Thomas Vogt: Was wird aus dem Symptom, wenn die Störung beseitigt wird?

 

 

Der Gesetzgeber hat allen im Gesundheitswesen tätigen Psychotherapeuten die Anwendung des ICD, International Statistical Classification of Diseases, ein objektivierendes, störungsdefiniertes Manual zur Diagnosefindung, zwingend vorgeschrieben. Für die Psychoanalyse ist dies methodologisch problematisch, da bei ihr Momente der Subjektivität und der individuellen Bedeutung der Symptomatik eine wesentliche Rolle spielen. War es doch gerade Freud, der durch einen spektakulären Paradigmenwechsel die Behandlung von seelischen Erkrankungen dahingehend veränderte, dass er die Patienten mit ihren Störungen ausgiebig zu Wort kommen ließ, und aus dem so Gehörten mehr über die Hintergründe der Erkrankung erfuhr und daraus eine Behandlungstechnik, die Psychoanalyse, entwickelte.

Mich hat die Frage beschäftigt, welche Folgen es haben könnte, wenn ein Analytiker, zumindest am Anfang einer Behandlung, sich gezwungen sieht, eine objektivierende, deskriptive Haltung einzunehmen und die beklagte Symptomatik in ihrer objektivierbaren Erscheinungsweise, im Manual Störung genannt, in einer, dem analytischen Denken fremden Logik, systematisch verortet und sich eventuell verführt sieht, aus dieser Perspektive mit dem Patienten zu sprechen. Besteht dabei nicht die Gefahr, dass diese vordergründig logische Erklärung dazu führen könnte, beim Patienten wie beim Analytiker Mund und Ohren zu verschließen? Kurz gesagt, dass wir uns damit das Handwerkszeug vermasseln, wenn kaum mehr eine Frage nach dem verborgenen Sinn, dem Unbewussten, aufkommt – und somit dem Widerstand in die Hände arbeiten?

Nicht wenige unserer Kollegen liebäugeln mit Hilfskonstruktionen aus dieser Logik- sei es aus dem Hause der Neuromedizin oder der Verhaltenstherapie. Freuds Ansatz und sein Krankheitsbegriff jedoch widersprechen dieser neoliberalen Sichtweise, die dem Einzelnen ganz ausschließlich die Verantwortung und die Last der Sozialisation aufgebürdet hat.

Ganz allgemein versteht man unter einem Symptom ein erkennbares Phänomen, das sich auf eine dahinter liegende Ursache bezieht, die nicht direkt wahrnehmbar ist, auf die aber indirekt geschlossen wird. So kann in der Medizin eine exzessive Vermehrung der weißen Blutkörperchen ein Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung, einer Leukämie, sein. Angstzustände können sowohl Symptom eines bedrohlichen Absinkens des Blutzuckerspiegels, etwa als Folge einer hormonellen Erkrankung sein, oder auch Symptom eines bewussten oder unbewussten Konflikts im Rahmen einer bestehenden sozialen Phobie.

Seit über 100 Jahren sehen Psychoanalytiker bei seelischen Erkrankungen im Symptom einerseits das Ergebnis einzelner, gegensätzlicher Antriebe eines bewussten bzw. unbewussten Konflikts oder die teilweise entstellte Darstellung einer libidinösen Wunscherfüllung (6).Das Symptom gilt dabei nach Freud als mehrfach determiniert, wobei das Subjekt nicht nur die Auswirkung des Symptoms erleidet, sondern die Symptom-Äußerung, im Manual jetzt Störung genannt, wird auch vom Subjekt aktiv hervorgebracht(11).

