Thomas Auchter: „Die erträumten Heldentaten blieben aus“

Kriegsbegeisterung und Kriegsgräuel im Angesicht des 1. Weltkrieges

Auch wenn ich das Glück hatte, nie Kriegsdienst leisten zu müssen, spielte der Krieg, seit ich mich erinnern kann, immer eine Rolle in meinem Leben. Zur Welt gekommen bin ich 1948, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, im ruinierten und brandgeschwärzten (West-)Berlin. Mein Vater war bei Kriegsbeginn als 19-jähriger Abiturient voller Idealismus (»Frauen und Vaterland gegen den bolschewistischen Feind verteidigen«) an die Front geschickt worden. 1942 wurde ihm sein rechter Arm zerschossen und blieb zeitlebens verkrüppelt. Diese Verwundung hat ihm jedoch vermutlich das Leben gerettet, denn aufgrund seiner Verletzung wurde er mit einem der letzten Flugzeuge aus der »Hölle von Stalingrad« ausgeflogen. Meine Mutter wurde bei der Eroberung Berlins durch russische Soldaten vergewaltigt. Meine Großeltern wurden bei Kriegsende beinahe erschossen, weil sie für die russischen Soldaten nicht genügend der geforderten Armbanduhren herbeischaffen konnten.

Der jüngste Bruder meiner Mutter starb als 18jähriger Soldat 1945 kurz vor Kriegsende schon auf dem Rückzug in der Nähe von Münster. Ich erinnere mich genau, als ich als 9jähriger mit meinen Großeltern an die Nordsee fuhr, dass mein Großvater an einer Stelle aus dem Fenster zeigte und traurig erklärte, dass hier in der Nähe Onkel Walter begraben liege.

In meinem Besitz befinden sich drei Texte von meinem Großvater aus der letzten Zeit des 1. Weltkrieges (1917). Sie vermitteln einerseits einen ungeschminkten Einblick in die die Gefühlslagen und die Psychodynamik eines jungen Menschen an der Kriegsfront: die Gräuel, den Schrecken und die ständige Todesangst, aber andererseits auch deren unbewusste Abwehr durch heroisches und idealistisches Denken, das die Kriegsrhetorik und sein Glaube ihm vorgaben. Mein Großvater gehörte zeitlebens zur »Freien Evangelischen Gemeinde«. Die Ausführungen zeigen auch, dass eine tiefe religiöse Überzeugung nicht zuverlässig vor Gewalt schützt.

Seitdem Menschen sich zu Gruppen, Völkern und Nationen zusammengeschlossen haben, werden die Aggressionen zwischen ihnen auch durch kriegerische Handlungen ausgetragen. Kriege bewirken massenhaft Angst, Zerstörung und Vernichtung, Leid, Trauer und Tod. Seit die Menschen ein selbstreflexives Bewusstsein erlangt haben, setzen sie sich deshalb auch mit der Frage auseinander: »Warum Krieg«? Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud hat im Jahre 1933 einen offenen Brief an Albert Einstein mit diesem Titel verfasst hat.

Das 20. Jahrhundert geht als eines der kriegerischsten, mit zwei ›Weltkriegen‹, in die Geschichte ein. Mindestens 80 Millionen Menschen auf der ganzen Welt sind in beiden Weltkriegen ermordet worden, zig Millionen körperlich versehrt und zig Millionen seelisch traumatisiert.

Trotz unseres Bewusstseins vom Sterbenmüssen wehrt sich unser Vorbewusstes dagegen, und unser Unbewusstes ist von seiner Unsterblichkeit überzeugt, schreibt 1915 – mitten im 1. Weltkrieg - Sigmund Freud (1915b). Die Gefährdung geht in einem Krieg nicht von Naturgewalten aus, sondern von Menschengewalt. Die Menschen haben den Göttern die Entscheidung über Leben und Tod aus der Hand genommen, seitdem müssen sie Angst vor dem »Gotteskomplex« des Menschen (Richter 1979) haben. Ganz besonders angesichts von ›Massenvernichtungswaffen‹ wie Atombomben, die eine vollständige Auslöschung der Menschheit möglich machen. Gegenüber dieser Bedro­hung wird individuell und kollektiv das ganze Arsenal unbewusster seeli­scher Anpassungs‑ und Abwehrmechanismen mobilisiert.

Wir Psychoanalytiker wissen aus unseren Krankenbehandlungen, wie das angstgesteuerte Sicher­heits­ver­­langen von Menschen pervertieren kann zu neurotischer Ich‑ Ein­schränkung und ‑Behinderung, zum psychotischen Ich‑Verlust und zur psychoso­matischen Ich‑Zerstörung. Mit anderen Worten: Der Mensch ist dazu fähig, aus unbewussten Motiven gegen seine bewussten Interessen und Bedürfnisse zu handeln ‑ bis hin zur Selbstvernichtung, zum ›begeisterten Selbstmord‹. Aktuell brauchen wir dazu nur in den Nahen Osten zu blicken.

Nach einem Scheitern der reiferen psychischen Abwehr- und Bewältigungsmechanismen im Konfliktfalle und in Krisensituationen folgt gewöhnlich ein Rückgriff auf immer frü­here, archaischere und primitivere unbewusste seelische Abwehrtechniken. »Spaltungsphänomene« und »Projektionen« sind Ausdruck einer Regression auf das sogenannte »paranoid‑schizoide« Weltbild der frühesten Lebenszeit. Vor den abgespaltenen (»schizoid«) und in den anderen projizierten aggressiven Impulsen entwickelt das Individuum dann »paranoide« Verfolgungsangst. Diese psychischen Mechanismen stellen die Grundlage einer der wohl gefährlichsten seelischen Abwehroperationen, der »Feindbildung«, dar.

In der Geschichte unseres seelischen Lebens geht nichts verloren, unser Unbewusstes kennt kein Vergessen. Im Gegenteil, gerade die unerfüllten Bedürfnisse, unbewältigten Konflikte, ungelösten Probleme und unver­arbeiteten Ängste unserer gesamten Lebensgeschichte ‑ die vor allem eine Geschichte unserer Beziehungen ist ‑ beeinflussen grundlegend unsere Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Realität. Von dem amerikanischen Philosophen George Santayana (1905/6) stammt die Formulierung: »Wer seine Geschichte verleugnet, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen«.

Aus dem psychotherapeutischen Umgang mit Adoleszenten und mit »Borderline‑Pa­tienten« kennen wir das Phänomen, dass eine äußere aggressive Auseinan­der­setzung gesucht wird, um die Gefahr einer inneren Verunsicherung und Diffusion zu verringern und die Selbstgrenzen klarer zu definieren. Auf nationaler Ebe­ne kann eine kriegerische Auseinandersetzung die gleiche Funktion haben, eine innere Bedrohung durch Chaos und Strukturlosigkeit (Unordnung) mit Hilfe einer militärischen Aktion an den Grenzen zu vermindern1. »Es ist letztlich das Nicht‑ertragen‑Können von Leiden, das immer wieder dazu zwingt, andere leiden zu machen«, schreibt der Psychoanalytiker und Friedensaktivist Horst Eberhard Richter (1979).

