Mit Vergnügen beobachtete ich neulich in der U-Bahn, wie ein junger Vater sich an der Begeisterung seines etwa dreijährigen Sohnes für das U-Bahnfahren erfreute. Ob die U-Bahn losfuhr oder stehen blieb – es war jedes Mal ein Ereignis, das dem Kleinen Freudenschreie entlockte. Als die beiden an derselben Station ausstiegen, an der auch ich aussteigen musste, kippte die einvernehmliche Stimmung zwischen Vater und Sohn, denn der Junge war keineswegs bereit, sein Spiel aus für ihn nicht nachvollziehbaren Gründen aufzugeben. Will fahren, will fahren, brüllte er so laut, dass sich alle Passanten umdrehten. Der Vater zog das sich sträubende und weiter brüllende Kind zur Rolltreppe und geriet in immer größere Verlegenheit, weil er in der Öffentlichkeit sein Kind nicht „in den Griff“ bekam. „Schau mal, Rolltreppen fahren ist auch schön“, mischte ich mich ein, um dem hilflosen Vater beizustehen. Verblüfft schaute der Junge mich an und wurde schlagartig ruhig. Ich entfernte mich schnell und weiß nicht, ob sich das Drama wiederholte, als die Rolltreppe zu Ende war.
Ablenken, spielerisch bezirzen, manchmal mit kleinen Bestechungen rumkriegen – wenn die Erziehung nicht autoritären Mustern folgt, nach denen das Kind zu tun hat, was verlangt wird und basta, muss man sich schon etwas einfallen lassen, um es an die Notwendigkeiten, Grenzen und Realitäten heranzuführen, die sich seinem lustvollen Spiel, seinen drängenden Wünschen oder seinen heftigen Abneigungen widersetzen. In den Begriffen Sigmund Freuds geht es darum, die Vorherrschaft des Lustprinzips, das nach sofortiger Befriedigung verlangt, durch das Realitätsprinzip zu ersetzen, und damit der kindlichen Psyche die Möglichkeiten des Umwegs, des Aufschubs, des Wartens zu eröffnen.
Ein Säugling befindet sich in einem Zustand absoluter Abhängigkeit von der Mutter, da er nicht durch eigene Aktivität seine Bedürfnisspannungen lösen kann. Wenn die Mutter aber auf die kindlichen Bedürfnissen einfühlsam antwortet, erlebt das Kind die durch sein Schreien herbeigeführte Entlastung und Befriedigung als Ausdruck der eigenen Allmacht – die Welt richtet sich nach seinen Bedürfnissen. Mit der zuverlässig eintretenden Befriedigung kann sich die Zuversicht entwickeln, dass die Not behoben wird, und im Verlauf der ersten Lebensmonate bindet sich diese Erwartung immer mehr an eine vertraute Gestalt – die Mutter. Diese Vertrauen schaffende, sichere Bindung fördert die für die Entwicklung der Frustrationstoleranz unerlässliche Fähigkeit zu warten, weil die positive Zukunftserwartung verhindert, dass der Mangel überwältigend wird. Zugleich werden in der frühen Beziehungserfahrung Grundlagen für ein stabiles Selbstwertgefühl gelegt, das eines Elements bedingungsloser Akzeptanz bedarf, wie es im günstigen Fall ein Kleinkind erfährt, dessen bloße Existenz Freude und Liebe weckt, ohne dass es dafür etwas tun, etwas „leisten“ muss.
Mit der voranschreitenden Entwicklung kann das Kind sich die Welt zunehmend aktiv erschließen – greifen, sich fortbewegen, durch Gesten, Laute und schließlich durch Worte seinen Wünschen Ausdruck verleihen. Mit dem Herauswachsen aus der rein passiven Abhängigkeit und der Zunahme des aktiven Wirkungsradius des Kindes geht aber auch eine erhöhte Verletzlichkeit und Verunsicherung einher. Eine Welt tut sich auf, die sich zugleich auf eine für das Kind mysteriöse Weise seinem Zugriff entziehen und es in fassungslose Hilflosigkeit stürzen kann. Das Kind gerät in eine große Spannung zwischen dem drängenden Wollen und dem begrenzten Können, weswegen es umso mehr auf eine sichere und einfühlsame Bindung angewiesen ist, um die unvermeidlichen Frustrationen zu bewältigen. Es braucht Trost und Ermutigung, um trotz Niederlagen das Gleichgewicht seines Selbstwertgefühls aufrechterhalten und zu einer zuversichtlichen Aktivität zurückfinden zu können.
