Rainer Matthias Holm-Hadulla: Krankheit und Verantwortung des Andreas L.

Bundespräsident Joachim Gauck äußerte im Rahmen der Trauerfeier für die Opfer des erschütternden Flugzeugabsturzes, dass uns allen für diese Tat die Worte fehlen. Dennoch sind die Medien angefüllt mit Kommentaren und Erklärungsversuchen. Das ist nicht verwunderlich, denn es ist ein menschliches Grundbedürfnis zu verstehen, was sich in der jeweiligen Umwelt ereignet. Fachleute befinden sich hier in dem Dilemma, dass ihnen viele Informationen zur Lebensgeschichte und zum Innenleben von Andreas L. fehlen. Angemessene Schlussfolgerungen zu ziehen ist deshalb nicht ganz einfach. Andererseits dürfen sie nicht den Laien das Feld überlassen, denn deren Fehleinschätzungen, zum Beispiel diejenige, dass depressive Menschen für ihre Umwelt gefährlich seien, haben fatale Folgen.

Am meisten wissen wir zum Tathergang. Es scheint, als habe Andreas L. emotional gelassen und intellektuell ungestört gehandelt. Am 24. März 2015 erschien er frühmorgens pünktlich zum Dienst. Er flog mit einem erfahrenen Chefpiloten nach Barcelona und verbrachte den Hinflug mit ihm auf engsten Raum. Augenscheinlich zeigte er keine Besorgnis erregenden Auffälligkeiten, denn sonst hätte der Chefpilot ihn sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückflug nicht allein fliegen lassen. Psychische Erkrankungen, die die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit beinträchtigen, werden in der Regel von Laien erkannt. Wenn jemand z.B. so schwer betrunken ist, dass er die Konsequenzen seiner Tat nicht mehr einschätzen kann, erkennen das zumeist zuerst die Freunde und Angehörigen. Das gilt auch für andere ausgeprägte psychische Störungen. So ist den Flugbegleiterinnen und Flugbegleitern sowie dem sonstigen Personal offenbar nichts Bedrohliches aufgefallen. Anderenfalls wären sie, schon um ihrer eigenen Sicherheit willen, eingeschritten. Noch kurz vor der Katastrophe schien Andreas L. so besonnen und ausgeglichen zu wirken, dass der Pilot ihm das Flugzeug zur alleinigen Steuerung anvertraute.

Aus psychiatrischer Sicht scheint zum Tatzeitpunkt keine schwere psychische Störung, die die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit von Andreas L. aufhob, vorgelegen zu haben. Solche Ferneinschätzungen sind natürlich problematisch, aber unvermeidbar. Bei fast allen Verbrechen von vermeintlich psychisch gestörten Menschen müssen Psychoanalytiker und Psychiater retrospektiv eine Tathergangsanalyse vornehmen, die man meist nicht mit harten Daten beweisen, sondern nur nach Plausibilitätskriterien prüfen kann.

Neben der Tathergangsanalyse sind die Tathintergründe zu bedenken. Hier wissen wir wenig, aber doch einiges. Andreas L. hat nach derzeitigem Erkenntnisstand den selbstmörderischen Mord lange und umsichtig geplant. Er recherchierte nach Methoden zum Selbstmord und nach Möglichkeiten, die Cockpittür von innen so zu verschließen, dass er ungestört das Flugzeug zum Absturz bringen konnte. Auch hier ist ein sehr rationales und zielgerichtetes Vorgehen zu bemerken.

Zu den Motiven für diese Tat wird viel spekuliert. Das ist verständlich, weil wir nicht lange mit dem „Unbeschreiblichen“, wie oft gesagt wurde, leben können. Auch wenn wir nur ein Foto von Andreas L. in den Händen halten, beginnen wir unvermeidlich, uns ein Bild von seiner Persönlichkeit zu machen. Deswegen ist es nicht nur berechtigt, sondern sogar notwendig, die spärlichen weiteren Informationen, über die wir verfügen, auszuwerten. Von einer Ex-Freundin haben wir erfahren, dass Andreas L. einmal etwas ganz Großartiges vollbringen wollte. Damit werde er das ganze System verändern, soll er geäußert haben. Es wurde angenommen, dass er mit diesem Satz Selbstwertprobleme kompensieren wollte. Neben solchen vermutlichen Größenideen ist bezüglich seiner Tat sein Mangel an Empathie auffallend. Andreas L. wusste, dass er 149 Menschen umbringt und Unzähligen schwerstes Leid und den Verlust ihrer schönsten Hoffnungen bereitet. Was war für ihn stärker als das elementar menschliche Mitgefühl?