Die Verabsolu­tierung, die Mystifikation von Ideen und Idealen (z. B. Freiheit, Sicher­heit, Gleichheit, Gerechtigkeit) pervertiert diese Ziele in ihr Gegenteil (vgl. Schmidhäuser 1983). Es entsteht dann nach Richter (1979) »jener irrationale Mo­ralismus, der ‑ unbewusst ‑ das Übel fixiert, das er bannen möchte«. »Niemals tut man so gut und so vollständig das Böse, als wenn man es guten Gewissens tut«, formulierte schon 1670 Blaise Pascal. Es sind die allzu Gläubigen, die Idealisten und Perfektionisten, die um hehrster Ziele willen unvorstellbare Grausamkeiten be­gangen, Scheiterhaufen und Galgen errichtet und ›heilige Kriege‹ be­gonnen haben und begehen! Die Kriegspropaganda aller Zeiten hat sich das »dulce et decorum est pro patria mori« [es ist süß und ehrenvoll für das Vaterland zu sterben] des Horaz zu Eigen gemacht. Illusionen und Größenerlebnisse sind gefragt, nicht Leiden und nicht Sterben! Im Kriegsfall wird qua institutione das »individuelle«, persönliche Gewissen durch ein »kollektives, uniformiertes« (Redl 1982) Gewissen ersetzt, worauf schon Freud (1921c) hinwies. Mit dem Anziehen der ›Uniform‹, die mich von den anderen ununterscheidbar macht, wird auch mein Denken, Fühlen, Ur­teilen und Entscheiden uniformiert. Durch die Veräußerung meines Über‑Ichs, meines Gewissens, an den Befehlshaber wird mein Töten unpersönlich (vgl. das »Milgram‑Ex­peri­ment«). »Soldaten gehen in die Schlacht, feuern Geschosse ab und werfen Bomben, einfach weil ihnen das befohlen wur­de und nicht in erster Linie, weil sie den Feind hassen« (Frank 1968). Der Psychoanalytiker Fritz Redl (1982) meint, dass die seelische Entlastung durch einen Führer es den »privaten Ober‑Ichs erlaube, schlafen zu gehen« und »sich frei von Schuld zu fühlen«. Aber es bleibt nach aller Erfahrung zu bezweifeln, dass tatsächlich auf Dauer eine Schuldentlastung stattfindet, und zu fragen, ob nicht doch schwerste unbewusste Schuldgefühle dar­aus erwachsen (vgl. Freud 1915b). Denn auch »im ›gerechten Krieg‹ bleibt Totschlag Totschlag, gleichgültig von welcher Seite er auch verübt wird, und niemand kann den Täter vor seinem eigenen Gewissen exkulpieren« (Begemann 1983; Freud 1912-13a). Die zunehmenden sogenannten ›Posttraumatischen Belastungsstörungen‹ heutiger Soldaten nach Kriegeinsätzen sind meines Erachtens ein deutliches Indiz dafür.

Hinzu kommt, dass der Tod schon wieder - oder immer noch - ein »Meister aus Deutschland« (P. Celan 1975) ist. Deutsche Tötungsmaschinen sind gefragt in der ganzen Welt ‑ und die Deutschen liefern. Wir sind der drittgrößte Waffenproduzent der Welt! Auch die gegenwärtige Große Koalition setzt diese Politik der Waffenlieferungen in Krisengebiete in unser aller Namen und mit unserem Steuergeld unvermindert fort!

Kriege sind weder Naturkatastrophen noch Schicksalsschläge. Kriege werden von Menschen vorbereitet und durchgeführt ‑ einerseits durch das Produzieren von Waffen (die keine andere Funktion haben, als zu vernichten, zu verletzen und zu töten) und andererseits durch das Mili­tarisieren von Kopf und Herz, Verstand und Gewissen, durch psychi­sche Aufrüstung. »Kriege brechen in Köpfen aus, lange bevor der erste Schuss fällt« (Ditfurth 1983). »Lange bevor ein Krieg ausbricht, hat er in den Gedanken und Herzen der Menschen schon begonnen« (Schmidhäuser 1983).

Bei der Vorbereitung eines Krieges kommt den Medien, die Fakten und Meinungen (Interpretationen) veröffentlichen, eine bedeutsame Rolle zu. Ob der Krieg der »Vater aller Dinge« ist, wie in der Antike Heraklit meinte, weiß ich nicht, aber ich weiß sicher, dass ein Krieg der Vater vieler materieller, aber vor allem seelischer Übel ist. Und diese Übel fangen an, lange bevor der Krieg beginnt, mit der militärischen Zurichtung zum Soldaten einerseits und der geistigen Zurichtung der Zivilbevölkerung für den Krieg andererseits. Die militärische Indoktrination bemüht sich um eine »Umwertung aller Werte«. All das, was im normalen, alltäglichen Leben »verboten ist und juristisch verfolgt wird, ist im Krieg geboten: Zerstörung, Verletzung, Mord und Vergewaltigung.

Der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud unterzeichnet im Jahre 1930 ein »Manifest gegen die Wehrpflicht und die militärische Ausbildung« zusammen mit unter anderem Albert Einstein, Selma Lagerlöf, Thomas Mann, Romain Rolland, Bertrand Russel, Upton Sinclair, H.G. Wells und Stefan Zweig. Darin heißt es: »Die Wehrpflicht liefert die Einzelpersönlichkeit dem Militarismus aus. Sie ist eine Form der Knechtschaft. Dass die Völker sie gewohnheitsmäßig dulden, ist nur ein Beweis für ihren abstumpfenden Einfluss. Militärische Ausbildung ist Schulung von Körper und Geist in der Kunst des Tötens. Militärische Ausbildung ist Erziehung zum Kriege. Sie ist die Verewigung des Kriegsgeistes. Sie verhindert die Entwicklung des Willens zum Frieden«.

Bei der militärischen Indoktrination, die an die bewussten und unbewussten Aggressionsneigungen des Menschen anknüpfen kann, wird vordergründig die Illusion aufrechterhalten, es gäbe einen gerechtfertigten, einen sauberen und anständigen Krieg. So wie es unnachahmlich der Reichsführer der SS Heinrich Himmler in seiner berühmt-berüchtigten Rede von 1943 formuliert: »Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes Ruhmesblatt unserer Geschichte« (zit. n. Broszat 1983; kursiv T.A.).

Ideologisch wird die Vorstellung vom - an und für sich - sauberen und anständigen Krieg (der »Guten«, die natürlich immer »wir« sind, gegen die »Bösen« natürlich immer die »anderen« [Auchter 1990]) aufrecht­er­halten, »die Illusion einer moralischen Ordnung, wo es keine gibt« (Wright 2005; kursiv T.A.).

