Klinische und Extra-klinische Traumforschung
Stephan Hau *
Träume haben die Menschheit schon immer fasziniert und es sind zahllose Theorien über deren Sinn und Bedeutung entwickelt worden. Die von Sigmund Freud (1900) zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlichte Theorie kann als Wendepunkt hin zu einer wissenschaftlichen Beforschung der Träume angesehen werden. Die psychoanalytische Traumtheorie hat bis heute die aktuellen klinischen Theorien über das Träumen und zu einem gewissen Grad auch die moderne empirische Traumforschung beeinflusst. Die Entdeckung des REM-Schlafes und des Profils typischer Schlafphasen während der Nacht durch Aserinsky und Kleitman (1953) markiert den Beginn der extraklinischen Schlaf- und Traumforschung, die in den letzten 50 Jahren, durchgeführt in zahlreichen Schlaflabors in Europa und den USA, unser Verständnis über den Bewußtseinszustand Traum radikal verändert hat. Neues Wissen über das Träumen und über die Eigenschaften des Traums wurde generiert. Auf diese Forschungen und auf deren wichtigsten Ergebnisse wird weiter unten eingegangen.
1. Klinische Traumforschung
Freud hatte eine Theorie des Träumens entwickelt, in der Träume als bedeutungsvolle psychologische Vorgänge beschrieben wurden. Die Grundidee war, dass Träume eine bestimmte Funktion erfüllten, nämlich die der Wunscherfüllung. Ausgehend vom manifesten Trauminhalt (der Traum, der erinnert und berichtet wird), kann, so die Annahme, durch die Assoziationen des Träumers zu den einzelnen Elementen des Traumes und durch die Rückverfolgung der einzelnen Schritte der Traumarbeit, bei der die Inhalte (z.B. infantiles Material oder Tagesreste) verdichtet, verschoben oder sekundär bearbeitet wurden, auf den latenten Trauminhalt geschlossen werden. Die grundlegende Annahme dabei ist, dass die assoziativen Einfälle des Träumers zu jedem Teil des Traumes zu den mentalen Prozessen führen würden, die zur Traumentstehung beitrugen und dabei die Entschlüsselung der unbewussten (latenten) Traumbedeutung möglich werde. Dieser Inferenzprozess muss bei jedem einzelnen Träumer immer wieder durchlaufen werden. Jeder Traum ist ein hochspezifisches Produkt und muss auch als solches behandelt werden. Das bedeutet, dass jede subjektive Bedeutung eines Traumes in der Therapie nicht nur durch die Assoziationen des Träumers erschlossen werden muss, sondern auch der aktuelle Lebens-Kontext, in dem sich der Träumer befindet und die (therapeutische Übertragungs-) Situation, in die der Traum eingebettet ist, zu berücksichtigen sind.
1.1 Die Arbeit mit Träumen
In der Nachfolge Freuds nahm die Anzahl klinischer Veröffentlichungen über Träume in den psychoanalytischen Zeitschriften kontinuierlich ab, die klinische Arbeit mit Träumen erschien mehr und mehr als eine Art Routinearbeit. Parallel zu dieser Entwicklung wurden Fragen nach der Handhabung von Übertragung und Gegenübertragung im klinischen Diskurs immer bedeutsamer. Erikson (1954) stellte sich mit seiner Arbeit über das "Traummuster in der Psychoanalyse" dieser Entwicklung entgegen. In einer sorgfältigen Analyse von Freuds "Irma-Traum" zeigte er, wie weit man mit der Berücksichtigung des manifesten Trauminhalts als Grundlage für die Deutung und Hypothesen-Generierung kommen kann. Die Bedeutung von Eriksons Arbeit, in der ein stufenweises Vorgehen bei der Traumanalyse entwickelt wurde, kann gewiss nicht überschätzt werden. Ausgangspunkte für die Traumanalyse sind die manifesten Konfigurationen des Traumes, bevor anschließend nach Verbindungen zwischen manifesten und latenten Trauminhalten gesucht wird. Im nächsten Schritt wird das latente Traummaterial analysiert, um dann, in einem vierten und letzten Schritt, die Verbindungen zum Lebenszyklus und zur individuellen Entwicklung des Träumers zu rekonstruieren.