Wie können wir einen Zugang zu den verborgenen Gedanken und Gefühlen des Andreas L. finden? Hier können unsere eignen emotionalen und intellektuellen Reaktionen auf die Tat hilfreich sein. Die Psychoanalyse nennt diesen Zugang zur Gefühlswelt des Anderen „Gegenübertragung,“ deren Analyse anscheinend unverständliche Verhaltensweisen verständlich machen kann. Die Frage ist also: was haben wir erlebt? Bundespräsident Joachim Gauck spricht von einer „furchtbar belastenden Mischung von Gefühlen“. Etwas Ungeheuerliches ist geschehen, das uns verzweifelt und ohnmächtig zurück lässt. Bald werden wir empört und wütend. Später kann ein Trauerprozess beginnen, in dem wir versuchen, das Geschehene psychisch zu integrieren. In psychoanalytischen Behandlungen erfahren wir oft, dass Bezugspersonen diejenigen Gefühle erleben, die die Patienten abspalten und selbst nicht erleben. Abspaltung ist ein psychischer Mechanismus, der besonders von narzisstisch sehr verletzlichen Personen benutzt wird, um sich schützen. Die eigenen Unvollkommenheiten werden dann nicht als unangenehm erlebt und durch konstruktive Tätigkeit gemildert oder sogar bewältigt, sondern abgespalten, vom eigenen Erleben ausgeschlossen. Sie werden aus dem psychischen Binnenraum verbannt und auf andere projiziert. Nicht ich bin unvollkommen, sondern die anderen. „Ich bin eigentlich großartig und die Anderen bzw. eine feindliche Umwelt beschädigen meinen Glanz“. Wenn narzisstisch stark verletzbaren Personen Grenzen aufzeigt und sie realistisch kritisiert werden, reagieren sie nicht nachdenklich und suchen nach Veränderungsmöglichkeiten, sondern werden wütend. Diese Wut kann bei ausgeprägt narzisstisch gestörten Personen jeden Bezug zu Realität verlieren. Wenn sie ihre Umwelt immer begrenzter und enttäuschender erleben, bricht ihre Selbstwertregulation gänzlich zusammen. Ihre Wut wird so unermesslich, dass sie sich nur durch ‚großartige Destruktivität’ stabilisieren können. Weil ihnen die Mittel und Umgebungsbedingungen für konstruktive Leistungen fehlen, bleibt nur die grandiose Zerstörung.

Ähnliche psychische Konflikte, die zu grandioser Zerstörungswut führen, könnten auch bei terroristischen Attentätern eine Rolle spielen. Bei ihnen liegen allerdings noch andere zum Beispiel religiöse und politische Motivationen als im vorliegenden Fall vor, die man nicht vernachlässigen darf. In einem Punkt sind sie jedoch mit Andreas L. vergleichbar. Der kalte Hass von Terroristen kann so stark werden, dass sie ohne Rücksicht auf individuelles Leiden von Hunderten den eigenen Narzissmus exekutieren. Narzisstisch gestörte Personen haben es aufgrund von Anlagefaktoren im Zusammenspiel mit frühkindlichen Bindungsstörungen oder traumatischen Erfahrungen und problematischen aktuellen Lebensumständen besonders schwer, mit Kränkungen konstruktiv umzugehen

Solche psychischen Bedingungen können aber die ver- und zerstörenden Taten nicht entschuldigen. Auch wenn genetische und neurobiologische Einflussfaktoren in Rechnung gestellt werden, so realisieren sich diese immer nur im Zusammenspiel mit jeweils persönlichen Lebens- und Beziehungserfahrungen in konkreten Handlungen.

