Warum geht es hier nur über die Jungen? Immer häufiger kommen Jungen in größten Nöten, die Sand ins soziale Getriebe streuen, in die psychotherapeutischen Praxen. Darauf werde ich im Folgenden näher eingehen, denn mich beunruhigen die unruhigen Jungen.
Bewegungslust: Unterschiede bei Jungen und Mädchen
Jungen sind vom ersten Lebenstag anders als Mädchen. Sie haben vor allem einen starken Drang nach Bewegung, und sie toben bereits im Mutterleib mehr herum als es Mädchen tun. Dafür zuständig, wie für viele der frühen Geschlechtsunterschiede, ist das Testosteron, das den Körper zu heftiger Bewegung drängt. So sind neugeborene Jungen impulsiver, geraten rascher in emotionale Erregung und lassen sich auch schwerer beruhigen.
Kinderpsychoanalytikern ist vertraut, dass Jungen lieber mit mechanischen Dingen spielen, mit harten Bauklötzen und viel Technik: Jungen zeigen von früh an Interesse an mechanischen Systemen. Überraschend ist, wie früh sich diese Unterschiede offenbaren. Bereits ein Tag alte männliche Säuglinge zeigten, im Vergleich zu weiblichen, eine geringere Aufmerksamkeit für menschliche Gesichter. Sie tendieren eher zu unbelebten Gegenständen wie ein Mobile, so hat der englische Psychologe Baron-Cohen herausgefunden. Diese Unterschiede sind hochsignifikant, dennoch muss festgehalten werden, dass es sich um Neigungen, Tendenzen handelt.
Jungen sind darum anders, weil sie 15mal so viel Testosteron haben wie Mädchen. Das formt ihr Gehirn und ihr Denken, das sich – wie erwähnt – schon früh oft mit den leblosen Dingen befasst. Es gestaltet sogar ihre Träume, die ganz anders sind als jene der Mädchen. Sie sind voller Bewegung und Aggression, voller Grandiositäten. Jungen fürchten und meiden oft menschliche Nähe, worüber ich in einem Buch berichtet habe (Hopf H. 2012).
Von Geburt an existieren also Geschlechtsunterschiede, die unterschiedliche elterliche Reaktionen nach sich ziehen . Bei Mertens (1992, S.63f.) werden einige Untersuchungen zitiert, die diese Geschlechtsunterschiede beschreiben. So reagieren Mädchen empfindlicher auf Geschmack und Berührung. Mütter finden bald heraus, dass sich Mädchen auf orale Weise - beispielsweise mit Schnuller - gut beruhigen lassen, während Jungen stärker auf Gewiegt werden ansprechen: Bewegung ist von Beginn des Lebens an männlich besetzt.
Ab dem dritten Lebensmonat bekommen Mädchen mehr zärtlichen Körperkontakt, während bei den Knaben die Muskelaktivität stärker gefördert wird. Aus kleinen Unterschieden werden große, indem sie
ihrerseits die Phantasien und das geschlechtstypische Handeln der Eltern beeinflussen: Jungen bewegen sich früher von den Eltern weg, die körperlichen Aktionen werden stärker narzisstisch bestätigt - oder in einer anderen Begriffssprache – „positiv verstärkt".
Darum beantworten Jungen innere Unruhe und depressive Ängste auch bald mit motorischer Unruhe und Getriebenheit: Das Symptombild der Depression bei Kindern unterscheidet sich sehr stark zwischen Jungen und Mädchen. Depressionen kommen bei Jungen nicht etwa seltener vor, die depressiven Affekte werden nur häufiger von einem lärmenden aggressiven und unruhigen Agieren zugedeckt, was Psychoanalytiker als manische Abwehr bezeichnen. Bekannt ist der kleine Junge, der anlässlich von Schwellensituationen, welche Trennung erforderlich machen, wie Kindergarten und Schule, unruhig und getrieben wird und nicht mehr still sitzen kann. Sie können sich vorstellen, welche Diagnose rasch gestellt werden wird.
Motorik, Aggression und Sexualität, Lust an der Bewegung sind bei Jungen eng miteinander verquickt. Weil die Bewegungsfunktion deutlicher libidinös besetzt ist, ihnen andererseits häufig keine ausreichenden Möglichkeiten zur Regulation ihrer Affekte zur Verfügung stehen, machen sie aus dieser Not eine - vermeintliche - Tugend. Wenn das Fass ihrer Gefühle überläuft, werden die Affekte mittels Bewegungsunruhe abgeführt. Nur wenn es gelingt, Vorstellungen und Gefühle in der Phantasie und in einem inneren Raum zu halten, dort zu regulieren und zu bewältigen, müssen entstehende Spannungen nicht auf diese motorische Weise abgeführt werden. Mädchen können das in der Regel besser, ihnen ist es leichter möglich, Bewegung zu symbolisieren und zu sublimieren.