- Manifeste Konfigurationen:
Verbal, sensorisch, räumlich, zeitlich, somatisch, interpersonal, affektiv - Verbindungen zwischen manifestem und latentem Traummaterial
Assoziationen, Symbole - Analyse des latenten Traummaterials
Akute schlafstörende Stimuli, Tagesreste, akute Lebenskonflikte, vorherrschender Übertragungskonflikt, sich wiederholende Konflikte, Grundkonflikte der Kindheit, gewöhnliche Bezeichnungen: Wünsche, Triebe, Bedürfnisse, Abwehrmechanismen - Rekonstruktion
Lebenszyklus, soziale Prozesse, Ich-Identität und Lebensplanung
Liste 1: Erikson’s Entwurf einer Traum-Analyse
Aus Platzgründen kann hier nicht auf andere theoretisch interessante Entwicklungslinien nach Freud eingegangen werden, die auch von Interesse wären. Lewin (1953), Khan (1962) oder Anzieu (1991) publizierten über die psychologischen Bedingungen, die für die Fähigkeit zu Träumen als relevant angesehen werden. (Für eine kommentierte Zusammenstellung weiterer relevanter Publikationen vgl. Deserno, 1999.)
Den Traum als individuumszentriertes, subjektives Produkt aufzufassen, kann als der zentrale Fokus in der weiteren Entwicklung psychoanalytischer Traumkonzepte angesehen werden (vgl. Greenson 1970, Pontalis 1974). Einige Autoren verknüpfen klinische Konzepte der Übertragungsprozesse mit der psychoanalytischen Traumtheorie. Aus dem Verlauf psychoanalytischer Behandlungen zeigen sie, wie klinisches Material, das in der Übertragung bearbeitet wird, die Trauminhalte beeinflusst und vice versa (Stewart, 1993; Deserno, 1992). Dabei wird nicht nur die Beziehung des Träumers zum Analytiker berücksichtigt, sondern auch die Beziehung Träumer - Traum. Pontalis (1974) hat diesen Zusammenhang in seiner Arbeit über den "Traum als Objekt" aufgezeigt. Aus dieser Perspektive lässt sich untersuchen, wie Patienten ihre Träume erleben, wie sich die jeweils aktuelle Übertragungsbeziehung darstellt und wie diese Merkmale sich im Laufe der Behandlung verändern. Viele klinische Beispiele verdeutlichen, wie eng das intrapsychische Funktionieren mit den interpersonellen Beziehungen verbunden ist. Der Traum kann nicht als Einzelereignis verstanden werden, das während der Nacht geträumt wird und mit den Beziehungsdynamiken, in die der Träumer in der Wachwelt einbezogen ist, nicht in Beziehung stünde. Der Traum erscheint vielmehr hoch sensibel für Beziehungsereignisse zu sein und damit auch für solche, die während der psychoanalytischen Behandlung stattfinden. Systematisch wurden Veränderungsprozesse von Träumen im Laufe psychoanalytischer Behandlungen von Leuzinger-Bohleber (1987, 1989) über viele Jahre untersucht. Sie beschrieb sowohl Veränderungen im manifesten Trauminhalt als auch im Umgang mit den Träumen im Laufe psychoanalytischer Therapien. Die Arbeiten sind auch Beispiele für eine gelungene Kombination von klinischer und extraklinischer Traumforschung.
