Sowohl Ilka Quindeau (Professorin für Klinische Psychologie an der Fachhochschule Frankfurt) als auch Frank Dammasch (Professor für Psychosoziale Störungen von Kindern und Jugendlichen an der Fachhochschule Frankfurt) weisen in ihren Bibliographien durchgehend Auseinandersetzungen mit dem zugrundeliegenden Thema auf. Während es bei Quindeau vielfach um die Frage der Konstituierung von Sexualität und Geschlecht an sich geht, beschäftigt sich Frank Dammasch vor allem mit der männlichen Identitätsentwicklung.
Das vorliegende Buch beginnt mit einem kurzen Vorwort der HerausgeberInnen über Motivation und Struktur ihres Beitrags zu dem vorliegenden Thema: So ist Männlichkeit, insbesondere heterosexuelle Männlichkeit, bisher kaum Gegenstand kritischer Geschlechterforschung. Speziell im psychoanalytischen Diskurs gibt es ein breites Spektrum von stark essentialistischen bis hin zu rein konstruktivistischen Ansätzen in Bezug auf die Entwicklung von Geschlechtsidentität. Umso wichtiger, dass sich insbesondere praktizierende PsychoanalytikerInnen ihrer impliziten Geschlechtstheorien bewusst werden, damit sie nicht unreflektiert in ihre Arbeitsbeziehungen einfließen. Das Buch soll also Gelegenheit schaffen, durch die Darstellung und Auseinandersetzung mit konträren Positionen, die je eigenen Vorstellungen zu vergegenwärtigen.
Inhaltlich wird mit einem originellen Beitrag zu biologischen, psychischen und sozialen Entwicklungsprozessen von Jungen und Männern eingeleitet. Frank Dammasch und Ilka Quindeau stellen darin ein fiktives Gespräch mit einer interessierten Psychotherapeutin dar. Die gewählte Form ist gut zugänglich und zeigt sehr deutlich die diskursive Auseinandersetzung und unterschiedlichen Standpunkte zweier ExpertInnen. Auf diese Weise kommen die LeserInnen vielschichtig mit den Differenzierungsproblematiken der Polaritäten männlich/weiblich sowie Sex/Gender in Berührung. So werden in diesem Zusammenhang etwa die Einschätzung der Rolle biologischer Faktoren, die unbewusste Einschreibung elterlicher Phantasmen oder die Bedeutung von Vaterschaftskonzepten besprochen.
In psychoanalytischer Tradition werden in der Folge mehrere Fallschilderungen dargestellt und diskutiert. Anhand dieser Beispiele aus der klinischen Praxis sollen vor allem Verarbeitungsmuster und Identitätsbildungsprozessen von Jungen und Männern herausgearbeitet werden. Betont werden muss auch hier wieder das Bemühen um Diskursivität. Die jeweiligen Fallgeschichten werden nicht nur wie gewohnt von den behandelnden PschoanalytikerInnen dargestellt und interpretiert, sondern auch von KollegInnen des jeweils anderen Geschlechts kommentiert. Diese Tandemkonstellation begünstigt die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse sowie generell eine vielschichtige Betrachtung des Fallmaterials.
Im Folgenden gehe ich beispielhaft auf einige der dargestellten Fallbesprechungen ein.
Der Beitrag „Ich will meine alte Welt wiederhaben“ handelt von der psychoanalytischen Behandlung eines achtjährigen Jungen durch Arne Burchartz. Das Thema Vaterverlust durchzieht die familiäre Genese (und in diesem Fall auch die private Sphäre des Therapeuten) und ist bedeutsam für das Verständnis der aggressiven und enthemmten Symptomatik des Jungen. Dabei wird die Bearbeitung der Vaterrepräsentanz als zentrale therapeutische Aufgabe formuliert. Im Kommentar von Beate Kunze, wird dann aber auch die Bedeutung der mütterlichen Dimension noch einmal stärker in den Mittelpunkt gerückt. So ergänzen sich die therapeutischen Perspektiven und führen zu einem umfassenderen Verständnis des Jungen. An diesem ersten Fall wird sogleich die Sinnhaftigkeit dieses Darstellungskonzepts und damit der Erkenntnisgewinn evident: die zusätzliche Sichtweise und nötige Distanz, die LeserInnen durch die erweiterte Perspektive und das gemeinsame Nachdenken der jeweils beiden AutorInnen erhalten, erzeugen einen ergebnisoffenen und potentiell erkenntnisreichen triangulären Raum.