Die Bandbreite von Bewegung reicht bei Jungen somit von einer impulsiven Abfuhr von Affekten über Motilität hin zu einer lustvoll-phallischen, auch rivalisierenden Bewegungsfreude, die jedoch stets vom bewussten Denken kontrolliert wird. Ihre besondere Art zu spielen sollte darum nicht zu früh eingegrenzt werden. Sie haben sonst nicht die Gelegenheit, im Spiel ihre Eigenarten kennen zu lernen, sich zu erproben und sich ihrer zu erfreuen, um sich schließlich selbst für Einschränkungen zu entscheiden.
Normale Verhaltensweisen werden dann auffällig genannt, wenn sie ein bestimmtes Maß überschreiten. Auch andere psychische Störungen sind wie die Depression in ihrer Erscheinungsweise deutlich geschlechtsspezifisch. Jungen neigen zur Bewegungsunruhe, externalisieren ihre Konflikte und tragen damit ununterbrochen Sand ins soziale Getriebe (vgl. auch Ihle und Esser, 2002, Esser 2010). Jungen haben Probleme mit der Beherrschung von aggressiven Affekten, und ihre sexuelle Identität ist instabil. Jungen neigen zu sozial störenden, ausagierenden Verhaltensweisen mit vermehrten Aggressionen und Hyperaktivität. Sowohl Legasthenie als auch alle Sprachstörungen kommen bei ihnen häufiger vor als bei den Mädchen. Vereinfacht: Jungen machen den Schulhof zum Kampfplatz und Mädchen den eigenen Körper. Jungen zeigen starre Verhaltens- und Denkweisen, und sie passen sich den Veränderungen der Umwelt nur schwer an – sie werden mittlerweile auch als Bildungsverlierer bezeichnet.
ADHS, ein hirnorganischer Defekt?
In einem Lehrbuch werden die auffälligen Jungen wie folgt beschrieben: „Wohl selten sind die Entwicklungsbedingungen der Kinder so unruhig und ungeordnet gewesen wie in den vergangenen zehn oder gar fünfzehn Jahren. ... Jeder Lehrer klagt über die nicht zu bändigende Wildheit und motorische Unruhe der prozentual stark hervortretenden sogenannten ‚Störer’. Die Hoffnung, dass man mit einfachen, billigen, leicht zu handhabenden Maßnahmen diese so störend unruhigen Kinder zur Ruhe bringen möchte, wird immer wieder ausgesprochen. Dass diese Hoffnung kaum verwirklicht werden kann, leuchtet von selber ein, wenn man nur einen kurzen Augenblick der Bemühung darauf verwendet, die Kinderschicksale solcher ‚Störer’ wirklich zu überdenken“ (S. 279). Dieser Text ist nicht neu, obwohl er die neue Diagnose ADHS genau beschreibt. Er wurde zum ersten Mal 1954 veröffentlicht und stammt aus dem Buch Psychogene Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen von Annemarie Dührssen (9. Aufl. 1972). Die von Dührssen erwähnten unruhigen Kinder mit den bewegenden Schicksalen sind die während des Zweiten Weltkriegs und danach geborenen Kinder. Eine auffällige Zahl von bewegungsunruhigen Kindern gab es also schon zu anderen Zeiten. Zeigt das etwa nur, dass es ADHS schon immer gegeben hat, und es damit feststeht, dass es sich um einen angeborenen hirnorganischen Defekt handelt?
Nein, es zeigt noch ganz anderes. Diese so genannte „Langeoog-Untersuchung“ ist wohl die wichtigste und zugleich exemplarische Beschreibung von traumatisierten Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs. In den Jahren ab 1947 wurden 50 000 Schüler der Geburtsjahrgänge 1927 bis 1941 im Lebensalter zwischen 6 und 20 Jahren untersucht . Festgestellt wurden damals „nervöse Störungen“, übergroße Schreckhaftigkeit, motorische Unruhe, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Schlaf- und Sprachstörungen (Radebold, 2005, S.47), Symptome, welche der heute so häufig diagnostizierten ADHS tatsächlich außerordentlich geähnelt haben und vor dem Hintergrund von Trennungstraumata und Vaterlosigkeit entstanden waren. Diese Untersuchung weist zudem auf einen eklatanten Zusammenhang zwischen Trauma und ADHS.