1.2 Träume im interpersonellen Kontext
Mit dem Wissen um die wichtige Rolle, die der subjektive, individuelle Kontext bei der Traumkonstruktion spielt, gewinnt auch eine phänomenologische Perspektive auf den Traum immer mehr an Bedeutung. Im Gegensatz zu Freuds Idee, die kausalen Verkettungen der Traumformation anhand der freien Assoziationen zu den einzelnen Traumelementen zu rekonstruieren, um zum latenten Trauminhalt zu gelangen, wird beim gemeinsamen Untersuchen der Träume in der Therapie mehr darauf geachtet, wie die persönliche Welt des Träumers, seine persönliche Geschichte, in den Träumen dargestellt ist. Dieser Ansatz, ausführlich beschrieben bei Stolorow (1978, 1993), generiert somit Kontexte subjektiver Bedeutung. Von daher sind nicht nur die einzelnen Teile des Traums und die damit verbundenen Freien Assoziationen von Bedeutung, zusätzlich können die "thematischen Konfigurationen von Selbst und Objekten, die das Traumnarrativ strukturieren" (216, Übers.: S.H.) ebenfalls von Nutzen für das Verständnis eines Traumes sein. Stolorow nimmt an, dass diese Themen als zusätzliche Verständnisebene für den Träumer dienen, um die "prä-reflektiven unbewussten Erfahrungsstrukturen, welche die innere subjektive Welt einer Person organisieren" (216, Übers.: S.H.) besser verstehen zu können. Somit beruht eine Traumanalyse nicht alleine auf einem kausal-mechanistischen Modell, welches die Mechanismen der Traumarbeit (Verdichtung, Verschiebung) rückgängig zu machen versucht, sondern dieser Ansatz ermöglicht darüber hinaus, die im Leben des Träumers wesentlichen emotionell bedeutsamen Konflikte zu beleuchten. Dies bedeutet nicht, dass die Wunscherfüllung als Traumfunktion keine Relevanz mehr besitze, sondern dass Träume nun in einem erweiterten interpersonellen Kontext verstanden werden können. Hierbei wird der Traum als Spiegel des inneren, subjektiven Universums des Träumers gesehen.Die oben dargestellten Konzepte haben den Umgang mit Träumen in der psychoanalytischen Praxis verändert. Der Traum wird heute als in den Übertragungsprozess eingebettet verstanden und als solcher verhandelt. In der klinischen Arbeit wird dabei nicht von statischen Deutungen einzelner Traumelemente ausgegangen oder sich ausschließlich an den Assoziationen des Träumers orientiert, Traumdeutungen werden vielmehr in einer Art Koproduktion gemeinsam von Analytiker und Analysand entwickelt (vgl. Jimenez, 2012).
1.3 Der Traum als simulierte Mikrowelt
Den avanciertesten Brückenschlag zwischen klinischer und extraklinischer Traumforschung haben Moser und von Zeppelin (1996) vorgelegt. Ihre Theorie zur Traumentstehung und zum geträumten Traumverlauf beinhaltet gleichzeitig das bislang komplexeste Auswertungssystem von Traumberichten. Moser und von Zeppelin gehen davon aus, dass Träumen dazu geeignet ist, die individuellen Muster innerer Möglichkeiten eines Träumers aber auch seine Grenzen aufzuzeigen (vgl. Moser, v. Zeppelin & Schneider, 1991). Die Integration und Verarbeitung von Informationen werden sowohl als kognitive Handlungen als auch als affektive Gedanken verstanden, die den Traum moderierten und seine konkrete Ausgestaltung herbeiführen. Träume würden gewöhnlich durch Tagesreste ausgelöst (Gedanken, Erfahrungen, Wünsche oder auch Affekte), welche fokale Konflikte stimulierten, für die im Traum dann versucht werde, eine Lösung zu finden. Dabei ginge man nach zwei Prinzipien vor, nämlich gemäß des Wunsches nach Beziehungen mit anderen Objekten ("Involvementprinzip") und nach einem "Sicherheitsprinzip", dass für den Rückzug aus bedrohlich werdenden Traumsituationen sorge, eventuell sogar den ganzen Traum abbreche. Der stimulierte fokale Konflikt werde in einen Traum-Komplex und in ein Erinnerungsmodell eingebunden, bei denen Affekte, Objekt- und Selbstrepräsentanzen sowie Repräsentationen von Interaktionen, die generalisiert wurden (RIGs, vgl. Stern, 1985) eine große Rolle spielten und in verschiedene assoziative Netzwerke eingebunden seien. Der Traum versuche nun, eine Lösung des fokalen Konfliktes zu erreichen.
Mit dem Modell von Moser und von Zeppelin lässt sich der Ablauf eines geträumten Traumes rekonstruieren und systematisch darstellen. Gerade der zeitliche Verlauf eines Traumes ermöglicht wichtige Schlussfolgerungen, zum Beispiel an welcher Stelle ein Interaktionsversuch misslingt, wo der Traumprozess durch das Sicherheitsprinzip unterbrochen wird, mit anderen Worten, wo die Konflikte eines Individuums zum Vorschein kommen. Besonders deutlich wird dies bei den Folgen von Traumata erkennbar.
Traumatische Erfahrungen haben rigide Bereiche innerhalb der sonst flexiblen Gedanken-Netzwerke zur Folge, die nicht integrierbare, frei-flottierende Affekte enthalten. Zwar werden auch für diese traumatischen Erfahrungen Lösungen im Traum gesucht, die aber, wie wiederkehrende Alpträume zeigen, regelmäßig scheitern. Die Affektregulierung misslingt und es kommt zum angsterfüllten Aufwachen.
