele ausgebildete Analytikerinnen und Analytiker. Wenn sich jemand dennoch der Psychoanalyse gewidmet hat, dann drängt es ihn oder sie in kurzer Zeit in die Praxis. In der Praxis wird nicht weniger verdient, die institutionellen Zwänge und der fortgesetzte Zwang zur Kooperation fallen weg, die Patientinnen und Patienten sind einfacher zu behandeln, anders als in der Klinik treffen die Therapeuten auf deutlich besser motivierte Patienten. In der Praxis gibt es keine große Bürokratie, keine Verwaltung, über die man sich immer neu ärgern muss. Ausbildung und Praxis sind zudem für all die, die noch keinen Abschluss haben, leichter miteinander in Einklang zu bringen als Ausbildung und Klinik. Das alles ist verständlich, jedenfalls auf den ersten Blick. Aber es lohnt ein zweiter, der zunächst darauf gerichtet ist zu zeigen, was die psychoanalytische Arbeit in der psychiatrischen Institution demgegenüber an Vorteilen bietet. Das sind unter anderem:
die Aussicht auf den intensiven fachlichen Austausch durch die Arbeit mit Teams und in Gruppen,
die Nähe der Therapien zur sozialen Wirklichkeit,
das hohe innovative Potential in den Anwendungen der Psychoanalyse auf die Psychiatrie,
das Bewusstsein, therapeutisch nützlich zu sein, da es dringenden klinischen Bedarf an der psychiatrisch-psychoanalytischen Arbeit gibt, was für die Praxistätigkeit bei der gegenwärtig so hohen Therapeutendichte in geringerem Ausmaß gilt.
Die bislang gewählte Perspektive auf die Vor- und Nachteile aber greift zu kurz, sie argumentiert unangemessen utilitaristisch, als ließe sich einfach mit Hilfe einer Pro- und Contra-Liste ausrechnen, ob es sich lohnt, in der Institution zu verharren oder nicht. Entscheidender ist die Frage nach der psychoanalytischen Identität und dem Selbstverständnis, das die Psychoanalytikerin entwickelt. Zu diesem Selbstverständnis gehören folgende Elemente:
Wenn Psychoanalytiker sich mit Feldern der angewandten Psychoanalyse befassen, so sind sie neugierig auf neue Konstellationen zwischen Psychoanalyse und anderen Wissens- und Therapiebereichen. Sie wollen die Psychoanalyse an neuen Gegenstandsbereichen erproben. Sie stellen sich dem Anderen und Neuen.
Damit aber ist die Ambivalenz verbunden, die dem Fremden immer entgegen gebracht wird; es ist anregend, aber es macht auch Angst, wenn der Psychoanalytiker zum „Grenzgänger“ wird (Wellendorf 1998). In der Psychiatrie verlässt der Psychoanalytiker den Sicherheit garantierenden Behandlungsrahmen. Er oder sie ist mit Personen konfrontiert, die ihm oder ihr unvertrauter und unbekannter sind, auf die er sich persönlich einstellen, von denen er sich überraschen lassen muss, denen gegenüber er aber auch in Bezug auf sein therapeutisches Inventar verunsichert ist (Hieltzel 2006).
Als Grenzgänger setzt sich der Psychoanalytiker zwischen die Stühle; die Gefahr ist groß, in der Psychiatrie nicht wirklich ernst genommen zu werden, aber auch auf der psychoanalytischen Seite als wankelmütig gebrandmarkt zu werden.
Um Freude an diesem Grenzgang zu haben und zu bewahren, ist es nötig, an die Stelle einer stabilen eine dynamische Identität zu setzen, die vom Spiel zwischen Identifizierungen und Desidentifizierungen lebt und die es erlaubt, Identität als Entwicklungsprozess zu verstehen, so dass sie sich nicht an einem bestimmten Setting oder Verfahren festklammert, sondern darauf vertraut, dass die Herausforderung durch „unreine“ Behandlungssettings die psychoanalytische Haltung nicht bricht, sondern stärkt.
Meine These ist nun, dass die fortgesetzten Angriffe auf die Psychoanalyse bei allen Psychoanalytikern Spuren hinterlassen haben, und dass diese Angriffe als bedrohlich erlebt werden. Als Konsequenz bietet sich an, Sicherheit in den angestammten Praxissettings zu suchen und sich auf Übergangsbereiche, auf soziale Herausforderungen und auf Konfrontationen nicht oder nur indirekt, beispielsweise als Supervisorin oder Berater, einzulassen. Wenn die Ausgangsbasis gefestigt und sicher ist, lässt sich gelassener expansiv sein; wenn sie in Frage gestellt wird und, noch schlimmer, wenn die Angriffe von außen sich in latente Selbstzweifel umformen, dann werden Herausforderungen, die evtl. die eigene Identität betreffen können, vermieden. So wird über kurz oder lang die Entscheidung getroffen, in die Praxis zu gehen.