Das Subjekt, um das es in der Psychoanalyse geht, ist weder mit der Person noch mit dem Individuum gleichzusetzen. Das Konzept eines erzählenden und sich reflektierenden Ichs wurde, gründend auf den Theorien Freuds, der dessen Ursprung ins Unbewusste verlegte (12) von Lacan(7) weiter ausgearbeitet. Für ihn ist das Subjekt ein Effekt der Sprache, wobei das Subjekt gespalten ist in das Subjekt der Aussage und des Aussagens. Das Symptom im analytischen Sinn (wenigstens bei Lacan) ist kein reines Symbol, das auf etwas anderes verweisen würde. Es besitzt keine universelle Bedeutung, sondern ist das Produkt der einzigartigen Geschichte eines spezifischen Subjekts und enthält einen sich jeder Symbolisierung entziehenden Kern, der wie ein unentwegter Fremdkörper bestehen bleibt(8). Entscheidend ist dabei nicht, dass dem Symptom eine bestimmte Bedeutung abgesprochen wird. Wichtig ist vielmehr: das Subjekt, das reflektierende Ich, ist der Sprache und deren Verankerung im persönlichen und gesellschaftlichen Kontext unterworfen. (14).

Wenn man fragt, was aus dem Subjekt wird, wenn die Störung, - als eine Manifestation des Symptoms- objektiviert und evtl. beseitigt wird - wird eine besorgniserweckende Tendenz deutlich, welche man derzeit sowohl im Gesundheitswesen als auch in der wissenschaftlichen Forschung beobachten kann. Ich möchte hier zeigen, welche Folgen die implizierte Tendenz zur Objektivierung des Seelenlebens mit der inhärenten Folge zur Negierung der jeweils individuellen Geschichte für den Einzelnen und das Gemeinwesen haben können. Anders gesagt, was kann es bedeuten, wenn das Seelenleben des Menschen systematisch auf eine gestörte Physiologie und neuerdings auch Neurobiologie reduziert wird.

In der Zeitschrift „Der Nervenarzt“ (1), konnte man es schon vor vielen Jahren lesen: „Psychische Störungen werden zunehmend Gehirnfunktionsstörungen und unterscheiden sich nicht mehr grundsätzlich von anderen ZNS-Erkrankungen. Die der Psychiatrie zugeordneten Störungen des Verhaltens und Erlebens werden zunehmend zu Gehirnerkrankungen und rücken in die Nähe zu neurologischen ZNS-Erkrankungen“. Und weiter: „Konzepte wie Psychogenese werden folglich fragwürdig und eignen sich nicht mehr zur Kennzeichnung der größten Gruppe von psychischen Störungen.“

Lange Zeit galt in der Medizin das klassische Leib- Seele-Modell als Erklärungsansatz. Danach handelt es sich um zwei aufeinander nicht reduzierbare Systeme, die allenfalls in Modellen, wie etwa dem der Psychosomatik, dialektisch in Beziehung gesetzt werden konnten. In neuerer Zeit wird jetzt der Versuch unternommen, diese Dialektik aufzulösen.

Flankiert durch immer bessere Nachweisverfahren von biologischen und funktionellen Störungen, wurde 1999 ein von der WHO inauguriertes, weltweites Krankheitsmodell eingeführt, das eine einheitliche Beschreibung sämtlicher Erkrankungen umfasst. Alle Ärzte und Therapeuten, die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, wurden verpflichtet, Diagnosen nach dem Schlüssel der ICD-Klassifikation mitzuteilen. Das beabsichtigte Ziel dieses Manuals ist es, die Diagnostik der psychischen Störungen möglichst reproduzierbar und objektivierbar zu machen. So sollte der ICD, der mit kleinen Abweichungen dem aus Amerika stammenden DSM entspricht, möglich machen, dass unterschiedliche Therapeuten bei dem gleichen Patienten, unabhängig voneinander, zuverlässig die gleiche Diagnose treffen können. Auf diese Weise sollten Diagnose und Behandlung vergleichbar und verbessert werden. In beiden Diagnosesystemen wird definiert und festgelegt, welche psychischen Störungen bei einem Menschen als abweichend von einer Norm diagnostiziert werden und pathologische Bedeutungen besitzen. Eine implizit wertende Zuordnung in richtig gegen falsch, gesund gegen krank, kann dabei nicht ausbleiben.