Aber warum gibt es auch heute so viele unruhige, unkonzentrierte und unbeherrschte Kinder? Könnte es sein, dass es ähnliche Ursachen sind? Trennungstraumata, Vaterlosigkeit, erregte Zeiten?
Wie ist es überhaupt zu der tsunamiartigen Zunahme der Diagnose „Hyperkinetische Störung“ gekommen? Bewegung, Aufmerksamkeit sowie Affektbewältigung sind primär psychische Phänomene und standen immer im Zentrum der Pädagogik. Bewegungsunruhe, Aufmerksamkeitsdefizite sowie Affektdurchbrüche sind Störungen dieser Bereiche vor dem Hintergrund von belastenden Lebensereignissen, Beziehungsstörungen, Deprivationen, Traumatisierungen. Aber natürlich ist das, was wir als unseren Geist, unsere Psyche verstehen, auch ein Ausdruck der Funktionsweise unseres Gehirns. Alle geistigen Prozesse, selbst die komplexesten, leiten sich gemäß dem Hirnforscher Eric Kandel (2008, S.81f.) von Operationen des Gehirns ab. In Gedanken, Fantasien und Beziehungen wird jedoch aus Biologie psychisches Erleben. Und: auch neurobiologische Niederschläge können durch Einflüsse von Pädagogik und Psychotherapie wieder verändert werden. Es besteht ein ständiges Wechselspiel zwischen Leib und Seele und einer störenden und/oder fördernden Umwelt. Dieses Zusammenspiel von Seele, Körper und Umwelt wird in der Regel bei allen seelischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter zu Grunde gelegt und akzeptiert, nur nicht bei Bewegungsunruhe, Aufmerksamkeitsstörungen und bei Problemen mit der Beherrschung von Gefühlen und Trieben.
Wiederum ist zu fragen: Warum ist das so? Warum wird hier starr, gelegentlich auch kämpferisch an einer ausschließlich biologischen Verursachung festgehalten?
Manchmal ist es ein Vorteil alt zu sein, um Zusammenhänge gelegentlich besser zu erkennen. Ich arbeite seit 1965 pädagogisch und psychotherapeutisch mit Kindern und Jugendlichen. Von 1973 bis 1995 hatte ich kein Kind ausschließlich wegen Bewegungsunruhe oder Unaufmerksamkeit in psychotherapeutischer Behandlung. Meine Erfahrungen mit der Diagnose ADHS begannen erst, als ich Mitte der 90er Jahre therapeutischer Leiter eines psychotherapeutischen Kinderheims wurde.
Es fing damit an, dass immer mehr Jungen mit der Diagnose ADHS vorgestellt wurden, die, so hatte ich aus den Unterlagen erfahren, an Störungen der Transmittersubstanzen im Gehirn leiden sollten. Die Diagnose ADHS nahm weiterhin zu und ersetzte mit der Zeit alle anderen. 1991 hatten 1500 Kinder und Jugendliche die Diagnose ADHS, inzwischen sind es fast 700 000 (Schmitz, 2011).
Aus psychoanalytischer Sicht würde man von externalisierenden sozialen Störungen sprechen. Diese Jungen hatten immer häufiger massive Probleme mit der Beherrschung ihrer Affekte. Dieses Störungsbild hatte es aber schon immer gegeben, es war allerdings in unterschiedliche Gewänder gekleidet und hatte POS, MCD, schließlich HKS geheißen. Der Kinderpsychiater Nissen schreibt in seiner Geschichte der Kinderpsychiatrie, dass neuere Untersuchungen auf eine hirnorganische Kerngruppe von nur 1-2 % mit diesem Störungsbild verweisen (Nissen, 2005, S. 445). Ab den 90er Jahren wurde die ursprüngliche Zappelphilipp-Diagnose jedoch in kurzer Zeit auf alle sozialen Störungen ausgeweitet, seelische Ursachen wurden ausgeblendet und alle jene Störungen wurden mit einem Defekt im Gehirn erklärt. Die Seele wurde eliminiert, zentrale Bereiche der Pädagogik wurden medikalisiert. Damit wurden gleichzeitig die Eltern, Lehrer und Erzieher aus ihrer erzieherischen Verantwortung entlassen.. Von jetzt an war nur noch die Chemie im Kopf und Medikation angesagt. Über den Topf mit brodelnden Konflikten kam der eiserne Deckel mit einer Diagnose ADHS, die nicht mehr angezweifelt werden durfte. Ansonsten wurde man der Unwissenschaftlichkeit geziehen, auch weil man angeblich Eltern beschuldigte, indem man davon ausging, sie hätten Verantwortung für ihr Kind.