1.4 Alpträume können Emotionen kontextualisieren
Der Amerikanische Psychoanalytiker Ernest Hartmann ist für seine umfangreichen Forschungen zu Träumen und Alpträumen bekannt (1995, 1998). Er sieht Alpträume als besonders geeignet, um die Phänomene und Prozesse zu beschreiben, die auch in allen anderen Träumen des Alltagslebens wirksam sind. Nach traumatischen Erfahrungen während Naturkatastrophen wie zum Beispiel Erdbeben oder Feuerstürmen oder nach sogenannten "man made disasters", also Unfällen, Flugzeugabstürzen usw., aber auch nach Krieg- und Terror-Erfahrungen und in Fällen von Opfern von Gewalt, können typische Traumsequenzen beobachtet werden. Zu Beginn, unmittelbar im Anschluss an eine traumatische Erfahrung, tauchen Alpträume dergestalt auf, dass der Ablauf des Ereignisses wiederholt wiedererlebt wird, was sich als Re-enactment im Traum beschreiben lässt. Dieses Wiedererleben gleich einem Film, der Ablauf der einzelnen Sequenzen des Ereignisses erscheint unverändert. Nach einiger Zeit kommt es jedoch zu Änderungen, zum Beispiel verändert sich der Ort des Ereignisses plötzlich oder andere Personen als die ursprünglich betroffenen tauchen auf und werden in das Traumgeschehen eingearbeitet. Dazu einige Beispiele:
- Das Opfer einer Feuerkatastrophe träumte nach einer Weile statt von dem Feuer von einer gewaltigen Flutwelle, die sich ihr näherte (vgl. Hartmann 1998).
- Ein anderes Opfer desselben Feuersturms berichtete, dass in den wiederholten Alpträumen nach etlichen Tagen eine Veränderung stattfand und sie statt des Feuers eine Lokomotive hörte, die sich auf den Bahngleisen näherte (vgl. Hartmann 1998).
- Ein Lokführer, der nach einem tödlichen Unfall diesen wiederholt in seinen Alpträumen durchlebte, berichtete nach einer Woche, dass er im Traum plötzlich einen Wagen der Wuppertaler Schwebebahn fuhr. Auf diese Weise gelang es ihm, über die Person hinwegzuschweben, sodass diese unverletzt blieb.
Wie aus diesen Beispielen erkennbar ist, hat der Traum eine Art "therapeutische Funktion". Durch das Finden neuer, im Alltagsleben verankerter Zusammenhänge, wird die ursprünglich überwältigende Erfahrung, die im Alptraum zum Ausdruck kam, allmählich anders kontextualisiert und schrittweise in gewöhnliche Angstträume umgewandelt. Im weiteren Verlauf dieses Prozesses werden auch die Angstträume weiter bearbeitet und verändern sich weiter zu normalen Traumerlebnissen.
Diesen Prozess hat Hartmann hervorgehoben: Der Traum hilft beim Kontextualisieren von Emotionen. An einem "sicheren Ort" werden neue Verbindungen erstellt und somit die Zustände hoher Emotionalität allmählich beruhigt und handhabbar gemacht. Dies gelte aber nicht nur für Träume nach einem Trauma, sondern könne auch für alle andere Traumaktivität angenommen werden. Wann immer eine verstörende Erfahrung sich ereignet hat, ein Konflikt vorliegt, eine gefährliche Situation für das Selbst, und solange die Ich-Kapazitäten noch intakt sind, werde im Traum versucht, Verknüpfungen zu anderen Erfahrungen aus dem Alltagsleben herzustellen, um die problematische Erfahrung mit anderen Erfahrungen mit weniger affektiver Relevanz zu verweben. Somit ließen sich auch Alpträume und Angstträume in eine allgemeine Theorie des Träumens integrieren.