Dieses Manual stellt also eine Objektivierung von Krankheitsfällen dar, die nun mengenmäßig vergleichbar und statistisch gut zu verwalten sind. Vor allem stellen sie, aus einer ökonomischen Perspektive , für die Pharmaindustrie ein Angebot dar, sich durch Indikation einer störungsbezogenen Medikation einen Riesenmarkt in der Zukunft zu erschließen.

Dies wird umso problematischer, da die beschriebene Art der Diagnosestellung eine bewertende Darstellung der Denkleistung und Gefühlsinhalte bedeutet, denen eine zentrale Bedeutung für Individualität und Subjektivität des Patienten zukommt.

In seinem Buch“ Verdacht auf Psyche“ (2), schreibt der Universitätspsychiater Spitzer schon 2003 , auf welchem Stand der Debatte sich die Neurowissenschaft in dieser Hinsicht befindet: “Mit der Einführung des DSM („Diagnostic and statistical manual of mental disorders“) im Jahr 1980 wurde auch in der Psychiatrie mit Mythen aufgeräumt. Es sollte klar werden, um es mit Jaspers zu formulieren, was man weiß, wie man es weiß und was man nicht weiß. … Welche Modelle seelischer Erkrankung gibt es? Auf Engel geht das bio-psycho-soziale Modell psychischer Krankheit zurück, d. h., die Auffassung, dass seelisches Leiden weder rein seelisch noch rein biologisch, noch rein sozial zu verstehen ist. Dies war vor mehr als zwei Jahrzehnten sicherlich ein Fortschritt und trug dazu bei, zwischen den sich bekämpfenden dogmatischen Schulen der biologischen Psychiater, der Sozialpsychiater und der vor allem psychotherapeutisch arbeitenden Kollegen zu vermitteln. Diese missliche Situation hat sich geändert“, so Spitzer weiter: „Wir wissen, dass und wie die Biologie des Gehirns auf die Psychologie, d. h., unsere subjektiven Erfahrungen, wirkt, und wie die Erfahrungen umgekehrt die Biologie beeinflussen“.

Nach der Definition der WHO (Weltgesundheitsorganisation) ist Gesundheit definiert als „das vollkommene physische, psychische und soziale Wohlbefinden“. Damit bezieht sich die Weltgesundheitsorganisation auf eine Norm, deren Abweichung, im Manual „Störung“ genannt, krankheitswertige Bedeutung zukommt. Da mit solcher Art Störung ein sehr großer Teil der Bevölkerung akut oder dauernd zu tun hat, kann man sich fragen, ob diese objektivierende Haltung und Kennzeichnung der Sache angemessen ist. Ob mit dieser Einteilung, bei der wie in anderen Wissenschaften etwas exakt zählbar, messbar, prüfbar sein soll, bei der sich etwas objektivieren und konstruieren lässt, jemandem gedient ist? Oder im Gegenteil, ob nicht das den Ausgangspunkt darstellt, von dem aus immer neue, beliebig anmutende, willkürliche Krankheitsbegriffe geschaffen werden können (s. Spiegel 21.1.13 – Vorabdruck des im Mai 2013 erscheinenden DSM-5)? Den subjektiven Faktoren der Persönlichkeit, dem eigenen Wahrnehmen, dem Wissen und Wollen des Menschen, wird damit in keiner Weise Rechnung getragen. Alles Besondere, Unberechenbare, Einmalige oder Zufällige bleibt ausgeklammert. Wie in einem Feuilleton der FAZ (.2013) vermerkt wird, betreibt man die Vermessung der Person, ohne sie wirklich zu verstehen. Die persönliche Freiheit und Verantwortung des Einzelnen wird durch Deklaration von Normbefunden überdeckt und unterlaufen. Individuellen Entscheidungen wird misstraut und stattdessen wird auf eine rigorose Anwendung http://de.wikipedia.org/wiki/Moralhttp://de.wikipedia.org/wiki/Moralnormativer Standards gesetzt. Der Preis für die Perfektionierung dieser objektiven Methode ist eine Verengung des Gesichtsfeldes, wobei die Person wie ein genormtes, ausschließlich biologisch funktionierendes System behandelt wird.