Die in der militärischen Ausbildung erzeugte »Gefühllosigkeit« (Lifton 1986; Wright 2005) und »Leidensverachtung« – die als besonders »männlich« angesehen wird! (Wright 2005) - wird dadurch verstärkt, dass die Soldaten vor und bei Kampfhandlungen Psychopharmaka und Aufputschmittel wie Koffein und Ephe­drin einwerfen (Wright 2005). Nur so ist das Zerstören und das Verletzen und Töten von Menschen auszuhalten. Eine Hilfe bei der seelischen Distanzierung vom Opfer bietet auch die zunehmende ›Digitalisierung des Tötens‹ mittels Computern und Drohnen.

Sigmund Freud beschreibt schon 1918 – angesichts des 1. Weltkrieges – den inneren Konflikt im Soldaten zwischen seinem – wie Freud das nennt - »Friedens-Ich« und seinem »Krieger-Ich«. Bei den sogenannten »Kriegsneurotikern« – also Soldaten, die an der Front seelisch erkranken - wehre sich das »Friedens-Ich«:

  1. gegen die »Lebensgefahr«, in die der »neugebildete parasitische Doppelgänger«, das »Krieger-Ich«, den Soldaten bringe (Freud 1919d; [1920] 1987),
  2. gegen »das Gefühl empörende Anforderungen des Kriegsdienstes«, ein »Sträuben gegen den Auftrag, andere zu ›töten‹« (Freud [1920] 1987),
  3. gegen die »rücksichtlose Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit« durch die militärischen Vorgesetzten (Freud [1920] 1987).

Der Begriff »Kriegs-›neurose‹« ist ebenso irreführend wie der Begriff »funktionelle ›Störung‹« (Freud [1920], 1987) für Soldaten. Denn es ist ja doch sehr die Frage, ob die Entwicklung körperlicher Symptome bei Soldaten wie Zittern und Lähmungen eine Krankheitserscheinung sind? Oder ob sie nicht viel eher Ausdruck einer gesunden Reaktion angesichts so krankhafter Umstände (wie der eines Krieges) sind?

Die militärische Indoktrination zum schuldgefühlfreien Töten und Vernichten des Feindes scheint also nicht perfekt zu funktionieren. Reste gesunden moralischen Empfindens überleben offenbar. Verschiedene Beispiele dafür finden sich in dem beeindruckenden Bericht von Evan Wright (2005) »Generation kill« als Frontberichterstatter im Irak-Krieg. Das »Friedens-Ich« lässt sich anscheinend nicht vollständig durch das »Krieger-Ich« ersetzen, sondern führt zu einem traumatischen Ich-Konflikt (Freud 1919d), und nachfolgend zu einer seelischen Erkrankung. Schätzungen gehen davon aus, dass mehr als 100 000 amerikanische Soldaten mit Symptomen von PTBS (Posttraumatisches Belastungssyndrom) aus Afghanistan und dem Irak und zurückkommen (van Langendonck 2005). Nicht selten schlägt deren seelische Traumatisierung dann zu Hause wieder in unkontrollierte Gewalt, Mord und Selbst­mord um! So bleibt der Teufelkreis zwischen Opfern und Tätern, so bleibt der Teufelskreis der Gewalt erhalten! Im Jahre 2012 wurden bei der Bundeswehr offiziell 1143 Fälle von PTBS registriert, mit im Jahre 2013 steigender Tendenz. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen!

Soweit einige grundsätzliche Überlegungen zum Thema ›Krieg‹ und seiner scheinbaren Unsterblichkeit. Damit komme ich zu den Texten meines Großvaters.

Der Vater meiner Mutter, mein Großvater, Walther Dalheimer, kommt 1893 zur Welt. Er stirbt im Jahre 1962 durch einen Autounfall, möglicherweise in suizidaler Absicht, nachdem sechs Wochen zuvor seine Frau einem Krebsleiden erlegen war.

Während der Zeit seines Studiums am Technikum in Bingen (1910 – 1914) hatte er im Hause seiner Vermieter deren Tochter Änne Dehnen, meine spätere Großmutter, 7 Jahre jünger als er, kennengelernt und sich in sie verliebt. Sie heiraten 1920. Nach dem Abschluss seines Maschinenbaustudiums meldet sich mein Großvater 1914 bei Kriegsbeginn, 21 Jahre alt, freiwillig zum Kriegsdienst.

Die verwendete Sprache in den Texten meines Großvaters mag uns an manchen Stellen fremd vorkommen, aber es ist zu bedenken, dass der Text fast 100 Jahre alt ist und ›aus Kaiserszeiten‹ stammt (Die Texte entsprechen bis auf geringfügige orthographische Korrekturen, auch in ihrer Anordnung, unverändert dem Original. Die Hervorhebungen und Unterstreichungen finden sich so im Original; Textzusätze von mir sind in eckige Klammern gesetzt.) Wir finden in den Texten Aussagen, die uns irritieren oder gar provozieren können. Wir finden darin aber auch Passagen, die uns zutiefst berühren können. Fühlen Sie selbst!

Eine Nacht im Kampfe im Stellungskrieg [1917]

›Stellungskrieg‹, ein Wort, das klingt wie Ruhe und Erholung. Sein freut sich jeder Lands(mann). Und doch sehnt jeder – sehnt u[nd] sehnt, und seine bange Sorge und seine heiße Liebe weilen gar ferne, wo man glücklicherweise dieses ›erleichterte‹ Leben des ›gemütl[ichen]‹ Stellungskrieges nicht kennt.

Und doch ist dieser Stellungskrieg auch wieder wie ein Pulverfass, stets stehen hüben und drüben die mordsendenden Geschütze schussbereit; einem von sehnigem Arme geführten, reich gespickten Köcher gleicht das wohlbewachte Grabensystem hüben u[nd] drüben und unheimlich klingt das dumpfe Klopfen und Schlagen tief zu Füßen und unter der Erde mit eintöniger Unheimlichkeit, dem ehrlichen und mutigsten Verteidiger Grausen und Schütteln einflößend. Das ist die heimliche, dunkle Arbeit der Minierer! Wehe dem Abschnitt, den sie sich als Niederlassung wählen! Allüberall lauern Tod und Verderben; durch Tücke und Hinterlist drohen dem arglosen Braven 1000 Gefahren.

Und doch fühlt man sich hier wohl, unendlich wohler, als an vielen offenen Gefechts- u[nd] Offensivkampfplätzen. Aber auch hier, wo allgemein Ruhe und Frieden über den Ernst der Lage täuscht, erscheint zuweilen das Bild des offenen Kampfes, ja gerade hier oft Mann gegen Mann.

Ein solcher Tag war für uns u[nter] a[nderen] auch der 30. Juni [1917].