Claudia Burkhardt-Mussmann stellt die Behandlung eines zehnjährigen Jungen mit Enuresis Nocturna dar. Seine regressive Symptomatik steht offensichtlich in Verbindung mit Passivität, Vermeidung altersspezifischer Rivalität und einer Abwehr phallisch-aggressiver Tendenzen. Capoeira, als Symbol für verkleidete, von den Machthabern nicht zu entdeckende Aggression, wird zum Paradesymbol für die Kaschierung von Aggression: „Der männliche Widerstand bleibt subversiv verkleidet“. Herausragend an dieser Fallgeschichte ist vor allem die minutiöse Schilderung einer Interaktionssequenz, in der Verlauf und Gegenübertragung des therapeutischen Prozesses wie in Echtzeit erfahrbar werden. In der therapeutischen Entwicklung zeichnet sich schließlich als Indikator für die Integration aggressiver Anteile ein Wechsel von Passivität zu Aktivität ab. In der gemeinsamen Schlussbetrachtung mit Frank Dammasch wird dann noch die Frage der geschlechtsspezifischen Ausprägung von Aggression aufgeworfen.
Angelika Staehle stellt die Analyse eines 19 jährigen Adoleszenten dar. Wir bekommen Einblick in eine beginnende Perversionsentwicklung, die mit frühkindlichen Versagenssituationen, einer missbräuchlichen Beziehung zur Mutter und abgewehrter männlicher Identifikation in Verbindung gebracht wird. Die omnipotent narzisstische Lösung sich das Objekt zu Eigen zu machen zeigt sich eindrucksvoll in der Übertragungsbeziehung. Im Kommentar von Michael Günter und der nachfolgenden Reflexion von Angelika Staehle wird die Sinnhaftigkeit der sexuellen Phantasien als Verbindung von Omnipotenzphantasien und Geborgenheitswünschen in der Adoleszenz deutlich, wie sie im Konzept der zentralen Masturbationsphantasie auftauchen. Das Festhalten an infantil-sexueller Befriedigung sowie Neid und Angst gegenüber der phallisch potenten Frau führen offensichtlich zu einem Zusammenbruch des geschlechtlichen Spannungsverhältnisses. Die Aneignung des Weiblichen und pseudophallische Potenz werden in diesem Fallbeispiel szenisch manifest.
In der Darstellung von Heribert Blass geht es um die analytische Behandlung eines 49 jährigen Mannes, der sich, man könnte auch von einer klassischen midlife-crisis sprechen, in einer für ihn sehr unbefriedigenden Lebenssituation befindet. Er wollte auf bekannte Sicherheiten verzichten und von nun an mehr für sich tun: ein zutiefst narzisstischer Wunsch und Loslösungsimpuls von lästig gewordenen Abhängigkeiten. Offensichtliche Befreiungsszenarien und damit verbundene Trennungsaggression tauchen auch in seinen Traumerzählungen auf. Die Übertragungsbeziehung beinhaltet sowohl männliche Solidarisierungsangebote (Wir Männer) als auch aggressive Angriffe auf die therapeutische Beziehung; zur Verwunderung des Patienten hält diese stand. In ihrem Kommentar versucht Frau Rohde-Dachser die impliziten Vorstellungen des Autors zu enttarnen, indem sie seine Formulierungen einer kritischen Analyse unterzieht. In ihrer Gegenübertragung auf den Text, verortet sie eine Abkehr vom Weiblichen und ein Gefühl der Ausgeschlossenheit als Frau. Dies führt bei ihr, so wird erkennbar, zu einer Gegen-Solidarisierung mit den dargestellten Frauen des Falls. Die präödipal entstandene Leerstelle beziehungsweise das Gefühl des Mangels beim Patienten sind verantwortlich für seine Suche nach einer Schuldigen. Dieses Verständnis erweitert Frau Rohde-Dachser auf die gesellschaftliche Ebene, in der Unabhängigkeit, Stärke und Erfolg von Frauen vielfach zu narzisstischen Einbrüchen bei Männern und zu einer phallischen Abwehr mit Folgewirkung auf das Mann-Frau Verhältnis führen kann.
Ilka Quindeau schildert die Analyse eines 29 jährigen Mannes, der sich als erschöpft, lust- und kraftlos beschreibt. Die in einer Anfangsdeutung enthaltene Erkenntnis, dass der Patient vielleicht nicht erwachsen werden will, dass ihm mit dem Eintritt in die Erwachsenenwelt etwas verloren gehen könnte, scheint den Beginn der Analyse einzuleiten. Insbesondere wird die Abwehr von männlicher Identifizierung sichtbar, verstanden auch im Rahmen eines unverarbeiteten transgenerationalen Erbes. Im Kommentar kommt Johannes Döser auf die Passivität des Patienten zu sprechen, wie dem jungen Herrn scheinbar alles passiert (eben auch die Analyse), beliebig und beziehungslos. Eine spannende Inszenierung geschieht in Gestalt eines alten, übelriechenden Militärrucksackes, der regelmäßig zwischen Analytikerin und Analysand platziert wird, mit dessen Inhalt sich die Analytikerin in ihrer Gegenübertragung zunächst lieber nicht beschäftigen möchte. Schlussendlich gehen Quindeau und Döser gemeinsam auf die Suche nach den damit in Verbindung stehenden „rätselhaften Botschaften“. Darüber hinaus wird in diesem Beitrag besonders deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmungen des analytischen Prozesses sowie die Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sein können, die in den therapeutischen Prozess einfließen. Vor allem wird ein lustvoller und produktiver Umgang mit der Geschlechterspannung aufgezeigt.