In der Folge kann man die Tendenz beobachten, dass bei den ursprünglich klassischen, seelischen Symptomen wie Erschöpfung nach längeren Belastungssituationen, Zuständen der Antriebslosigkeit und des Lebensüberdrusses bei unlösbaren Konflikten, Ängsten vor Leistungsversagen und allerlei Funktionsstörungen, ohne nach den Ursachen im Lebensvollzug zu fragen, die Betonung mehr oder weniger ausschließlich auf den gestörten Transmitterhaushalt im Gehirn gelegt wird und auf diese Weise wie unbeabsichtigt, aus seelischen Krankheiten Hirnstoffwechselkrankheiten entstehen, indem man nur allzu schnell allein auf die gestörte Physiologie oder Neurobiologie zielt.

Objektive Auffälligkeiten der biologischen Messwerte lassen sich in der Tat bei vielen psychischen Störungsbildern finden. Besonders eindrucksvoll sind Veränderungen des Gehirnstoffwechsels, die sich seit einigen Jahren mittels moderner bildgebender Darstellung der Gehirnaktivität sichtbar machen lassen. Abnorme biologische Befunde, z. B. bei Depressionen, haben in letzten Jahren bei Vertretern einer biologistisch und genetisch deterministisch orientierten Medizin und insbesondere bei maßgeblichen Vertretern der deutschen Psychiatrie zu bizarren Schlussfolgerungen geführt, wenn die gestörte Physiologie oder Biologie kurzerhand zur Ursache der Störung umgedeutet wurde..

Dem gegenüber zitiert Bauer (4) eine Reihe von Autoren, die nachweisen, dass am Anfang der meisten psychischen Störungen, situative, subjektive Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erlebnisse stehen, die sich dann mit der Zeit als biologisch-chemisch nachweisbare Folgen im biologischen Organismus niederschlagen. Wenn man davon ausgeht, dass diese subjektiven Wahrnehmungen, Erfahrungen und Erlebnisse ihre Rolle als ursächlich behalten, so stellt sich die Frage, was aus diesen - auch unbewussten - Antrieben wird, die das Symptom hervorbringen, wenn die Symptomatik als Störung objektiviert, behandelt und beseitigt wird. Diesbezüglich sind die Ergebnisse der psychopharmakologischen Forschung in den letzten Jahren erstaunlich. Erregende Affekte werden abgepuffert, wahnhafte, irreale Vorstellungen und Überzeugungen durch Neuroleptika unterdrückt. Aber – abgesehen von Nebenwirkungen und ohne die Anwendung dieser Medikamente grundsätzlich in Frage stellen zu wollen – wissen wir wirklich, was wir mit diesen Mitteln auf Dauer bewirken? Sind unsere Absichten als Behandelnde, unsere Vorstellungen von den Auswirkungen, nicht manchmal eher Selbsttäuschungen? Entsprechen unsere Vorstellungen denen der Menschen, die wir mit diesen Mitteln behandeln? Verwechseln wir dabei nicht ständig Begriffe wie „Tatsache“, „Bedeutung“, “Wirkung“ und „Wahrheit“? Täuschen wir uns nicht selbst, wenn wir, ablesbar an diesem oder jenem Parameter, den wir erfassen, meinen heilend einzugreifen?

Wurden früher bei der Diagnosestellung die Äußerungen des Patienten hinsichtlich der Ätiologie psychiatrischer, psychosomatischer oder neurosenpsychologischer Krankheitsentstehung untersucht, so beschränken sich heutzutage die Erwartungen an die Äußerung der Kranken vielerorts darauf, über ihre Störungen detailliert zu berichten und so eine „objektiv beschreibbare“ Symptomatik in einem normativen Konzept zu liefern.