Die 12. Kompanie hatte unseren Abschnitt besetzt, während wir, die 10., in Res[erve] lagen. Gegen Mittag setzte das Art[illerie]- und Minenfeuer heftiger ein. Bald war jede Verbindung nach vorne unterbrochen, die Telefonleitungen waren zerschossen; Ordonanzen konnten nicht mehr ihren Dienst tun, da das Trommel- u[nd] Sperrfeuer zu stark war. Die Beschießung fand auf einem Abschnitt unserer Komp[anie] von etwa 500m Breite statt. Schon von etwa 5 Uhr ab war bei uns Alarmbereitschaft angeordnet; später war es Gefechtsbereitschaft; d.h.: jeder Mann steht in seinem Quartier oder Unterstand sturmbereit (Anzug: Stiefel, umgeschnallt mit Patr[onen]-Taschen und Gasmaske und Brotbeutel; Gewehr in der Hand). In der Dämmerung, es mag etwa ½ 10 Uhr gewesen sein, setzt vorn anstatt des Art[illerie] und M[inen]-Feuers plötzlich kurz Inf[anterie]- und Masch[inen]-Gew[ehr]-Feuer ein. Einige Minuten später heißt es bei uns »Antreten! raus! --- 10. Kom[panie]!! schnell!« Eine halbe Min[ute] später: »L[eutnan]t Kopp! L[eutnan]t Kopp!« »2. Zug!« Keine Antwort! »L[eutnant] Wißler! Dann gehen Sie mit Ihrem ersten Zug! Gefechtslage: Die Franzosen sind in die erste Stellung eingedrungen. 12. Komp[anie] teils gefangen; L[eutnant] Richard ist verwundet oder gef[angen]! Ihr Auftrag ist: Sofort schnell durchstoßen bis in den 1. Graben, ev[en]t[uell] ohne Benutzung der Laufgräben!« »Zu Befehl!« »Machen Sie schnell!« »Jawohl!« »Gruppenführer des 1. Zuges! Ist alles da?« »Jawohl!« »Also wir sollen...« »Wißler! So gehen Sie doch!« »Jawohl!« »Links um marsch!«

Und los geht es! Neben meinem L[eutnant] bin ich vorn am Zuge. »Handgranaten nach vorne!«, rufe ich. An dem franz[ösischen] Feuer, das etwa auf unserem 3. Graben liegt, sehen wir, dass die Stellung noch nicht ganz in franz[ösischem] Besitz sein kann. Im Laufschritt geht es pustend dahin durch die Laufgräben. Oft steht man direkt im Feuer einer platzenden Granate oder eines Schrapnells! Vor und hinter mir höre ich Wehe- und Klagerufe getroffener Kameraden! »Fort!«, rufe ich, »dass wir aus dem Sperrfeuer herauskommen nach vorne!« Der 3. Graben ist böse zugerichtet! Verbindungsgräben zwischen diesem und dem 2. sind nicht mehr vorhanden! »Alles eingeebnet!«, kommt es einem zornerfüllt über die Lippen. Im 2. Graben finden wir 2 oder 3 Mann der 12.Komp[anie], dabei den verw[undeten] Komp[anie]-Führer! »Wie ist’s? Wo sind die Franzosen?« Sie wissen’s nicht. Sie haben nichts gesehen. Also: »Los! In den 1. Graben!« Ein Laufgraben ist noch ziemlich erhalten! Vorsichtig guckt man um die Ecke: Er ist frei!

Da sieht man auch schon den 1. Graben: - leer – überrascht sehen wir uns an! »Los! Vorläufig wird der Graben besetzt«, sage ich. Wir sind vorne noch 3 Gefreite und etwa 20 Mann. »Von hier bis... wer ist das dort?« »Kromaner« --- »bis Kromaner meine Gruppe!« »Weitersagen: Gruppen einteilen!«

Damit ist meine Pflicht vorläufig getan. Ich steige noch in die Höhe und besehe mir das Gelände vor mir. Dann sage ich: »Alles an den Boden legen, nur 1 Mann beobachtet abwechselnd genau! Damit keine unnötigen Verluste eintreten«.

So hielten wir Wacht!

Kommando!? Nicht nötig. Deutsche Jungmannschaft lag hier – im Artilleriefeuer.

Bald gesellte sich zu den feindl[ichen] Einschlägen auch noch das regelmäßige Krachen eigener 15cm Granaten, die dicht bei uns oder gar noch hinter uns einschlugen. An den nötigen Verwünschungen fehlte es da nicht. Um 1 Uhr kam Ablösung. Die 9. Komp[anie] kam, um ihren Platz einzunehmen. Die 10. war Reg[iments]-Reserve und sollte hinten zur Verf[ügun]g des Reg[imen]ts bleiben. Dieser Tag hatte unserer Komp[anie] eine traurige Anzahl Verluste gekostet. Die Kopflosigkeit der 12. Komp[anie] zunächst war schuld. Nach dem starken Feuer war eine fr[an]z[ösische] Patrouille in unseren Graben gebrochen, um einen oder mehrere Gefangene zu machen. Die 12.Komp[anie] meldete sofort Ungeheuerliches zurück, sodass ›Verstärkungen‹ vor mussten. Die 9. Komp[anie] war unfertig. Die 10. übernimmt die Kiste freiwillig.

Einige feige Hasenherzen kosteten uns eine Anzahl braver alter Krieger, die zuhause von liebenden Herzen zurückersehnt wurden. Unser guter, armer Feldw[ebel] Jung aus Aspisheim. Wie unfassbar war es seiner tr[euen] Braut! Die Liebe wurde der eisernen Pflicht geopfert, von grausamer Neidsucht mit Füßen getreten.

Wie ich war und sann [1917]

Froh und fast mit Begeisterung war ich zum 2. Male ins Feld gezogen. Du weißt das aus meinem 1. Tagebuche.

1914 waren wir in jugendlichem Übereifer ins Feld gerückt.

Die erträumten Heldentaten blieben aus; man konnte nichts Weltbewegendes, nichts Entscheidendes leisten, wie man stolz erwartet[e]. Kein Wunder, wenn kühle Enttäuschung das Herz bedrückte! Zuweilen, in Stunden des Gefechtes, flammte die zum Schlummern verurteilte Begeisterung auf! Aber große Siege blieben aus. Gleichgültigkeit und trübes Sinnen erfüllte die Gedanken oder – entblößte die Gedankenwelt.

Die Heimat machte einem das Leben erträglich. Die Sehnsucht nach ihr ließ einen mit allen Fasern des Herzens und Wollens am Leben festhalten. Meine l[ieben] Eltern standen mir wartend, bangend – liebend vor der Seele. Das zog mich so unsäglich. Dieses Etwas, diese Herzensverbindung! – war das nur das Hängen an der Heimatscholle, war es nur die Liebe zu Eltern und Geschwistern? Oder sollte doch das Eine, das ich mir nicht gestehen wollte, weil es nicht so sein – durfte oder konnte – die höhere Rolle spielen?!