Im Schlusskapitel „Männlichkeiten in der klinischen Praxis“ stellt Frank Dammasch seine Gedanken zum Geschlecht des Psychotherapeuten als Auswahlkriterium von Eltern, Kindern und Jugendlichen bei Therapiebeginn dar. Der Kinder- und Jugendanalytiker widmet sich der unterschiedlichen Bedeutung von Übertragungsobjekten in der Kinderbehandlung und in der Erwachsenenanalyse. In der Folge werden die im Buch beschriebenen Fälle bezüglich der gleichgeschlechtlichen und gegengeschlechtlichen therapeutischen Objektwahl miteinander verglichen. Eine gegengeschlechtliche Wahl bei Jungen oder Männern, wird hierbei besonders im Hinblick auf eine Mutterfixierung und idealisierte Weiblichkeit gesehen. Eine unsichere männliche Identität und mangelnde Identifizierungsbereitschaft wird mit der inneren Entwertung des triangulierenden Vaters beziehungsweise mit der biographisch gespeisten Angst vor männlicher Aggressivität in Verbindung gebracht. Alternativ wird bei männlichen Therapeuten oft die bisher fehlende, abwesende Vatererfahrung gesucht. Ilka Quindeau macht sich weiterführende Gedanken zur Bedeutung des Geschlechts in der therapeutischen Dyade. Sie betont die individuelle Unterschiedlichkeit von Männern, die bei manchem Verständnis von Männlichkeit verloren gehen kann. Ilka Quindeau unterstreicht die Bisexualität des Menschen und differenziert zwischen dem gesellschaftlichen Ordnungssystem und dem inneren Erleben des Einzelnen aus psychoanalytischer Perspektive. Sie greift unterschiedliche Übertragungskonstellationen anhand der dargestellten Fälle auf, die sich vermutlich durch die tatsächlichen Geschlechter- oder Altersverhältnisse evozieren lassen, nicht aber daran gebunden sind. So könnten sich in anderer Konstellation, zwar dieselben Konflikte aber möglicherweise unterschiedliche Abwehrformen zeigen. Ziel der Analyse ist für sie vor allem die Flexibilisierung der Abwehrfomationen. Generell wird die Anerkennung der konstitutionellen Bisexualität und die Verbindung von Männlichkeit und Weiblichkeit für die sexuelle Identität und im Hinblick auf die Generativität betont. Quindeau meint, dass es langfristig nicht bedeutsam ist, ob ein Patient bei einem Analytiker oder einer Analytikerin landet. Trotzdem bleibt das Geschlecht eine wichtige Einflussgröße und zwar im Sinne subjektiver Zuschreibungen, in ihren bewussten und unbewussten Dimensionen. So fasst sie schlüssig zusammen, wie notwendig es ist immer wieder nach den „rätselhaften Botschaften“ und dem komplexen Bedeutungshorizont des therapeutischen Geschehens zu fragen, die sich in den Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit konstellieren.
Am Ende dieses Buches sind viele Fragen beantwortet und neue aufgeworfen. Man begibt sich mit der Lektüre des Buches in eine tiefgehende Auseinandersetzung mit zentralen Entwicklungsaspekten von Männlichkeit, angereichert durch das vielschichtige Fallmaterial. Es ist es vielfach gelungen einen diskursiven Austausch herzustellen und Ergänzungen aus den verschiedenen Perspektiven einzubringen. Der gemeinsame Schlusskommentar stellt in den meisten Fällen eine wertvolle Synopsis heterogener Betrachtungsweisen dar. Das Buch ist ein Buch für Psychoanalytiker und psychodynamisch orientierte Psychotherapeuten, da die Kenntnis der Fachsprache und ein gewisser theoretischer Hintergrund wichtig für das Verständnis der Fallanalysen sind. Innerhalb des psychoanalytischen Diskurses zeigt es sowohl die gemeinsame Grundlage, als auch die unterschiedlichen Auffassungen von Theorie und Behandlungspraxis auf. Insofern ein lehrreiches, erfrischendes und empfehlenswertes Buch für all jene, die sich grundlegend mit dem Thema Männlichkeit befassen möchten.
Autor:
Prof. Dr. Bernd Traxl
Professur für Entwicklungspsychologie
Psychoanalyse / Tiefenpsychologie / Kinder- und Jugendtherapie
MSB Medical School Berlin
Hochschule für Gesundheit und Medizin
Villa Siemens / Calandrellistraße 1-9 / 12247 Berlin