War ursprünglich der Therapeut der fragende, zu verstehen suchende Zuhörer, der es dem Patienten mit seiner professionellen Aufmerksamkeit ermöglicht hatte, in dem beklagten Symptom einen Ausdruck einer von ihm nicht anders zu bewältigenden Konfliktlage zu erkennen, so verstummt jetzt der Patient schon bald, nachdem er vom Therapeuten gehört hat, an welcher Störung er leidet und überlässt ihm das weitere Vorgehen. Um es noch einmal pointierter zu formulieren: Aus der Frage des um Rat und Hilfe suchenden Patienten wird die Antwort des angeblich wissenden Therapeuten, der, gestützt auf Definitionen und Manuale, aus seiner Sicht einer gestörten Körperfunktion ein Behandlungskonzept ableitet. Kaum jemand macht sich da noch die Mühe, lange bei der Sicht des Patienten zu bleiben und zu fragen, wie etwas angefangen hat und was es dem Patienten bedeutet. Immer mehr wird nicht die Ursache der Symptomatik, sondern die Störung selbst Mittelpunkt des therapeutischen Handelns. Damit wird nicht mehr aus der Sicht des Patienten sondern aus der des Therapeuten gehandelt. Der Patient wird zum reinen Behandlungsobjekt.

Ein Beispiel aus dem therapeutischen Alltag soll zeigen, wie die Anwendung dieser Manuale in die Behandlung der Patienten eingreift und die Position des Patienten und die des Therapeuten verändert.

Ein 46 jähriger, beruflich erfolgreicher Mann, der sich jahrelang über seine Kräfte verausgabt hatte um mit dem vielen Geld, das er verdiente, seiner Frau zu imponieren, geriet, als er dennoch verlassen wurde, in eine schwere depressive Krise. Erstversorgung beim Hausarzt, dann einem Psychiater. Diagnose nach ICD-10: Depressive Störung nach 32.2.; Anamneseerhebung und Krankschreibung mit Rezeptur eines Antidepressivums. Als sich wochenlang keine Besserung zeigte, der Patient auch die einfachsten Tätigkeiten nicht mehr ausüben konnte und immer tiefer in eine depressive – schließlich suizidale Krise geriet, tagelang grübelte, ob er denn anderen Menschen überhaupt noch etwas wert sei, erfolgte die Vorstellung in einer psychotherapeutischen Ambulanz.

Ganz offensichtlich waren sämtliche Störungen nach ICD-10 Ziffer 32. 2 - definitionsgemäß einer mittelgradig bis schwerer depressiven Episode - vorhanden (5).Dazu gehört, ich zähle jetzt auf: „Die betreffende Person leidet gewöhnlich unter einer gedrückten Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit und einer Verminderung des Antriebs. Die Verminderung der Energie führt zu erhöhter Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung. Deutliche Müdigkeit tritt oft nach nur kleinen Anstrengungen auf.“ Dann wird noch aufgezählt: „Verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, herabgesetztes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, Schuldgefühle und Gefühle von Wertlosigkeit.“ Weiter können vorkommen: „Negative und pessimistische Zukunftsperspektiven, eventuell Suizidgedanken, Schlaflosigkeit und ein verminderter Appetit“. Soweit der ICD. –Man kann dazu nur feststellen: Trifft ganz genau-.

Ich frage, wem soll dieser Katalog von Störungen nützen? Was tun wir dem Patienten an, wenn wir ihm zu verstehen geben, dass wir sein Leiden so verstehen? Was bedeuten eine solche, störungsdefinierte Diagnose, solche Begriffe für den Patienten? Was bedeutet es für ihn, wenn er sich so betrachtet sieht? Muss er da nicht den Eindruck bekommen, dass der Therapeut von ihm selbst gar nichts wissen will? Stattdessen nimmt er wahr, wie sich der Therapeut für alles Mögliche – für das dem Patienten in der Regel die Vorstellung fehlt - interessiert: Ob er für irgendetwas eine genetische Disposition hat? Ob Vorgänge im Hypothalamus, im limbischen System nicht so funktionieren wie sie sollten? Vielleicht eine elektrische oder eine magnetresonanztomographisch darstellbare abnorme Aktivität im Frontlappen oder Seitenlappen vorherrscht? Oder gar ein Defekt in der Neurotransmission vorliegt und eine Zytokinase schneller oder langsamer arbeitet?

