"Die Methusalems" sind eine Gruppe von Laienschauspielern - ab 65 bis über 80 Jahre alt - die in Zusammenarbeit mit professioneller Unterstützung durch das Stadttheater Freiburg ein ganz besonderes Stück auf die Bühne gebracht haben.
Der Projektleiter, Helmut Grieser war neugierig und fragte seine Schauspieler nach ihren Kindheitserinnerungen. Da es sich bei den "Methusalems" um die Generation der so genannten "Kriegskinder" handelt, war damit ein derzeit aktuelles Thema aufgenommen. Alle Teilnehmer der Gruppe haben die Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges als Kinder erlebt. In der psychoanalytischen Forschung ist und wird dieses Thema seit einiger Zeit wissenschaftlich bearbeitet. (z. B. Hartmut Radebold: Abwesende Väter und Kriegskindheit). Ähnlich wie die Psychoanalytiker von ihren Patienten dieser Altersgruppe berichten, die sich häufig scheuten von ihren Kindheitserinnerungen zu sprechen, machte auch Helmut Grieser die Erfahrung, wie anfängliche Widerstände und Unsicherheiten oder gar Behauptungen, es gebe nichts zum Erinnern, überwunden werden konnten. Das Interesse für die Erinnerungen der Alten brachte erstaunliche Geschichten zu Tage.
Zum Beispiel die, die dem Theaterstück den Namen gab: "Der Hund auf meinem Schreibtisch". Ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt, steigt in dem Haus, in das die Familie neu eingezogen ist, ins oberste Stockwerk, um das Treppengeländer herunter zu rutschen. Oben begegnet er zwei Damen, die ursprünglich offenbar eine der geräumigeren Wohnungen der unteren Stockwerke bewohnt hatten. Es wird klar, dass es sich um jüdische Damen handelt, die ausquartiert worden waren und jetzt mit ihrem Abtransport rechneten. Der Junge wird zu Keksen in die Wohnung eingeladen, bemerkt die übervolle Wohnung - vorher hatten die Damen mehr Platz. Er entdeckt die Figur eines kleinen bronzenen Hundes, die ihm gefällt und den er geschenkt bekommt: "Wir müssen packen und dürfen nicht viel mitnehmen. Du kannst ihn ruhig nehmen," sagen die Damen. Der Vater verbietet seinem Sohn anschließend, die Damen noch einmal zu besuchen. Den Hund behält der Junge, er bewahrt ihn bis heute auf. Später stand er bei dem Erwachsenen während seiner gesamten Berufstätigkeit auf dem Schreibtisch. Er erinnerte ein Leben lang an die verschwundenen Nachbarinnen.
Oder die Geschichte eines jungen Mädchens, das am Ende des Krieges von der Bemerkung des Vaters einer Freundin erzählt, dass der Krieg verloren sei. Von einem Priester wird das Mädchen beschworen seine Aussage abzuändern, von einem NS Parteigänger wird es bedroht, als es seine ursprüngliche Aussage revidieren möchte. Der Vater der Freundin wird auf Grund der Aussage des Mädchens erschossen. Nach dem Krieg wird dem Mädchen ein Prozess gemacht.
Aber es gibt auch Geschichten von pubertärer Schwärmerei für Hitler, von Versuchen das Bild einer "normalen" Kindheit aufrecht zu erhalten. Die Brüchigkeit dieses Versuchs wird deutlich, zum Beispiel bei der Geschichte vom Behinderten Xaverle, das plötzlich verschwunden der Euthanasie zum Opfer gefallen ist - wie wir heute wissen und damals nicht gesagt werden durfte. Es gibt Berichte über die Schulzeit, von Lehrern, die die Trauer über den Tod von Vätern und Brüdern mit dem Hinweis auf deren Heldentod abgeschnitten und verboten haben.
Solche, insgesamt 15 Erzählungen wurden von der Dramaturgin Ingrid Israel in eine theatertaugliche, spielbare Form gebracht. Unter der Regie von Armin Holzer entstand dann ein Stück, in dem die Alten, die Methusalems, die erwachsenen Personen ihrer Kindheit - Eltern, Lehrer, Pfarrer - auf der Bühne darstellten. Sie selbst als Kinder wurden von heutigen Kindern, ihrer Enkelgeneration also, gespielt. Das Ergebnis war ein sichtbarer Dialog zwischen den Generationen, ein intensiver, bewegender Austausch zwischen der Großeltern- und der Enkelgeneration und zwar sowohl für die Spieler als auch für die Zuschauer. Es ging dabei um die Möglichkeit der Erinnerung, um die Herstellung und Anerkennung von Narrativen in der Folge von einer Generation auf die andere. Das Gedächtnis, die mitgeteilten Erinnerungen an die eigenen frühen Erfahrungen stellen das emotionale Band zur Verfügung, dass die Großeltern, Eltern und Kinder miteinander verbindet, aber auch Trennung, Abgrenzung, Kritik und die Möglichkeit eines selbstbestimmten eigenen Lebens für die nachgeborene Generation ermöglicht.
Eine der Protagonistinnen zitiert Augustinus: "Die Zeit ist das Absingen eines Liedes. Die Zukunft ist das Lied, das eingerollt bereit liegt, die Gegenwart ist der Moment des Absingens und im Gedächtnis rollt sich das Lied wieder zusammen und geht in die Vergangenheit über." Und später: "Die Kindheit ist die Strophe eines Liedes." In diesem Sinn enthält jedes Leben sein eigenes Lied, jede Kindheit seine eigenen Strophe - ein Chor entsteht, wenn für viele Lieder und viele Strophen Platz ist. Das Projekt der Freiburger Methusalems öffnet Wege zu einer transgenerationellen Verständigung wie sie sonst vielleicht durch eine gelungene Psychoanalyse möglich wird.
August 2010
* Autorin: Helga Kremp-Ottenheym, Diplom-Psychologin, niedergelassene Kinder- und Erwachsenenanalytikerin in Freiburg