2. Extra-klinische Traumforschung
2.1 Traumfunktionen
Dieses allgemeine Traummodell wird auch von Befunden der experimentellen Traumforschung gestützt. Heute wird der Traum als ein multi-funktionaler Prozess verstanden. Dies bedeutet keineswegs, dass die Wunscherfüllung als Traumfunktion widerlegt sei, im Gegenteil. Aber dem Traum ausschließlich eine Wunscherfüllungsfunktion zuzuweisen, erwies sich als zu enge Perspektive. Neben der Wunscherfüllung werden eine Reihe weiterer Traumfunktionen beschrieben, wie zum Beispiel Gedächtniskonsolidierung, Problemlösen, Stressreduktion, Kreativität, Konfliktlösung oder Affektregulation (vgl. Kächele 2012, Strunz 1989). Träume werden heute als wichtiger Prozess zur Aufrechterhaltung der psychologischen und physiologischen Gesundheit des Menschen angesehen.
- Wunscherfüllung
- Erinnerungskonsolidierung
- Problemlösen
- Stressreduktion
- Kreativität
- Konfliktlösung
- Stimmungsregulation
- etc.
Liste 2: Die Traumfunktionen
Alle bisher erwähnten Theorien und viele weitere in den Freudschen Fußspuren gründeten ihre Aussagen auf die klinische Situation und die Erfahrungen innerhalb des psychoanalytischen Behandlungsprozesses. Die Entdeckung einzelner Schlafphasen und des REM-Schlafes durch Aserinsky und Kleitman in einem Schlaflabor in Chicago im Jahre 1953 hatte enorme Anstrengungen im Bereich der experimentellen Schlaf- und Traumforschung zur Folge. Von Anfang an waren Psychoanalytiker entscheidend an diesen Forschungsunternehmen beteiligt, wenn sie ihre Plätze hinter der Couch mit dem Labor tauschten. Vor allem die manifesten Träume und unbewussten Kognitionen wurden in den Experimenten untersucht.
- Häufigkeit der Traumereignisse
- Der Traum existiert in vielen verschiedenen Varianten
- Qualitative Eigenschaften der Träume
- Wach-Schlaf-Kontinuität
- Träume sind keine fertigen Produkte
- Das Vergessen der Träume ist nicht nur Resultat einer Zensurtätigkeit
- Traumfunktionen
- Lange Entwicklung der Fähigkeit zu träumen
Liste 3: Wichtige Befunde experimenteller Traumforschung
Aus dieser Perspektive hat die heutige Sicht auf das träumende Bewusstsein sehr wenig gemein mit den Wissensbestand zu Freuds Zeiten. Freud konnte nicht wissen, dass Träume während der gesamten Nacht ablaufen, dass jeder Mensch träumt, jede Nacht, auch wenn nur ungefähr ein Drittel der Bevölkerung regelmäßige spontane Traumerinnerungen berichtet. Aktions- und handlungsreiche Träume (mit Geschichten und viel Inhalt) finden während ungefähr 2-3 Stunden jede Nacht statt. Dies bedeutet, dass ein 75jähriger Mensch ungefähr 6-7 Jahre seines Lebens mit Träumen verbracht hat! Diese und die im folgenden zusammengestellten Befunde experimenteller Traumforschung finden sich gut lesbar zusammengefasst bei Strauch und Meier (2004). Ein weiterer wichtiger Befund experimenteller Traumforschung ist, dass es den Traum so nicht gibt. Träume existieren in vielen verschiedenen Formen und Qualitäten; sie haben unterschiedliche Merkmale. Es lassen sich eine ganze Reihe verschiedener Traumarten voneinander unterscheiden (zum Beispiel Träume aus REM-Phasen, NREM-Träume, Einschlafträume, Weiße Träume, Night Terrors, Alpträume, Klarträume, Grosse Träume, wiederkehrende Träume, Tagträume, etc.).
In den meisten Träumen dominieren visuelle Eindrücke (60%), aber auch akustische Phänomene sowie Körpersensationen kommen vor (fast nie: Geruch oder Geschmack). Auch Gedankenprozesse lassen sich in den Träumen erkennen - sogar häufiger als Gefühle oder Emotionen. Wenn jedoch Affekte in den Träumen auftauchen, haben sie die gleichen Qualitäten wie im Wachzustand (z.B. Wut, Ärger, Angst, Freude, Interesse, Trauer, etc.). Der häufigste Affekt in den Träumen ist Freude, häufiger als Ärger und Angst (vgl. Strauch & Meier, 2004).