Das Zagen und Fragen nach Dir, meine liebe, einzige Änne, wurde ich nicht los. Denkt sie an mich? Wohl hatte ich keine Ahnung, was Du denken, was Dein Herz sehnen und sprechen könnte, und gerade das machte mein Fragen und meine Unruhe über die Ungewissheit lebendiger, brennend! Tausend Gedanken und Fragen gingen da oft durch mein Herz. Erregt dachte und sann ich, mein Herz schlug dabei schneller. Wenn Du nun entfernt nicht mir entgegenkommst, wenn Dein Herz, wozu Du ja volles Recht haben würdest, anders sprechen, anders fühlen und entscheiden würde, anders als gerade das eine, was ich sehnte; wenn Du unter den vielen Möglichkeitsfällen Dich später einmal nicht genau für den einen – für meinen – Fall entscheiden würdest. - Oh, dann wäre all das Denken umsonst gewesen; dann müsste das schöne Haus meiner Träume und Wünsche, das ich mir in so rosigen Blumengärten mit duftenden zarten Rasenteppichen und Wandelpfaden erbaut dachte, ja es musste unhaltbar – grausam – zus[ammenstürzen] – ich mochte es nicht ausdenken – mein Puls flog, mein Blut hämmerte gegen die Schläfen; ich musste fort – fort --- nicht mehr denken!

Und dann träumte ich wieder so süß. Dann sah ich Dich, zur Jungfrau geworden, in meinen Armen überglücklich lächeln – und neu war mein Mut.

Ja, wenn dann das liebe Heimatland wieder Frieden hat, wenn ihr es freigekämpft habt, dann dürft ihr froh wiederkehren; dann darf auch ich sagen: nicht umsonst gekämpft!

Das traut[e]ste Heim darfst du dir dann erbauen. Du hast mitgeholfen, diesen Frieden zu erstreiten. Jetzt sollst du glücklich in ihm wohnen. Ich dachte dann: Kämpfen ist schwer, aber das Bewusstsein: es gilt den Lieben, - der Liebsten -, macht leicht, macht glücklich. Wie glücklich erst wäre ich gewesen, wissen zu können: ein junges freies Herz denkt zagend und schwach an mich! Aber sie denkt!! Als wir fortzogen, war es die Größe der Stunde, die unser Herz schwellte. Jetzt im Ernst des Kampfes bedurfte das Herz eines Angelpunktes; wohl waren wir für ›das Vaterland‹ ausgezogen: Das Wirken der Söhne Deutschlands galt der Heimat; aber jeder für sich wollte doch auch gern für etwas Besonderes, Persönliches in diesem Kampfe stehen; er wollte das Bewusstsein im Herzen tragen: Ich besonders – dulde und tue das alles für alle, aber in erster Linie für – mein Lieb.

Ist es nicht bei Euch Mädchen ähnlich gewesen in den Empfindungen jener großen Tage?! Mit tausend Wünschen und Gaben begleitetet ihr die deutschen Kämpfer hinaus in den großen Kampf. Mit Mitleid und Schmerz nahmt ihr braven Mädchen regen Anteil an unser aller Not und Gefahr!

Aber sag: Wünschte nicht auch Euer Herz, unter den vielen einen zu wissen, den besondere Wünsche umgaben, von dem Euer Herz sich sagte: Auch ich trage in dieser schweren Zeit etwas mit an der Last unseres Volkes, auch mein Herz gab etwas, [es] gab einen, um den es sich sorgte, der seine schönsten Wünsche und Hoffnungen hinaustrug in Gefahr und Kampf. Auch ich habe dem Vaterlande blutenden Herzens in schicksalsschwerer Stunde ein Opfer gebracht, als das schönste Glück meines Herzens hinausging.

So war es ja wohl 1914!? Aber diesmal, dies 2te Mal da war es doch so ganz anders! Da warst Du ja mein und nanntest mich von Herzen den Deinen. Umso stärker war bei mir der Wille zum Leben, zur Heimat.

Aber auch so ganz anders waren diesmal die Verhältnisse, - der unabsehbare Kampf – so manche getäuschte Hoffnung auf einen ersehnten Frieden – die stetig wachsende Stärke und Grausamkeit des Ringens! – das Heimweh der Seele!

Kämpfe des Geistes und der Seele waren hier durchzuringen, die uns bis in die heiligsten Tiefen erschütterten – leben und bangen ließen und doch immer auch wieder den Keim der ewigen Freude enthielten!

Einmal dachte ich in der elendesten Lage und in traurigstem Zustande über die Armseligkeit unseres Daseins – und die Tränen standen so nahe, das Herz so beklemmt, der Kopf so voll und es würgte sich wie Klage und Wehmut zur Kehle hinan; - wie ein Lichtstrahl eines irrenden Scheinwerfers huschte dann plötzlich der Gedanke an Dich über das Feld meines Geisteskampfes – einen Augenblick nur sah ich mein Glück, mein prächtiges Lieb – und tiefer grub sich die Wehmut ob all des Erlebten und all des Entbehrten in die Tiefe der Seele: »Oh, wäre es zu Ende« - »tot sein oder leben, aber nicht so weiter!«, so sprach das mutlose Herz: »Aber«, lebte entschieden der rege Geist auf, »der Herr macht’s, Er macht alles wohl!« und er triumphierte!

Das andremal umtobte mich Grausen und Tod; die Elemente schienen alles Leben vernichten zu wollen; die Gewalt aller Mordmaschinen war auf uns losgelassen Vernichtung und Entsetzen ringsum; wohl bangte da das Herz; die Sinne versagten den Dienst; wie ein lebendig Toter lagen Leib und Geist danieder, die Seele litt Höllenqualen. Das sind Augenblicke und Stunden, in denen Seele und Geist ihre furchtbarsten Kämpfe ausfechten, wo ein ewiges, grausiges »wüst und leer« gegen das Heiligtum der Ewigkeit streitet. Gleichsam als mache die Seele die tiefsten Schrecken des Ersten Brudermordes durch – so streitet das Gesetz und der Wille des Lebens nur schwach noch mit dem fast triumphierenden Satanswillen, der uns das Leben verachten und den Tod ›als Erlösung‹ erwünschen heißen möchte! Das ist der hässlichste Widerstreit, der ein Menschenherz in seinen Grundfesten erschüttert. Aber in diesem Augenblick stand die Seele auch wieder so hoch über allem Tohuwabohu; sie erwies sich und bestätigte sich als ewig, wohl unter dem Fluch der Zeitlichkeit schmachtend, aber nicht ihr entnommen oder untergeordnet. Sie rang um ihre Würde!

Ihr Adel triumphierte über Zeit, Welt und Verderben, wenn ihre Wiedereinpfropfung in den göttlichen Adelsstamm ihr ›Ruhe‹ gegeben, die er seinem Volke erworben und aufbewahrt hat.