Das setzt erstmal eine Frustrationstoleranz bei den Erwachsenen voraus, denn die Zeit- und Spielräume, die Kinder brauchen, um mit Grenzen und Notwendigkeiten zurechtzukommen, stehen häufig im Gegensatz zu den normalen Anforderungen an den erwachsenen Menschen, der U-Bahn ja nicht aus reiner Lust fährt, sondern um an einer bestimmten Station anzukommen. Und auch die Kinder müssen in den Kindergarten, in die Schule, und können sich nicht entwickeln, wenn sie nicht lernen, eine unmittelbare Befriedigung aufzuschieben, ein sofortiges Vergnügen aufzugeben, um künftige Ziele zu verfolgen. Um den notwendigen Übergang von ihrer subjektiven, von Wünschen geprägten Welt zu der Welt der äußeren Realität mit ihren Anforderungen auf eine gute Weise zu meistern, brauchen Kinder die Phantasie und das Spiel. Im Spiel finden sie einen Weg, die Realität kreativ ihren Bedürfnissen anzuverwandeln, um sich aus einer Position der eigenen Wirksamkeit mit ihr auseinandersetzen zu können. So können sie ein persönliches, lebendiges Verhältnis zur Welt entwickeln, das nicht einfach auf äußerer Anpassung oder gar Unterwerfung beruht. Das ermöglicht dem Kind die Entwicklung von Einsicht und Rücksicht und damit die Überwindung einer rein egozentrischen Perspektive, in der die eigenen Grenzen und die Nichtverfügbarkeit des Anderen als unerträgliche Kränkung erlebt werden, weshalb jede Frustration das Selbstwertgefühl und die Hoffnung zu zerstören droht.
Eine sichere, von Einfühlung geprägte Bindung, die das Selbstwertgefühl stärkt und kindgerechte Übergangsräume sind also die Voraussetzungen für die Entwicklung einer guten Frustrationstoleranz. Doch auch optimale Entwicklungsbedingungen vorausgesetzt, darf man sich die Frustrationstoleranz nicht als eine sichere Errungenschaft vorstellen, die einem im Leben stets wie von selbst zur Verfügung stehen wird. Die Vorstellung, dass alles möglich sein wird, „wenn ich mal groß bin“, die in der Kindheit geholfen hat, das Kleinsein zu ertragen, erweist sich mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter als Illusion. Ein inneres Gleichgewicht zwischen Wünschen und Grenzen muss immer wieder aufs Neue gefunden werden, Rückschläge und schmerzliche Enttäuschungen müssen so bewältigt werden, dass die Hoffnung überlebt und Trauer sich nicht zur Depression verdüstert.
Jedes Lebensalter bringt in dieser Hinsicht eigene Herausforderungen mit sich. In der Jugend, in der die Illusion, dass alles gelingen könnte und alles geht, zum Greifen nahe erscheint, braucht es erst recht die Fähigkeit, Rückschläge zu ertragen, damit der Mut zu neuen Erfahrungen und zum Experimentieren nicht erlahmt. Die Freude am Erreichten und die Kraft für das Mögliche stehen nur zur Verfügung, wenn sie nicht vom Groll über das nicht Erreichte vergiftet werden. So kann auch der Mut zur Festlegung gefunden werden, die nötig ist, damit sich das Leben nicht nur im Konjunktiv abspielt. Das Älterwerden bringt zunehmend die Erfahrung mit sich, dass sich die Zukunft mit allen offenen Möglichkeiten des Lebens verengt. Was als „midlife crisis“ bezeichnet wird, hat mit diesem Bewusstsein der Unveränderbarkeit und Begrenztheit zu tun. Es ist die Ahnung der Endlichkeit als ultimativer Frustration, die mit Verleugnungsformeln wie „man ist nur so alt wie man sich fühlt“ nicht aufhebbar ist. Die Versöhnung mit dieser Frustration ist die Voraussetzung für die Bereitschaft, sich durch die nachfolgende Generation relativieren zu lassen, sie zu fördern und zu unterstützen, ohne sich in die Bitterkeit des „früher war alles besser“ zurückzuziehen.
Das „lebenslange Lernen“, von dem heute so viel die Rede ist, beinhaltet auch die Notwendigkeit, auf jeder neuen Entwicklungsstufe um ein neues Gleichgewicht zwischen Möglichkeiten und Grenzen zu ringen. Dafür braucht es Zeit und Spielräume, um mit den schmerzlichen Zumutungen des Lebens auf eine konstruktive Weise zurechtzukommen, während man zugleich damit fertig werden muss, dass auch dafür nur begrenzte Lebenszeit zur Verfügung steht.
* Leicht überarbeiteter Text, der ursprünglich in Heft 2/2013 des Journals der Autostadt erschienen ist.
Anna Leszczynska-Koenen, Diplom-Psychologin, niedergelassene Psychoanalytikerin in Frankfurt