Tagesreste können als der wichtigste Teil des manifesten Traumes angesehen werden. Mehr als 70% der Subjekte, Objekte oder Szenarien, die in Träumen auftauchen, stehen in Verbindung zu Ereignissen aus der letzten Woche vor dem Traum. Einen der wichtigsten Befunde experimenteller Traumforschung ist die Wach-Traum-Kontinuität. Womit eine Person am Tage im Wachzustand beschäftigt ist, damit ist sie auch in der Nacht befasst. Dabei erscheinen die meisten Träume eher banalen und alltäglichen Inhalts, keineswegs bizarr oder voller sexueller oder aggressiver Konnotationen, wie man es vielleicht erwarten würde (vgl. Strauch & Meier, 2004).
Was in der Nacht geträumt wird, muss als Prozess verstanden und beschrieben werden, der nach dem Erwachen am Morgen nicht beendet ist. Träume werden ständig weiter prozessiert und verändert. Was wir in der klinischen Situation erzählt bekommen ist ein hochselektives Produkt, dass unter Umständen wenig mit dem ursprünglich in der Nacht Erlebten zu tun hat. Wird ein Traum ein zweites Mal berichtet, wird deutlich, dass Teile weggelassen, ausgetauscht oder hinzugefügt wurden. Neue Phantasien, Erfahrungen, Teile von anderen Träumen oder Übertragungsphantasien spielen eine wichtige Rolle bei diesen Veränderungsprozessen.
Experimentelle Traumforschung lieferte auch wichtige Daten zu entwicklungspsychologischen Fragen. Wie träumen Kinder und wie entwickelt sich die Fähigkeit zu Träumen? David Foulkes (1999) zeigte, dass es bis zu dreizehn Jahre dauert, bis die menschliche Fähigkeit zu Träumen voll entwickelt ist. Diese entwickelt sich parallel zur kognitiven und emotionalen Entwicklung. Drei bis fünfjährige Kinder haben nur kurze, emotional neutrale Träume, ohne komplizierte Handlungen. Diese Träume können als "statisch" bezeichnet werden. In den meisten Träumen kommt kein Traum-Ich vor, dies taucht erst in den Träumen von Kindern im Alter von etwa sieben Jahren auf. Nach weiteren zwei bis drei Jahren entspricht die Aktivität des Traum-Ichs derer Erwachsener. Darüber hinaus zeigen diese Ergebnisse, dass der Traum nicht als Perzeptionsprozess, sondern als Kognitionsprozess konzipiert werden muss. Dieser ist davon abhängig, wie eine Person das versteht und symbolisch repräsentieren kann, was in der Außenwelt abläuft und wie die Interaktionen mit wichtigen Anderen erlebt und enkodiert werden.
Schließlich sei noch auf eine weitere Dimension experimenteller Traumforschung hingewiesen: neurophysiologische Aspekte von Schlaf- und Traumprozessen. Seit der umfassenden Zusammenstellung empirischer Traumforschung durch Ellman und Antrobus (1991) sind mit dem Aufkommen neuer Messtechniken (z.B. fMRT) neurophysiologische Untersuchungsmöglichkeiten von Schlaf und Traum weiter entwickelt worden. Shevrin und seine Mitarbeiter haben relevante Studien zu unbewussten Verarbeitungsprozessen durchgeführt und neuronale Korrelate unbewusster Prozesse aufgezeigt (z.B.: Shevrin, Bond, Brakel, Hertel & Williams, 1997; Shevrin, Ghannam & Libet, 2002).
Beispielhaft sei auf die Arbeiten zweier Psychoanalytiker verwiesen, welche die neuro-psychoanalytische Theorieentwicklung zum Traum in den letzten Jahren maßgeblich beeinflussten: Mark Solms (1997, Solms & Kaplan-Solms, 2001; Solms & Turnbull, 2002) entwickelte ein neurodynamisches Modell der Traumentstehung, basierend auf klinischen Studien von Patienten mit Hirnverletzungen. Er konnte nicht nur zeigen, welchen Einfluss die Verletzung bestimmter Hirnregionen auf das Traumgeschehen hat, sondern es gelang ihm auch die über Jahre dominierende Aktivations-Synthetisierungs-Hypothese von Hobson und McCarlyle (1977) zu entkräften, in welcher der Traum als sinnloses Neuronengewitter abgetan worden war.