Diese Handlungen müssen bewertet werden. Es bleibt uns im Endeffekt gar nichts anderes übrig, als wissenschaftlich zwischen richtig und falsch und moralisch zwischen gut und böse zu unterscheiden auch wenn wir wissen, dass die Übergänge oft fließend sind und wir alle aus Licht und Schatten komponiert sind.

Bei aller Unsicherheit im Hinblick auf die seelische Verfassung des Andreas L. können wir davon ausgehen, dass er um das Leid wusste, das er Unzähligen bereiten würde. Dafür ist er verantwortlich und deswegen habe ich in meinem Artikel in der FAZ vom 13. April 2015 zugespitzt formuliert: „Kein Gen hat Andreas L. diese Tat vorbestimmt und keine Störung der Hirnfunktion hat ihn dazu gebracht, ein Flugzeug mit 150 Menschen gelassen und gezielt in eine Felswand zu steuern“.

Für die (selbst-) mörderische Tat von Andreas L. wurde eine depressive Erkrankung verantwortlich gemacht. Dies hat sofort eine Stigmatisierungslawine ausgelöst. Mit Atem beraubender Schnelligkeit, die die sozialen Medien auszeichnet und verdirbt, wurden sofort Rufe laut, depressiv Erkrankte von verantwortungsvollen Berufen fernzuhalten. Die Tatsache wurde übersehen, dass depressiv Erkrankte wesentlich weniger Straftaten vollbringen als die Durchschnittsbevölkerung. Dennoch reagieren Patientinnen und Patienten sofort und sind weniger bereit, sich auf eine Therapie einzulassen. In einer Beratungsstelle wird schon wenige Tage nach dem Medien-Hype geäußert, dass man wegen einer depressiven Störung lieber keine Psychotherapie eingehen wolle. Es würden berufliche Nachteile drohen. Dabei hat man zum Beispiel nach einer erfolgreichen Therapie größere Chancen zum Beispiel als Lehrer eingestellt zu werden, als mit einer bestehenden Angst- oder depressiven Störung.

Von depressiven Erkrankungen muss man unspezifische depressive Verstimmungen abgrenzen. Sie können uns alle bei Verlusten und Enttäuschungen überkommen. Manche Verstimmungen treten auch ohne erkennbaren Anlass als Stimmungsschwankungen auf. Häufig kommen Stimmungsstörungen auch bei schweren körperlichen Erkrankungen vor, z. B. nach Herzinfarkten oder im Rahmen dementieller Erkrankungen. Sie finden sich auch bei schizophrenen Psychosen und Persönlichkeitsstörungen.

Andreas L. litt wahrscheinlich um das 18.Lebensjahr unter einer behandlungsbedürftigen Depression. Im Vorfeld der Tat dominierten allerdings Wut und Hass, offenbar nicht eine akute Depression Er vernichtete nicht nur sein eigenes, sondern auch das Leben von 149 Unschuldigen. Offensichtlich entwickelte er zum Zeitpunkt der Tat kein ausreichendes Mit- und Verantwortungsgefühl. Depressiv Erkrankte empfinden demgegenüber zumeist übersteigerte Schuldgefühle. Sie sehnen sich gewöhnlich nicht nach Grandiosität. Sie leiden auch zumeist unter einer Antriebsstörung, die nicht nur subjektiv empfunden, sondern auch objektiv von Kollegen und Angehörigen erkannt wird. Insofern ist es viel wahrscheinlicher, dass Andreas L. unter einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung als unter einer depressiven Erkrankung gelitten hat. Diese Störung, die bei ca. ein Prozent der Bevölkerung diagnostiziert wird, war aber höchst wahrscheinlich nicht so extrem ausgeprägt, dass sie seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit beeinträchtigte.

Die Kolleginnen und Kollegen, Ärztinnen und Ärzte, die Andreas L. aufgesucht hatte, hätten unmittelbar vor der Tat eine diesbezügliche Beeinträchtigung bemerkt. Auch längere Zeit vor dem Absturz schätzten seine Freunde und Kollegen Andreas L. als freundlich und umgänglich ein. In seinem Innenleben sah es vermutlich anders aus. Wäre den Behandelnden unmittelbar vor der Tat eine krankheitsbedingte Selbst- oder Fremdgefährdung aufgefallen, wären sie nicht nur nach Paragraph 34 Strafgesetzbuch berechtigt gewesen, sich über die ärztliche Schweigepflicht hinwegzusetzen. Sie hätten bei akuter Selbst- und Fremdgefährdung nach den Psychische-Kranken-Hilfe-Gesetzen handeln müssen.