Sieh, mein Lieb, so sind mir jene furchtbarsten Stunden doch wieder groß; dort begegnete ›Er‹ mir, so wie ich ihn nie geschaut, so groß und wunderbar, so herrlich und unaussprechlich gütig und doch wieder so einfach und schlicht, gerade wie ich ihn im Schatten des Todes brauchte. In solchen Stunden, ja Tagen und Wochen, erwies sich die erhabene Lebensfähigkeit meines Glaubens an den Herrn Jesus in herrlicher, heiligernster Weise im blutigen Kampfe und sichtbarer Todesnähe! Dankbar bin ich dem Herrn für jene Offenbarungen Seiner Gnadenherrlichkeit, die mir mein Leben lang eine drängende Dankesursache bleiben werden und ihre fruchtbaren Schatten auf meinen Erdenwandel haften lassen werden!

So sind jene Kämpfe äußerster Seelenqual der Satansversuchung und tiefster Leibesnot doch auch wieder Denkmäler hehrsten, großen Sieges der Gottesgnade im Erlösungswerke Christi geworden. Ihm sei der Dank!

Jene beiden Gedankenrichtungen, deren erste mich das Leben verachten lehrte und wegwerfen hieß und die andere mit ihrem ewigneuen Trost und Lebensmut, getragen von dem allsiegenden Resonanzboden der Kreuzestat: »Es ist vollbracht«, rangen erschütternd ernst: doch. »Hölle, wo ist dein Sieg?«... Gott sei Dank!, dass er uns den Sieg durch unseren Herrn Jesum Christum gab! Das war Gnade! Nur Gnade!

Lebendig stand da auch die liebe Heimat mit ihren teuren Lieben, betenden Herzen, bangen Sorgen, und besonders Du, meine Liebe, mein Ein, mein Glück hier unten, mit Deinem liebend sehnenden Herzen vor mir. Da hallte der Grundton der heimverlangenden Seele auch im Herzen wieder: auch ›heim‹! Zur irdischen Heimat begehrte die volle Brust des klopfenden Herzens!

Da rang sich das Leben durch die Tiefen des Schauderns – und doch!

Oh, Liebste, wie wunderbar führte Er alles! Wie sehe ich heute schöne Lichtschimmer im damals trostlosen, schrecklichen Erleben! Wie werden wir ihn einst schauen, wenn jene Zeit wieder im Lichte (!) vor uns liegt und verklärte Augen Seine Taten erkennen!! Er führte uns, Lieb! Er führte uns auf rechter Straße! Wie köstlich, Lieb, dass wir wissen, dass unser Herzensbund im Himmel bekannt ist – ja! Bekannt war, ehe wir darum wussten! Und unsere Werke, in denen wir wandeln sollen, sind schon ›bereitet‹!

Lass uns Gnade nehmen, in ihnen zu wandeln, keinen Schaden zu nehmen! Köstlich einmal den vorbestimmten Platz an seinem Tempel restlos ausfüllen zu können!

Er bilde uns dazu nach seinem Vor-Bilde!

Sturm [1917]

An den Stellungskrieg in Cerny und ›Vororten‹ hatte man sich recht gut gewöhnt. Trostlos war es wohl in seiner Eintönigkeit, aber das Leben dort war erträglich. Von Tag zu Tag ging alles seinen gewohnten Gang: Die vorschriftsmäßigen Granaten wurden täglich verschossen, allnächtlich die nötigen Leuchtkugeln losgelassen; bei auch nicht starkem Feuer wurde reichlich ›Deckung‹ genommen und namentlich nicht knapp ›gepennt‹. War einmal eine ›gewaltsame‹ Erkundung geplant oder ein gegnerischer Überfall abzuweisen, so gehörte das eben zu den unangenehmen Störungen unserer Ruhe.

Da – im August [1917] hieß es plötzlich: »... sollen abgelöst werden!« - »Wer? - Wann? – Wohin?!«

Es war damals nur unsere 12. Komp[anie]. Sie musste fort von uns – auf Nimmerwiedersehn! Wo sie blieb? Wohl bei irgendeiner ›fliegenden‹ Abteilung! Wir ›gründeten‹ aus allen 11. Komp[anien] eine ›neue 12.‹. Aber es war am Gären bei uns. Kurz drauf verschwand unser 2tes Bataillon! Sein Abschnitt musste von uns mitbesetzt und ›gehalten‹ werden! Es sollte ja bald wiederkommen eines von den anderen beiden ›ablösen‹. Aber wir hatten arg wenig Sehnsucht nach ›Ablösung‹: das bedeutete ja nicht Ruhe, nein aus unserer Ruhe löste man uns dann ab.

Bald war unser 2tes Bat[aillon] wieder in der Nähe. Aber es blieb ›hinten‹. Verdächtig! Lohnt sich’s vielleicht gar nicht mehr, es nach vorne zu bringen? Mutmaßungen... Mögliches und Unmögliches schwirrte durch die Luft. Aber am 4. Sept[ember 1917] hörte das Mutmaßen auf!

Da wurde uns bei Parole ›bekanntgegeben‹, dass wir in Bälde die Ehre haben würden, vor unseren ›Hauptfeind‹ zu kommen. Die Gruppenführer sollten ihre Leute darauf hinweisen... usw... von Postschreiben und Erzählen usw. wurde da instruiert... und der Engländer sei durchaus nicht der stramme und vor allen Dingen nicht der mutige Soldat, wie der Franzose... wir würden es ihm also noch viel gehöriger ›geben‹ als dem Franzmann usw.. Also: gar nicht schlimm. Aber durch das Lager, durch Gräben und Unterstände lief es wie sturmgepeitschtes Lauffeuer: ... ›Somne‹ - ›Somne‹. Nur das eine Wort: »Du, Schorsch, hast es schon gehört? - ›Somne‹! Sagte es einer dem anderen mit bedeutsamer Handbewegung weiter! Und dann stand man zusammen und tauschte mit gedämpfter Stimme seine Meinungen aus. Und namentlich die ›Ersatzmannschaften‹ drängten sich bei jeder Gelegenheit an uns ›alte Krieger‹ heran mit ihren naivsten Fragen, auf die wir selbst nicht Antwort wussten; da wir ja auch noch keine ›Somne‹ mitgemacht hatten. Aber nat[ürlich] wurden die meisten Frager mit allwissender Sicherheit und Furchtlosigkeit über alle kommenden Ereignisse belehrt und mit Hochachtung hielten sie sich an einen ›alten‹!

Die Kameradschaft war wie neu geboren. Gerade als wollten die sonst so faulen Drücker von Ersatzleuten jetzt alles schaffen. Wie oft wurde mir angetragen: »ob sich das nicht einrichten ließe, dass ›wir 2‹ zusammenkämen!«, oder: »dass ich in Deine Gruppe käme«.

»Wollen mal sehen beim Einteilen, dann drückst Du Dich schon ein bisschen zu mir herüber«... usw. war mein Trost, den ich großmütig spendete, während ich selber lieber mit alten Kameraden, als mit diesen Neugebackenen, zu solchen Kämpfen gegangen wäre. Doch ohne, dass ich’s ändern konnte, hatte meine Gruppe nachher doch bloß 2 alte Kameraden neben 6 jungen ›Kriegern‹, denen ich aber allen nur Gutes nachsagen kann. Sie haben sich brav gehalten im härtesten Kampf!