Steven Ellman (vgl. Ellman & Weinstein, 2012) schließlich hat in einer bahnbrechenden Arbeit eine Theorie der endogenen Stimulation entwickelt und auch empirisch belegt, wodurch die Gegensätzlichkeit zwischen Triebkonzept und Objektbeziehungspsychologie überwunden werden konnte. Das neugeborene Baby suche kontinuierlich nach grundsätzlicher Sicherheit und Vertrauen, welches den Umgang mit der neuen Umgebung erleichtere. Ellman beschreibt eindrucksvoll den Zusammenhang zwischen den mentalen Funktionen beim Säugling und den Mechanismen des Träumens. Objektsuche und Triebbefriedigung erscheinen nicht mehr als Antagonisten.
2.2 Die Effekte subliminaler Stimulation auf Träume
Zur systematischen Erforschung von Traum und Wach-Bewusstsein haben Psychoanalytiker mit experimentellen Studien beigetragen (vgl. Hau, 1999, 2009). Besonders die Methode der subliminalen Stimulation erwies sich als fruchtbar, um kognitive Prozesse im Hinblick auf Wahrnehmung und Erinnerung zu untersuchen. Dabei werden Bilder für wenige Millisekunden präsentiert, wobei eine bewusste Wahrnehmung der Inhalte nicht möglich ist. Dennoch tauchen die Bildinhalte wieder auf und zwar in Träumen und in Freien Assoziationen im Wachzustand. Die Art und Weise, wie die Inhalte dabei verändert, entstellt oder umgearbeitet werden, erlaubt Rückschlüsse auf die unbewussten Verarbeitungsprozesse, welche zwischenzeitlich stattgefunden haben müssen. Dabei wird deutlich, dass das unbewusst wahrgenommene Stimulusmaterial entsprechend den von Freud beschriebenen Mechanismen der Traumarbeit bearbeitet wird. Zusätzlich kann gezeigt werden, dass komplexe visuelle Eindrücke in einzelne Teilelemente zerlegt werden (nach Form, Farbe, Wortklang, Bedeutung), die dann in neuen Kontexten, mehr oder weniger entstellt, wieder dargestellt werden (vgl. Leuschner, Hau, Brech & Volk 1994). Diese Ergebnisse unterstützen sowohl die Annahmen Freuds, als auch die Überlegungen Hartmanns (1995) zur Kontextualisierung von Erfahrungen. Dabei wird klar, dass nicht nur die anzunehmenden dissoziierenden Kräfte von größerer Bedeutung sind, als ursprünglich gedacht, sondern auch, dass sich die Arbeitsweise eines vorbewussten Wahrnehmungssystem mit Hilfe der subliminalen Stimulationsmethode beobachten lässt, ein Wahrnehmungssystem, das parallel zur bewussten Wahrnehmung arbeitet. Ansonsten würden das "unbewusste" Stimulusmaterial, das für wenige Millisekunden präsentiert wurde, nicht in den Träumen und in den Freien Assoziationen im Wachzustand wieder dargestellt. Dieses Signalentdeckungssystem ist hochsensibel für die unterschiedlichsten (subliminalen) Informationen. Als Konsequenz aus der Beobachtung von dissoziierenden und reassoziierenden Prozessen bei der Verarbeitung unbewussten Stimulusmaterials in den Laborexperimenten ergibt sich die Frage, ob psychoanalytische Konzepte wie zum Beispiel das Konzept der Verdrängung, neu überdacht werden sollten. Die Erinnerung von Inhalten und die Rückbringung ins Bewusstsein hinge nicht nur davon ab, ob eine Gegenbesetzung das gesamte Material daran hindere, ins Bewusstsein zu gelangen, sondern bis zu einem gewissen Grade könnten Erinnerungsschwierigkeiten damit erklärt werden, dass die dissoziierten Teile und Komponenten eines ursprünglichen Kontextes schließlich in einen anderen psychologischen Zusammenhangs integriert würden und in der Folge nicht mehr in ihrer ursprünglichen kontextuellen Bedeutung reassoziiert werden könnten.
Abschließend sei festgehalten: Experimentelle Traumforschung hat eine überwältigenden Menge interessanter Daten über Verarbeitungsprozesse in Schlaf und Traum generiert, deren Integration und Adaptation in den Rahmen der eigenen psychoanalytischen Theorien noch zu vollziehen ist. Dies kann als Herausforderung verstanden werden, in einem fruchtbaren interdisziplinären Dialog die psychoanalytischen Theorien über den Traum und das Träumen weiter zu entwickeln.
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Dezember 2012
*Autor: Stephan Hau, Prof. Dr. phil., Psychoanalytiker, Department of Psychology, Stockholm University, Sweden