Ich bin nicht grundsätzlich gegen Medikamente. Ich bin auch dafür in klar indizierten Fällen Methylphenidat zu verabreichen, auch um besser pädagogisch und psychotherapeutisch arbeiten zu können. Gleichzeitig müssen wir aber bedenken, was es für die Identitätsbildung eines Kindes bedeutet, nur dann funktions- und leistungsfähig zu sein, wenn es dazu über viele Jahre seiner Kindheit ein Medikament bekommt. Wenn ihm so suggeriert wird, dass sein Gehirn krank sei – vor allem dann, wenn keine weiteren Behandlungen stattfinden.
Wenn man bei der Feststellung bleiben will, ADHS sei immer eine ausschließlich hirnorganische Störung, deren Entstehung nichts mit Beziehung und nichts mit einer veränderten Gesellschaft zu tun habe, so müssen einige Fragen beantwortet werden.
Die Diagnose hat – wie zuvor aufgezeigt – in einem extremen Maß zugenommen und nimmt immer weiter zu. Wie kann das sein, wenn es sich ausschließlich um hirnorganische Defekte handelt? Die häufigste Antwort hierauf ist, weil dieses Störungsbild heutzutage so gut diagnostiziert wird. Das ist wenig überzeugend, bewegungsunruhige und unbeherrschte Kinder haben wir auch vorher garantiert nicht übersehen, weder ambulant noch im Heim.
- Warum haben fast ausschließlich Jungen diese Diagnose?
- ADHS wird umso häufiger bei Kindern diagnostiziert, je jünger deren Eltern sind? Warum?
- Warum wird in unteren Schichten mehr und in höheren Schichten weniger ADHS diagnostiziert?
- Warum wird bei den Söhnen allein erziehender Mütter häufiger ADHS diagnostiziert?
Angesichts dieser Fragen ist es wohl nicht mehr möglich an einem Störungsbild festzuhalten, das angeblich nur auf Gendefekten und Schaltfehlern im Gehirn beruht und die Seele eines Kindes außen vor lässt.
Ich will versuchen, diese Fragen zu beantworten: Psychische Störungen haben wahrscheinlich nicht zugenommen. Ihre Qualität hat sich verändert, und die Risikofaktoren verdichten sich bei einer bestimmten Gruppe von Kindern. Die externalisierenden Störungen, also Störungen des Sozialverhaltens und hyperkinetische Störungen kommen bei Jungen häufiger als früher vor. Dafür gibt es vermutlich verschiedene Ursachen.
Erziehung und das Entstehen von neurotischen Störungen sind als zwischenmenschliche Prozesse mit innerseelischen Folgen zu verstehen. Diese Prozesse finden nicht in einem abgegrenzten familiären Bereich statt. Vielmehr dringen in diesen Raum unaufhörlich Einflüsse der Gesellschaft, die die Struktur und die Atmosphäre des familiären Zusammenlebens mitbestimmen. Häufig wird jedoch betont, dass Beziehung, Erziehung und Gesellschaft auf keinen Fall an der Zunahme von externalisierenden Störungen beteiligt seien, z.B. indem gesagt wird „ADHS ist eine Krankheit, keine gesellschaftliche Fehlentwicklung“. Aber selbst wenn ADHS primär hirnorganisch oder biochemisch verursacht wäre, so kann dennoch der Einfluss der Gesellschaft nicht ausgeschlossen werden. Auch cerebrale Verletzungen können in einem ausgeglichenen Milieu relativ gut kompensiert werden, eine gestörte Umwelt mit Reizüberflutung führt jedoch leicht zu psychischen Dekompensationen (Prechtl, 1973, zit. n. Nissen, 2005). Übertrage ich das auf die Zunahme der externalisierenden Störungen, so muss ich davon ausgehen, dass das Milieu, in welchem Kinder leben, nicht gut genug ist, um Vulnerabilitäten und die Folgen früher Beziehungsstörungen auszugleichen.