Die Ablösung am 9. Sept[ember 1917] kam pünktl[ich] in Gestalt eines bayr[ischen] Reg[imente]s. Sie kamen von der Somne; ihre Nachrichten von dort lauteten wenig hoffnungsfroh! Dann gings zur Bahn. Schnell ging der Transport vonstatten und am 12. 9. [1917] spät abends waren wir in Cambrai.

Aber eigentümlich war und allen, dass kein Befehl zum Aussteigen kam. Und auf einmal waren wir wieder am Rollen. Zuerst gabs einen großen nach Süden offenen Bogen und dann fuhren wir fast in entgegengesetzter Richtung wie am Abend. Bald war’s uns klar, dass etwas Besonderes im Anzuge war. Richtung Bapaume und darüber hinaus – Péronne ging es. In der Frühe des Morgens mit hellem Tage kam in ›Roisel‹ der Befehl zum Aussteigen.

Bald erfuhren wir auch von den dort lagernden Kameraden wie viel Uhr es war: »Letzte Nacht haben die Franzmänner 26mal angegriffen... Ihr müsst gleich vorn ablösen« und »Gewehr umhängen!«, »Ohne Tritt, marsch!«, kam es schon; am hellen Tage sollten wir ›vor‹. In einem Dorf (auf der Landkarte steht es noch) machten wir Rast. Kurz gab es den ersehnten ›Schlag‹ aus der Gulaschkanone und um 2 Uhr ›stand‹ das Reg[imen]t schon wieder. Sausend und fauchend schlugen Langrohrgranaten im Dorf rings ein. Aber noch in geschlossenem Bat(aillon] gings vorwärts. Doch mit des Geschickes Mächten ist kein ›langer‹ Bund zu flechten. Die feindl[ichen] Fesselballons winkten uns bald einen derben Willkommen-Gruß herüber in Gestalt kräftigen Sperrfeuers. In Gräben und hinter Böschungen suchten wir Deckung, sehnsüchtig unserer ›Villa Bombenfest‹ in Cerny gedenkend.

Bald rief es auch: »Sanitäter!« - und hier und auch dort..: »Sanitäter!« Die ersten Opfer der Somne waren erkoren. Unter a[nderem] trug man auch einen Leutnant mit zertrümmertem Bein an mir vorbei... (L[eutnant] ›H.‹ der 11. K[ompanie]).

Die Bilder von ›Verdun‹ begannen sich zu wiederholen. Als es düster wurde, ging’s weiter. An einem etwa 40m hohen, steilen, frischangeschütteten Abhange lagerten wir uns, bis es ›ruhiger wird‹. Schnell machte sich jeder ein Lager und mit übergezogener Zeltbahn sollten die übrigen Stunden bis zum Ablösen mit etwas ›Vorratsschlafen‹ ausgefüllt werden! Zusammengekauert saßen wir da. Ich selbst schlief auch ein.

Schreien und Krachen reißt mich aus meinem ermüdenden Halbdusel...: Eine Granate war gegenüber als Volltreffer in eine geschlossene Armierungsabteilung eingeschlagen und hatte grauenhaft gehaust --- Genug!

Ich sehe mich näher um: einer meiner Leute sitzt da und wiegt den ganzen Oberkörper wie im Schlafnicken auf und ab. »Trümper!«, rufe ich -- »August!« keine Antwort. --- Sein Nachbar ist unterdessen munter geworden und will ihn aufmuntern... aber: »er blutet ja!«. Mit einem Satz war ich heraus und: »Auf! Hier! Trümper ist ver­w[un­det]!«, rufe ich. In Wallnussgröße quoll Blut und Hirnmasse aus der linken Stirnfläche. Als wir ihn verbunden hatten und ich ihm auf seinen Wunsch hin ein ›Kopfkissen‹ in Gestalt einer Blechdose unter den schmerzenden Kopf auf der nasskalten Erde geschoben, kehrte das Bewusstsein etwas [wieder]. Auf meinen mehrmaligen Anruf schlug er stöhnend die Augen auf. »Wie geht es, August?« --- »Gut - gut«, flüsterte er mir zu. Ich wusste genug ---: die Seele schickte sich an zu gehen.

Wehmut würgte sich mir zur Kehle hinan! Der eine meiner ›alten‹ Kameraden war weggerissen – und ich dachte an seine Braut – seine liebe Käti am Neutor Nr: 3 in Mainz – oh! Vor kurzem noch hatte er mir von ihr erzählt und tiefgerührt geendet mit der tiefahnenden Bemerkung: »Wenn ich falle, dann stirbt die vor Kummer!«

Wieder sah ich, wie die Liebe vom Hasse mit eisernen Fuße zertreten ward!

Er starb auf dem Transport. Und unter einem Häuflein fremder Erde verscharrte der Krieg erbarmungslos ein hoffnungsvolles Leben; die Perle eines liebenden Frauenherzens wurde roh zertrümmert!

Müde und abgehetzt waren wir vorn angekommen. Vor dem letzten Aufbruch war noch einmal ›Parole‹. Unser Zugführer sagte uns: »Sagt allen Leuten, wie es ist: Die Trümmer von 6 Kompanien lösen wir ab! Der Feind geht systematisch vor nach dem Grundsatze: alles mit Artillerie einzudecken und mit der nachrückenden Infanterie zu besetzen. Wenn aus einem Loche noch ein paar Kerle schießen, gehen sie zurück und ihre Art[illerie] deckt erst wieder weiter zu usw. ... und die Verpflegung----?? --- usw. – usw.!«

Ich stutzte: »Das sagt Euer kalter Leutnant Winkler!?«, dachte ich. Oh weh!

Schnell wurde noch etwas gegraben und Deckung geschaffen. Seit etwa 3 Uhr nachts war Ruhe eingetreten. Grasbüsche, die sich hin und her fanden, wurden zusammengesucht und unsere Löcher damit etwas bestreut, um [am] nächsten Morgen die Flieger nicht sofort auf unsere Stellung aufmerksam zu machen. Als der Morgen dann dämmerte, gedachten wir auszuruhen.

Aber die Kollegen ›drüben‹ dachten anders. Die hatten schon ausgeruht. Jetzt begannen sie zu ›arbeiten‹. Und Schlag auf Schlag gingen bei uns ihre Geschosse nieder. Schwarmweise erschienen die Flieger. Bald mischten sich auch 38cm Geschütze in den Höllenlärm. Turmhoch stieg der kirchturmähnliche Kegel der aufgewühlten Erdmassen mit Bäumen und Menschen... um im nächsten Moment prasselnd ineinanderzufallen! – Genug auch davon!