Aber ohne Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker ist die Psychoanalyse nicht in der Institution umzusetzen! Da für mich außer Frage steht, wie ich schon einleitend bemerkt habe, dass die Psychoanalyse in der psychiatrischen Institution unabdingbar und wichtig ist, ist für mich die viel brennendere Frage, wie ich als Leiter einer psychiatrischen Institution einen psychoanalytischen Standard aufrecht erhalten kann, wenn ich zu wenig Kadermitarbeitende habe, die Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker sind. Die große Ausgangsfrage, was die Psychoanalyse mit und in der Institution macht (so lautete der ursprünglich mir vorgeschlagene Vortragstitel), verwandelt sich in eine einfache andere Frage: Was macht der Psychoanalytiker mit und in der Institution? Besser: was macht er dort gerade nicht? Noch einfacher: Kommt die Psychoanalytikerin in der psychiatrischen Institution an oder macht sie einen Bogen um sie?
Sie kommt nicht ohne weiteres und von allein dort an. Sie muss in ihrer Motivation unterstützt werden. Das ist die Aufgabe, die sich den Ausbildungsinstitutionen stellt, die Psychoanalyse in ihren vielfältigen Anwendungsfeldern zu würdigen, zu zeigen, was die Psychoanalyse als Ganzes, was aber auch der einzelne Kandidat gewinnt, wenn er sich längerfristig diesen Feldern zuwendet. Es ist ihre Aufgabe zu zeigen, dass das Berufsbild des Psychoanalytikers, der in den psychiatrischen Institutionen tätig ist, Grundlage psychoanalytischer Identität werden kann. Was wir angewandte Psychoanalyse nennen, diese Bereiche zeigen unter Umständen besonders deutlich, was psychoanalytisches Denken vermag. So kann die angewandte Psychoanalyse zum Selbstbewusstsein des Psychoanalytikers beitragen, statt es zu rauben. Dann könnte die sog. angewandte Psychoanalyse im Zentrum der Selbstdefinition des Psychoanalytikers stehen; durch eine solche Rezentrierung freilich wird der Begriff der Anwendung selbst fraglich. Wie dem auch sei: die Aufwertung der Arbeit in der Institution könnte schließlich auch dazu beitragen, die Einbahnstraße durchlässiger zu machen, die bis heute fast ausschließlich in eine Richtung geht: von der Klinik in die Praxis. Warum sollte sich die Richtung nicht auch einmal wieder umkehren können und die frei praktizierende Kollegin den Wunsch verspüren, den reichen Erfahrungsschatz der Praxis wieder der Institution, von der sie aufgebrochen war, zur Verfügung zu stellen, als Kaderärztin oder – psychologin in der Klinik?
Literatur:
Becker H (Hrsg.) (1995) Psychoanalytische Teamsupervision. Vandenhoeck&Ruprecht Göttingen
Bion WR (2015) Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. 4.Auflage Klett-Cotta, Stuttgart
Dunn J (2013) Toward a psychoanalytic way of teaching psychoanalysis. Psychoanal Rev 100(6):947-71.
Foulkes H (1978)Praxis der gruppenanalytischen Psychotherapie. Reinhardt, München
Gfäller G (2010) Die Wirkung des Verborgenen. Unbewusste Hintergründe kommunikativer Prozesse in Unternehmen und Institutionen. Klett Cotta Stuttgart
Hieltzel R (2006) Die zusammengesetzte Berufsidentität des Psychoanalytikers in der Psychiatrie. In: Böker H (Hrsg) Psychoanalyse und Psychiatrie. Springer Heidelberg, 223-239
Jaques, Elliott (1955) 'Social Systems as a Defence against Persecutory and Depressive Anxiety', in Klein, Melanie et al., eds. New Directions in Psycho-Analysis: The Significance of Infant Conflicts in the Patterns of Adult Behaviour. Tavistock; reprinted Karnac: Maresfield Reprints, 1977, 478-98.
Kernberg O (1998) Ideology, Conflict, and Leadership in Groups and Organisations. Yale University Press New Haven and London
Küchenhoff J (2004) Ps3ychodynamische Kurz- und Fokaltherapie. Schattauer Stuttgart
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Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Joachim Küchenhoff
Hohe Winde – Straße 112
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