Fußball spielen hat ziemlich viel mit der Psyche zu tun; ein Fußballspiel anschauen auch. Es geht dabei weniger um den Verstand als vielmehr um Emotionen, sowohl beim spielenden und zuschauenden Individuum als auch bei der Masse. Seit Freud’s Analyse von 1921 (Massenpsychologie und Ich-Analyse), die er am Beispiel der Institutionen Kirche und Militär durchführte, müssten wir eigentlich wissen, welche Dynamik zwischen Individuum und Masse entsteht und wie sich das Individuum in der Masse regressiv verändert. Dieses Wissen hat uns aber vor der Massenpsychose des Naziterrors nicht bewahren können.
Wenn der Kopf nicht frei ist und die Mannschaft ein System nach Willen des Trainers spielen muss, das individuelle und kreative Wünsche unterdrückt, kann ein ängstliches Quergekicke ohne Biss und Zug zum gegnerischen Tor herauskommen. Auf den Biss werde ich später eingehen. Manchmal scheint der Ball eine heiße Kartoffel zu sein, die der Spieler schnell weitergibt, da er sich nicht verbrennen will. Neben der Psyche spielt die Physis eine entscheidende Rolle; sie nützt aber nichts, wenn der körperlich fitte Spieler seine „Leistung mental nicht abrufen kann“ (Spielerjargon). Wissenschaftlich gesichert ist, dass der Spiegel des männlichen Hormons Testosteron bei den Spielern vor und während des Spiels gesteigert ist, beim Sieger weiter erhöht bleibt, während er beim Verlierer abfällt. Der Verlierer fühlt sich temporäre kastriert (Testosteron kommt nicht umsonst von Testis: Hoden).
Ein gutes Spiel dürfte ein Kompromiss zwischen dem Teamgeist der Mannschaft als Gruppe und der individuellen Kompetenz der Spieler sein, die die Initiative ergreifen und auch das Risiko eingehen, sich zu blamieren. Ferner, dass das die gegnerische Mannschaft auch nicht gut drauf und Fortuna der eigenen Mannschaft freundlich zugeneigt ist; oft kommt aber zu allem Unglück auch noch das Pech hinzu.
Auch das Zuschauen beim Fußballspiel ist eine hoch emotionale Angelegenheit. Es sterben Zuschauer gelegentlich durch Herzinfarkt oder Hirnblutung, weil ihr Vegetativum, genauer der Sympathikus, so heftig abgeht, als ginge es darum, um das eigene Leben zu kämpfen und vor dem Tod zu fliehen.
Ein Fußballspiel alleine anzuschauen macht deutlich weniger Spaß als in einer Gruppe von Freunden oder in einer anonymen Masse; da sitzen die Emotionen, insbesondere lustvolle Erwartung, Freude, Wut, Aggressionen und Trauer, besonders locker und werden heftig kommuniziert. Es ist undenkbar, dass es beim Fußballschauen so staubtrocken und wortkarg zugeht, wie in einer Skatrunde.
Fußball vor dem TV, im „Public Viewing“ oder life im Stadion sind Stufen der emotionalen Nähe und Identifikation, so als stünde der Fan selbst auf dem Platz und werde von einem Gegner unfair von hinten abgeräumt, was uns selbst sogar beim Zuschauen wirklich wehtun kann - wie die Theorie der Spiegelneurone lehrt. Viele Fußballfans (Fan kommt etymologisch von Fanatiker) ziehen vor dem Fernsehapparat das Trikot ihres geliebten Vereins oder Stars an, um dem Geschehen besonders hautnahe zu sein. Magisches Denken greift Raum; ein Fan des FC St. Pauli sagte mir, dass seine Mannschaft dann besser spiele, wenn er das Totenkopf-Hemd oder den Schal des Vereins auf dem Sofa trägt. Einige lateinamerikanische Spieler der WM betreten mit Kusshand das Spielfeld und bekreuzigen sich und tun desgleichen, wenn sie es wie eine Kathedrale verlassen. Die Götter sollen mit uns sein.
Die Selbstdarstellung der Zuschauer mit bunten Hütchen oder martialischer Kriegsbemalung bei der WM sind Teil der kollektiven Inszenierung, Identifizierung, des Voyeurismus und Exhibitionismus; es sind Partialtriebe, die später das Bündel der reifen Sexualität ergeben. Da steckt eine Menge Lust (Libido) und Angstlust (engl. thrill) drin. Vielleicht reagierte Mertesacker, der wie ein Berserker gekämpft hatte, im Interview nach dem trögen Algerienspiel deswegen so gereizt mit der Gegenfrage: „Glauben Sie, unter den letzten 16 ist irgendwie eine Karnevalstruppe?"
Gegenüber anderen Sportarten hat Fußball eine besondere Dynamik: Es geht darum, einen Gegner im Kampf durch schnelles Laufen, Springen und Treten zu besiegen.