Bei diesen Fragen kann es nicht um ein Entweder-Oder gehen. Die Neurobiologie hat ihren Platz in der Wissenschaft. Genauso selbstverständlich sollte aber im Kontakt mit dem Menschen die Symptomatik als Hinweis auf deren individuelle Bedeutung dienen. Ohne Kontakt mit der Selbstsicht und dem Selbstempfinden des Patienten , also der Frage wie der Patient sich und seine Beschwerden versteht und empfindet, was sie ihm bedeuten und welchen Sinn das alles für ihn haben könnte, wird zumeist keine dauerhafte Besserung eintreten. Bei seelischen Erkrankungen vermittelt eine von außen gesetzte Erklärung oder Definition durch Wirkmechanismen biologischer, pharmakologischer Art dem Patienten nur kurzzeitige Erleichterung. Nur allzu oft stellen sich aufgezwungene Konzepte als unwirksam heraus Eine von außen durchgeführte Behandlung, nach den Vorstellungen des Therapeuten, muss ins Leere gehen.

Natürlich erleben wir auch wie Patienten sich nur allzu gerne von der Autorität des Therapeuten leiten lassen, ihn geradezu bedrängen, dass dieser mit seinem ihm unterstellten Wissen die Behandlung führt. Wenn diese aber immer wieder scheitert, kein verordnetes Konzept (oder Rezept) helfen will, der Patient andere, immer neue Symptome entwickelt, so werden wir doch an den Säugling erinnert, dem die Mutter bei jedem Schrei einen Schnuller in den Mund steckt in der Absicht, ihn zu beruhigen, ihn zum Schweigen zu bringen. Irgendwann werden diese Menschen dann vielleicht „bulimische“ Subjekte, suchen und glauben alle Befriedigung im Essen zu finden. Sie sind unfähig, in der Spannung des Begehrens und im Appell an Andere etwas anderes zu suchen als die Gabe der Beruhigung. Damit haben sie auch keine Möglichkeit, etwas anderes, Neues zu finden, zu erfinden, etwas was ihren Bedürfnissen mehr entsprechen könnte.

Diese Menschen bleiben sich selbst fremd und verschlossen, süchtig nach etwas, wofür sie selbst keine Worte finden; gefesselt an das Suchtmittel, das nicht mehr befriedigt. Aber sie hören nicht auf, andere zu bedrängen, noch immer Neues, Anderes zu versuchen.

Das methodische Vorgehen in der Psychoanalyse räumt im Gegensatz dazu dem sprechenden Subjekt einen zentralen Platz ein. Es ist ein Vorgehen, das gänzlich anderen Parametern folgt als die naturwissenschaftliche Sicht der Medizin oder der Neurowissenschaften.

In der Psychoanalyse entsteht durch die assoziative Rede des Analysanden ein Text, der situativ einmalig und höchst persönlich ist. In der analytischen Kur wird also keine Wahrheit a priori freigelegt, sondern sie entsteht erst im Diskurs des Sprechens in der Analyse, das vom Begehren des Sprechenden getragen ist. Es bedarf dieses anwesenden Zuhörers, an den sich die verhüllte Botschaft richtet. So wird im Hören des Analytikers beim sprechenden Subjekt eine Spaltung erzeugt, bei der sich das Subjekt der Aussage vom Subjekt des Aussagens trennen lässt. Dazu bemerkt Lacan(9): „Das was ich in meiner Sprache suche, ist die Antwort des anderen. Das was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage um mich wiedererkennen zu lassen im Anderen“. Dies ist nichts anderes als eine striktere Formulierung der Liebe in Platos Gastmahl, die der Philosoph Marsilio Ficino in seinem Buch „Über die Liebe oder Platons Gastmahl“ definiert, indem er in der Liebe von einem Sterben eines Jeden spricht, der seiner selbst vergessend nicht mehr an sich sondern an den Anderen denkt: „Indem ich dich liebe, der du mich liebst, finde ich in dir ,der du an mich denkst, mich wieder und gewinne mich, nachdem ich mich selbst aufgab in dir , der du mich erhältst, zurück“(20)