Bis in die 60er Jahre hatte sich die Gesellschaft vorwiegend mit dem Über-Ich verbündet. Die autoritären Strukturen zerfielen in vielen Bereichen, samt jenen gesellschaftlichen Bedingungen, die einst den autoritären Charakter hervorgerufen hatten. Nicht mehr die Erziehung durch Erwachsene, sondern das Bedürfnis- und Beziehungsleben des Kindes stand von jetzt an im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Aus dem autoritären Erziehungsstil wurde ein partnerschaftlicher, verhandlungsorientierter. Erziehungsvorstellungen orientierten sich nicht mehr an Gehorsam und Unterordnung, sondern an Selbständigkeit und freiem Willen (Seiffge-Krenke, 2012). Das wurde mittlerweile allgemeines Ideal. Doch birgt das Elixier Freiheit auch Gefahren und hat bestimmte Nebenwirkungen, Es kann Kinder auch überfordern, verunsichern und ängstigen. Erziehung in totaler Freiheit kann zu einem Laissez faire degenerieren. Auf diese Weise erfahren manche Kinder gelegentlich zu wenig Halt, zu wenig Sicherheit. Neben den externalisierenden Störungen haben wir darum auch eine Fülle von Angststörungen zu verzeichnen. Zu den bislang genannten gesellschaftlichen Veränderungen kamen noch andere: Der kontinuierliche Zerfall von Familien mit einer Zunahme von traumatischem, oft unbewältigtem Trennungserleben bei Kindern kann nicht geleugnet werden. Kindheit findet auch nicht selten statt zwischen materieller Verwöhnung und emotionaler Deprivation, vielerlei regressive Störungen sind hiervon die Folge. Sehr viele dieser Kinder leiden an Vaterentbehrung und Vaterhunger. So wie unsere Gesellschaft generell an einem Rückgang von väterlicher Struktur, von Symbolen und Ritualen leidet. Externalisierende Störungen nehmen zu, auch weil der gesellschaftliche Rahmen nicht ausreichend haltend und begrenzend ist. Natürlich haben auch die neuen Medien die Welt verändert. Der Philosoph Christoph Türcke spricht von einer Gesellschaft des Spektakels. Er geht davon aus, dass die Aufmerksamkeit aller Menschen durch ein Trommelfeuer der Bildmaschinen absorbiert und zermürbt wird. Aus neurophysiologischen wie aus psychologischen Gründen ist die Gefahr, computersüchtig zu werden, für Jungen übrigens größer als für Mädchen.
Vor allem bei frühen Bindungs- und Beziehungsstörungen entsteht keine ausreichende Mentalisierungsfähigkeit, um Zustände des Selbst zu regulieren. Dann können Affekte, Emotionen nicht ausreichend beherrscht und gesteuert werden. Ein Kind braucht in seinen ersten Lebensjahren eine zuverlässige, haltgebende Person, um sichere Bindung zu erlangen.
Oft ist auch die triadische Entwicklunge gescheitert, das heißt, es ist zu keiner frühen Beteiligung des Vaters innerhalb der Beziehung zum Kind gekommen. Jungen mit einem zugewandten Vater zeigen eine höhere Kompetenz beim Umgang mit Triebimpulsen und Gefühlen als Kinder ohne präsenten Vater. Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, dass verantwortungsvolle und psychisch präsente Väter entscheidend dazu beitragen, dass sich die Symptome – Unruhe, Unaufmerksamkeit und Unbeherrschtheit – bei den Jungen empirisch messbar zurückbilden. Solche Väter wünsche ich mir nicht nur in der Familie, sondern auch in der gesamten institutionalisierten Erziehung (Hopf, 2012).
( Die benutzten Daten stammen aus der Untersuchung von Schlack et al. Sowie aus dem Barmer -GEK Arzt Report)
Literatur:
Esser, G.: Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart, New York: Thieme Verlag 2011
Radebold, R.: Die dunklen Schatten unserer Vergangenheit. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2005
Kandel, E.R.: Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. Frankfurt: Suhrkamp Verlag 2008: S.81ff
Schmitz, T.: Mach mich lieb. Süddeutsche Zeitung, 5.11.2011:3
Nissen, G.: Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Stuttgart: Klett-Cotta 2005
Barmer – GEK - Arztreport: Schwerpunkt Aufmerksamkeitsdefizit-/ Hyperaktivitätsstörungen; 2013-06-01
Seiffge-Krenke,I., Schneuider N.F.: Familie – Nein Danke? Familienglück zwischen neuen Freiheiten und alten Pflichten. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2012
Schlack, R.; Hölling, H.; Kurth, B.- M.; Huss, M.: Die Prävalenzder Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS).Bundesgesundheitsbl. - Gesundheitsforsch. – Gesundheitsschutz. 2007, 50: 827-835.
Hopf, H.: Mich beunruhigen die unruhigen Jungen. In: Hurrelmann, K., Schultz, T. (Hrsg): Jungen als Bildungsverlierer. Brauchen wir eine Männerquote in Kitas und Schulen? Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2012
* Dr. Hans Hopf, analytischer Kinder- und Jugemdlichentherapeut in Mundelsheim und Lehrbeauftragter an der Universität Innsbruck
** Gekürzte Fassung der Dankesrede zur Verleihung des Diotimapreises durch die Bundespsychotherapeutenkammer am 19.4.2013 in Berlin