Ich lag fest an die Wand meines Loches gepresst im Dreck, den Rücken mit dem Tornister, Kopf und Hals mit Mantel, Decke und Zeltbahn ›gedeckt‹. Die Beine standen ›frei‹ zur Verfügung. Augenblicke, in denen das Feuer etwas weggelegt war, etwas zurück und etwas seitlich usw., wurden benutzt, die Glieder zu recken – die Waffe nachzusehen usw. ... In einer solchen Pause hockte ich und machte meinen Spaten los, in der Hoffnung, ihn bald im Gefechte gebrauchen zu können! Ich probierte dabei aus, in welcher Lage er ›am besten zieht‹ - man am besten Schädel damit spalten kann, und ließ ihn einige Male so u[nd] so durch die Luft niedersausen. Als ich aufsehe, bemerke ich erst, dass mir unser Rittmeister bei meinen Versuchen zugeschaut hat... Er nickt mir lächelnd zu... und lacht--!

Um 1/2 2 Uhr am Mittag liegt wie mit einem Schlage das ganze Feuer der Front 2 bis 300 Meter zurück: »Alles fertigmachen!«, fliegt der Befehl durch die Reihen! Und wie erlöst atmet alles auf (alles, was noch lebt)! Ha, jetzt geht es los! Jetzt kommt die Quittung auf das lange Leiden im Trommelfeuer... und - ›sie sollens haben‹ - zwängt sich in verbissener Wut zwischen den Zähnen hervor. Und – sie kommen auch schon. Links im Wäldchen waren sie schon weit vorgekrochen. Aber geradeaus: --- welch ein Schauspiel.

Auf 6 bis 800 Meter kam die vorderste dünne Linie angeschritten (nicht gelaufen!). 50 m dahinter eine 2te -... und eine dritte! Dahinter kleine Häufchen von 8 bis 10 Mann im Felde zerstreut. Weiter zurück... 1km und mehr marschieren geschlossene Kompanien vor. Die Gewehre blinken im hellen Sonnenschein zu uns herüber... ein verblüffendes Schauspiel! So weit man sieht... überall marschieren Menschen... und alle mit dem Ziele: zu uns herüber. Mitten drein hauen unsere Granaten und Schrapnelle; die von uns geschossenen Leuchtkugeln haben uns schnell diese Hilfe gebracht; vielleicht auch meldeten unsere Flieger den Angriff schon. Und der war im Gange! Groß und breit! – so weit man sieht – eine Schlacht!

Und zaghaft ist der Gegner auch nicht! In ruhigem Schritt geht er, ungeachtet unseres Sperrfeuers zwischen Splitterregen und Pulverqualm vor. Er legt sich nicht hin, er läuft nicht... er geht vor! Das hatten wir noch nie gesehen. Das also war das Typische der Somne – Massenstürme! Aber allmählich hatte ich keine Zeit mehr zuzuschauen. Unsere Maschinengewehre ratterten schon einige Zeit. Nun nahte die Entscheidung: Der Feind kam allmählich auf Sturmnähe; die vorderen dünnen Linien hielten hinter einer kl[einen] Böschung an und ließen die hinteren erst aufschließen: gespannt zum Äußersten lagen wir im Anschlag:

Das Gewehr an der Backe – das Auge wie gebannt voraus – das Herz schlug zum Springen: da! – Jetzt!!!! Krachten die Schüsse auf der ganzen Linie noch ehe sie sich drüben ganz erhoben hatten. Zum Sturm waren sie aufgesprungen! Und wie ein Unwetter wogen sie heran! ... Doch ... aus hundert Läufen sprüht ihnen heißer Stahl entgegen von deutschem Auge kühl gezielt. Und auf 50m sind’s nur noch wenige... Zurück wieder hinter die Böschung, wo schon wieder frische Linien eingetroffen sind!... Und von neuem geht es vor... Wahnsinniges Beginnen! Zerschellt liegen die Stolzen am Boden... doch weiter stürmen die Tollkühnen... stürmen bis ½ 7 Uhr abends!... Genug...! Keiner kam bis zu uns!... oder doch?... da rechts drüben... beim Reg[imen]t 116... da sind sie ›drin‹!

»Wißler, decken Sie unsere re[chte] Flanke mit 2 Gruppen!« »Dalheimer, Sie haben die 2. Gr[uppe]?« »Jawohl«. »Nehmen Sie Ihre Leute, die erste Gruppe noch dabei, und gehen Sie... da hinüber... und decken Sie die r[echte] Flanke unseres Reg[iment]s... usw.« und sein warmer, abschiednehmender Blick streifte mich nochmals.

Schnell gebe ich meine Befehle zum Fertigmachen und dann mit erhobener Hand brülle ich in das Getöse hinein meinen letzten Befehl: »Mir folgen!« und mit einem Satz war ich oben im tosenden Trommelfeuer und sie folgten mir! 2 bis 3000m war ich meinem Riegelposten entgegengelaufen: da geht’s nicht mehr: ein Wink der Arme und meiner Braven springen alle zum ausruhen in Granatlöcher. Ich auch... aber noch habe ich keinen Boden unter mir, da schleuderts mich. Eine Granate war auf den Rand meines Trichters geschlagen... ein Knacken wie das Brechen eines dürren Ästchens höre ich in mir... und ahne... und als ich fühlen will...: wo? Da rinnt ein heißer Strom über die linke Schulter vom Rücken her herunter über die Brust... Blut! Meine beiden neuen Nachbarn schüttle ich: »Verbind mich!«... Aber das Trommelfeuer hatte ihnen die Selbstbeherrschung genommen!... Kurze Rast... dann zurück zur Komp[anie]! »Zembsch, verbinde mich!« »Wo?«... So!... »Dalh[eimer] machen Sie doch nicht so’n griesgrämiges Gesicht; Sie sind ja froh, dass Sie nach Hause kommen!«, meinte der Rittmeister. Ein Gruß noch und ich laufe...

laufe heimwärts... noch fass ichs nicht und laufe 8 km durchs Sperrfeuer am vielfachen Abgrund vorbei... Dann versagen die Kräfte: ein Auto hilft jetzt... und... Lazarettzug! Wie heimisch das klingt! Und nachts um 2 Uhr sind wir in Dortmund! – oh Heimat!

Mein Großvater war nach dem Zweiten Weltkrieg als Ingenieur in der Lokomotivenfabrik ›Jung‹ im Siegerland beschäftigt. Als diese Fabrik in den 50er Jahren mit der Produktion von Teilen von Panzern begann, weigerte er sich, als junger Soldat gezeichnet vom Ersten Weltkrieg und dem Sterben seines 21jährigen Sohnes als Soldat kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die Direktion der Panzerbauabteilung zu übernehmen – was für ihn noch einmal einen beruflichen Aufstieg bedeutet hätte –, weil er sich nicht an der Kriegswaffenproduktion beteiligen wollte.

Auf diesen Großvater bin ich stolz!

 

Thomas Auchter, Psychoanalytiker, Aachen