Wenn Lacan(8) das Unbewusste mit der Sprache im Saussure´schen Sinne in Analogie setzte, dann steht für ihn auch fest, dass es nicht nur jenseits der Zeit, sondern auch außerhalb des Raumes liegt. Damit wendet er sich nicht nur gegen Versuche ( der Neuromedizin), den Sitz des Unbewussten im Körper ausfindig zu machen, sondern auch dagegen, die zahlreichen differentiellen Elemente, aus denen es zusammengesetzt ist, in die Psyche eines einzelnen Individuums zu zwängen. Für ihn ist das Unbewusste eine von vielen Einzelnen geteilte „überindividuelle“, d.h. soziale Entität. Und da wären wir wieder zurück bei Freud.

Hatte Freud noch das Objekt hauptsächlich als das definiert, wodurch der Trieb sein Ziel findet, also das, was jemand braucht, um zufrieden zu sein, so hat Lacan demgegenüber einen erweiterten Ansatz entwickelt. Er kritisiert an der klassischen Objektbeziehungstheorie vor allem die Betonung darauf, “ dass das Objekt zuallererst ein Objekt der Befriedigung ist“(4) und unterscheidet konsequent zwischen Anspruch und Bedürfnis. Das Bedürfnis ist für ihn ein rein biologisches Verlangen, das mit den Bedürfnissen des Organismus zusammenhängt und das bei entsprechender Befriedigung abklingt.

Die Präsens des Anderen führt aber über die Bedürfnisbefriedigung hinaus zu einer Präsenz als Symbol der Liebe und Zuwendung dieses Anderen. Wenn der Andere auch die Dinge des Bedürfnisses besorgen kann, kann er doch die vollkommene Liebe, nach der sich das Subjekt sehnt, nicht geben. Es bleibt immer eine Lücke, ein Mangel übrig. Mit anderen Worten: Sind die Bedürfnisse des Anspruchs befriedigt, bleibt der andere Teil des Anspruchs bestehen, nämlich die Sehnsucht nach Liebe als Ausdruck, eines Verlangens, beim anderen das zu finden, was ihm selbst fehlt. Diesen unzerstörbaren Teil des Anspruchs, diesen bleibenden Rest, nennt Lacan das Begehren.

Das Begehren wird dadurch zum „Überschuss“, der in der Artikulation des Bedürfnisses entsteht. Anders als das Bedürfnis, - das befriedigt werden kann, jedenfalls für eine Zeit lang, bis es wieder entsteht , - kann das Begehren nicht befriedigt werden. Es übt einen mehr oder weniger beständigen Druck aus. So ist die Verwirklichung des Begehrens nicht dessen Erfüllung, sondern das immer neue Erzeugen von Begehren selbst.

Mit anderen Worten: Wenn der Therapeut bei der Objektivierung einer Störung etwas definiert, was dem Patienten fehlt, so wird dieses Etwas mit dem Objekt der Biologie verwechselt und vernachlässigt den Aspekt des Begehrens. Agiert wird dann immer nur auf der Ebene der Bedürfnisbefriedigung, bei dem der doppelte Aspekt des Anspruches, Bedürfnis und Begehren zu sein, verloren geht. Das Symptom fungiert dann nur als Zeichen eines Bedürfnisses, dem Anspruch nach Anerkennung und Liebe wird dabei nicht Rechnung getragen. Die Möglichkeit zur Symbolisierung im Sprechen wird damit kurzgeschlossen. An Stelle der Artikulation des Begehrens des Patienten wird dann dem Subjekt ein Bild, eine Vorstellung von außen aufgezwungen, ein Trugbild, das als Prothese fungiert. Die so ausgeübte objektivierte Störungsbeseitigung geht damit doppelt fehl.