Es ist durchaus denkbar, dass eine körperliche Beeinträchtigung wie eine Sehstörung (über die in der Presse spekuliert wurde) und die damit verbundene Enttäuschung seiner beruflichen Hoffnungen, das labile Selbstwertgefühl von Andreas L. dekompensieren ließ. Die Behandlung mit Antidepressiva und Beruhigungsmitteln konnte dieses Problem sicher nicht lösen. Zudem ist unwahrscheinlich, dass diese Medikamente im Hinblick auf die Tat des Andreas L. von besonderer Bedeutung waren. Eine hohe Dosis von Lorazepam, einem häufig eingesetzten angstlösenden Beruhigungsmittel, das ihm verschrieben wurde, hätte auffallen müssen. Es führt zu Schläfrigkeit und ist mit dem konzentrierten Verhalten während der Tat nicht vereinbar. Auch eine länger bestehende Abhängigkeit wäre aufgefallen oder wäre so gering ausgeprägt gewesen, dass sie die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit von Andreas L. nicht schwer beeinträchtigte. Allerdings könnte es sein, dass Andreas L. emotional distanzierende Medikamente erhalten hat, die seine „Coolness“ begünstigten. Das wird vermutlich weiter untersucht werden.

In der FAZ habe ich resümiert, dass wir aus dem schrecklichen Ereignis lernen können und lernen müssen: „Achtsamkeit für kleine Enttäuschungen und alltägliche Sorgen klingt banal. Doch genau diese Banalität müssen wir ertragen. Wir sind froh, dass Piloten hoch kompetente und stabile Persönlichkeiten sind. Sie verdienen unsere Bewunderung. Sie dürfen aber auch, wie alle anderen, Sorgen und Nöte haben. Sie müssen sogar darüber sprechen dürfen. Narzisstisch Gekränkte ‚klinken nicht einfach aus’. Sie sind durch menschliche Zuwendung erreichbar. Deswegen ist jede Gesprächsmöglichkeit, z. B. das Vieraugenprinzip im Cockpit, sinnvoll.“

Michael Buchholz hat in seinem Leserbrief (FAZ, 25. April 2015) sozialpsychologische Aspekte hervorgehoben. Er meint, dass alles was das emotionale Feld synchronisiert und resonant macht, eine Anti-Gewalt-Wirkung entfaltet. Deswegen empfiehlt er die Verbesserung der Gruppenkohäsion der Flugzeug-Besatzungen.

In Unternehmen und Organisationen sind Freiräume gefragt, wo man sich über psychische Probleme ohne Stigmatisierung aussprechen kann. Depressive Verstimmungen und Schuldgefühle, die viele Menschen zu Psychotherapeuten und Psychiatern führen, steigern häufig Nachdenklichkeit und Gefühlstiefe. Deswegen finden wir depressive Episoden gehäuft auch bei außergewöhnlich kreativen Persönlichkeiten, J.W. v. Goethe ist eines unserer berühmtesten Beispiele. Vermutlich würde manches Verbrechen nicht ausgeführt werden, wenn die potentiellen Täter Schuldgefühle empfinden würden und realitätsgerechte Traurigkeit zulassen könnten.

Weiterführende Literatur vom Autor:

Der kalte Hass des Narzissten. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Montag, 13. April 2015

Die vielen Gesichter der Depression. Hrsg. mit Andreas Draguhn, Winter Universitätsverlag, Heidelberg, 2015

Kreativität zwischen Schöpfung und Zerstörung. Vandenhoeck & Ruprecht 2011

Leidenschaft – Goethes Weg zur Kreativität. Vandenhoeck & Ruprecht 2009

Prof. Dr. Rainer M. Holm-Hadulla ist Psychoanalytiker (DPV) und Psychiater und lehrt an der Universität Heidelberg.