Gegenüber Handball, Tischtennis oder Boxen ist Fußball grobmotorisch und es werden archaische Kräfte freigesetzt. In seinen britischen Ursprüngen war Fußball noch ein wildes, regelloses Massenphänomen über Stock und Stein, Spieler und Zuschauer waren eins. Der gezähmte Fußball teilt heute die Akteure in Spieler und Zuschauer und evoziert als Mannschaftssportart vor einem Massenpublikum auch archaische Emotionen, insbesondere Aggressionen (aggredi lat.: angreifen), die dadurch besonders gut ausgelebt werden können, da sie in einem System von Spielregeln, Grenzen und Strafen auf dem Rasen ausgelebt werden können. Der Fan lässt seine Mannschaft gegen eine andere Mannschaft und Zuschauermasse kämpfen. Das geht besonders gut, da sich zwei emotional aufgeladene Massen gegenüber stehen, für die die Akteure auf dem Rasen „Ersatzschlachten“ liefern. Militärisches Vokabular findet sich in den Kommentaren zuhauf. Mancher Psychoanalytiker verglich die unbewusste Bedeutung von Fußballenspielen mit Ersatzkriegen und hat als Spielverderber und Spaßverderber die gelbe Karte gezeigt bekommen.
Besonders beliebt und aufgeladen sind Spiele gegen bestimmte Lieblings- oder Hassgegner wie England-Deutschland, Deutschland-Holland, was bei der WM im Endspiel hätte passieren können, oder ein Lokalderby von Dortmund-Schalke oder früher Frankfurt-Offenbach. Freud nannte dieses Phänomen der Lokalrivalitäten den „Narzissmus der kleinen Differenz“ (1930); es geht letztlich um eine Rivalität unter Geschwistern.
Fußball ist die erlaubte Regression in einer Gruppe und Masse. Während sich der arme Spieler in der Regel z.B. dem Gegner und dem Schiedsrichter gegenüber sehr zusammennehmen muss, kann der Fan verbal und szenisch quasi die Sau rauslassen: Erwachsenen Menschen benehmen sich auf der Tribüne ziemlich wenig erwachsen, dafür leidenschaftlich und auffällig regressiv - und das Ganze macht auch noch riesigen Spaß!
Unter Regression verstehen Psychoanalytiker das Zurückschreiten auf frühere, meist infantile Zustände des Erlebens und Verhaltens, insbesondere des Denkens und der Gefühle. Wir reagieren dann wie ein 3-Jähriger Trotzkopf mit einem Wutanfall und treten jemandem ans Schienbein. Das kann sich in einem Frustfoul äußern.
Eine neue Qualität ist der Impulsdurchbruch und Kontrollverlust von Luis Suáres im Team von Uruguay: Er hat seinem Gegner, der ihn ausgetrickst hatte, wie ein Hund in die Schulter gebissen und sich dann theatralisch fallen lassen, als hätte er die Zähne ausgeschlagen bekommen. Meine Hypothese ist, da Suáres diesen Kontrollverlust und das regressive Verhalten wohl mehrfach gezeigt hat, dass er als kleiner Bub Ärger und Wut durch Beißen zum Ausdruck gebracht hat, was bei Kleinkindern nicht so selten ist; sie müssen die sozialen Spielregeln der Triebkontrolle und ihren Ärger verbalisieren lernen. Suáres war offenbar auf ein kindliches Niveau regrediert und darf daher eine Zeitlang nicht mitspielen. Interessant sind auch die heischenden Blick zum Schiedsrichter, die sagen wollen: „Papa, Er hat mich gefoult, bestrafe ihn!“ Der Blick gilt auch den eigenen Fans, die die Strafe lautstark einfordern.
Was geht in der Gruppe und Masse und in uns als Zuschauer und Fan vor? Unser Es, verantwortlich für die dialektischen Triebe Libido und Destrudo, hat Oberwasser, besonders die Aggressionen als Teil der Destrudo. Das Über-Ich, das Gewissen ist geschrumpft, was auch die Kontrollverluste über die aggressiven Triebäußerungen erklärt. Das Ich arbeitet hinsichtlich Wahrnehmungs- und Denkfunktionen anders; durch den Sog der Masse, die Identifikation mit der Mannschaft wird das Selbstwertgefühl (Narzissmus) regelrecht aufgepumpt, besonders wenn „wir gewonnen haben“ oder „Wir sind Weltmeister!“ Das Individuum verschmilzt situativ mit der Masse, geht in ihr auf, aber auch unter.
Nun, bis das Ziel „Wir sind Weltmeister“ erreicht ist, müssen Spieler und Fans noch viele regressive Momente durchleiden und genießen. Nach dem Massenhype der WM folgt die Phase des kalten Entzugs, vielleicht der Trauer oder gar eine depressive Episode je nach Spielausgang. Aber der Start der Bundesliga ist da ein Hoffnungsstreif am Horizont. Das Spiel geht weiter und die Hoffnung stirbt zuletzt.
Matthias Elzer ist Psychoanalytiker, Vorsitzender des „Frankfurter Psychoanalytischen Institut“ (FPI) und spielte in jungen Jahren als Linksaußen Fußball.
Kontakt: m.elzer(at)t-online.de