Einerseits suggeriert sie eine zu erwartende Befriedigung, die nicht dauerhaft eintreten kann. Andererseits verstellt diese Befriedigung den Raum, in dem der Patient als das begehrende Subjekt, das er ist, in der Anwesenheit eines Anderen, unter dem Druck seines Begehrens, in seiner Artikulation der Phantasien auf etwas kommen könnte, woran es ihm mangelt. Doppelt fehl geht die objektivierte Zuschreibung des Therapeuten, weil der Patient dann buchstäblich leer ausgeht: Weder kann ein wieder erinnerter Mangel, der zur Sprache kommen könnte, in die symbolische Ordnung eingefügt werden und als verloren betrauert werden, noch kann sich der Patient einem Ersatz zuwenden, etwas Neues finden und sich damit trösten.

Im Klartext heißt das, es kann keine Behandlung der Seele geben, ohne dem Einzelnen Raum zur Verfügung zu stellen, sich als Subjekt zu seinem Mangel zu äußern. Sich im Anspruch auf Liebe oder Heilung der Anerkennung des Anderen dadurch zu vergewissern, dass er sich dem Anderen zu Gehör bringt. Sich bestätigt zu sehen, und sei es im schmerzlichen Bewusstsein, dass etwas unwiderruflich verloren ging, welches auch der Therapeut nicht mehr geben kann.

Möglicherweise ist das auch eine Antwort auf die Frage, warum es so schwer ist, zuzuhören. Es könnte etwas zum Vorschein kommen, dessen Verlust beide nur beklagen können.

Aber wäre das nicht schon viel?


Literatur:

1 Nervenarzt (2002) Jahrgang 73.S.93-96

2 M, Spitzer (2003)Verdacht auf Psyche ,Grundlagen, Grundfragen und Grundprobleme der Nervenheilkunde, Schattauer Verlag

3 D, von Engelhardt(1986) Verlag für Medizin, Dr. Ewald Fischer, Seite 131.

4 J, Bauer(2002) Die Signale des Körpers Eichborn-Verlag Frankfurt.

5 ICD-Diagnostik S.139, Hans Huber Verlag,2.Auflage

6 S, Freud (1926) Hemmung, Symptom und Angst. GW XIV. Fischer-Taschenbuch Verlag 1999

7 J, Lacan (1954-5). dtsch. Übersetzung Sem. II.Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Walter-Verlag Olten.1980

8 J, Lacan 1966, É,p.280/ Schriften I ,S.122. 1975 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Wissenschaft, Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in er Psychoanalyse.

9 J, Lacan Schriften II .Die Bedeutung des Phallus Walter-Verlag Olten 1975.In dtsch. Übersetzung N,Haas u.a.S.127.

10 J, Lacan Le Séminaire. Livre I. Les écrits techniques de Freud, 1953-4, Jaques-Alain Miller, Paris  (Seuil) 1975

11S,Freud (1925-31) GW XI Hemmung, Symptom und Angst ,S.131.Fischer-Taschenbuch Verlag 1999

12 S, Freud Die Traumdeutung. Über den Traum .G.W. II/III, Frankfurt/M :Fischer 1999(1942),S.546 f.

13 J, Lacan Écrits, tome 1 Editions du Seuil (15. novembre 1999)

14 J Lacan Sem III, p. 216/S.227)

15 J, Lacan Écrits, p.234-235 Ep.232

16 D, Evans Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Wien: Turia + Kant 2002.

17 B, Fink Eine klinische Einführung in die Lacansche Psychoanalyse. Theorie und Technik. Wien: Turia + Kant 2005, 2. Auflage 2009.

18 B, Fink: Das Lacansche Subjekt. Zwischen Sprache und Jouissance. Wien: Turia + Kant 2006.

19 J, Lacan Sem.XXI Paris (Seuil)

20 M, Ficino Über die Liebe oder Platons Gastmahl, Hamburg 2004,S.69


Verfasser: Dr. Thomas Vogt; FA Anästhesie, Psychiatrie-Psychoanalyse

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