Anlässlich der letzten Berlinale veröffentliche eine große Tageszeitung eine Aufnahme von Roman Polanski mit der Unterschrift: "1972 - Polanski lässt es auf der Berlinale krachen". Das Bild zeigt einen ernst blickenden Mann mit einem Glas in der Hand. Der Text passt weniger zum Bild als zu den Schlagzeilen, die man seit der Verhaftung Polanskis in der Schweiz im vergangenen Jahr immer wieder lesen kann.
Zweieinhalb Jahre bevor das Bild entstand, im August 1969, wurde Polanskis Ehefrau Sharon Tate hochschwanger von Mitgliedern der "Manson-Familie" in ihrem Haus ermordet. In dem unfassbar brutalen Massaker kamen auch drei nahe Freunde Polanskis, Gäste des Hauses, ums Leben. Er selbst sollte einen Tag später von Dreharbeiten nach Hause kommen, um bei der Geburt seines ersten Kindes dabeizusein. Im gleichen Jahr starb auch sein Freund und Filmkomponist Krzysztof Komeda ("Rosemary`s Baby") 35-jährig an den Folgen eines Unfalls.
Die extremen Traumatisierungen und Verluste im Leben Polanskis und deren Abbildung in seinem filmischen Werk sind der Schwerpunkt des Buches "Roman Polanski. Traumatische Seelenlandschaften" des Berliner Filmwissenschaftlers Andreas Jacke.
Der Autor streift die Biografie Polanskis immer wieder um sie sogleich mit den manifesten Inhalten und der Symbolik in dessen Arbeit - Film für Film - zu verbinden. Roman Polanski, 1933 geboren, überlebte als Kind das Krakauer Getto. Seine Eltern und seine Halbschwester wurden 1942 nach Auschwitz deportiert, wo seine Mutter gleich nach der Ankunft ermordet wurde. Der kleine Roman überlebte in einem Versteck auf der "arischen Seite" - dort, in einem entlegenen Dorf, verbrachte er 3 Jahre ohne jede Nachricht von seinen Nächsten und in ständiger Angst, entdeckt zu werden. Er habe noch Jahre später, wider besseres Wissen, auf die Rückkehr seiner Mutter gewartet, erzählte er einmal in einem Interview.
Nach Andreas Jacke sind es diese furchtbaren Erlebnisse, die den frühen Filmen Polanskis oft den Charakter des "subtilen Schreckens" verleihen. Hier ragen als besonders charakteristisch "Der Ekel" (1965) und "Der Mieter" (1976) heraus, die beide die Überwältigung der Persönlichkeit durch paranoide Phantasien zeigen. Beide Hauptfiguren sind von Angst und Entfremdung gequälte Außenseiter. Jacke hebt hervor, dass hier dem Regisseur das Kunststück gelingt, den Schmerz und die Angst der Hauptfiguren dem Zuschauer nahezubringen, indem er die beobachtende Position zugunsten tiefer Identifikation verlässt. Wie Polanski dies umsetzt, wird mit genauen Analysen von Schnitt, Ausstattung und Kameraführung belegt, so dass man bei der Lektüre die Entstehung starker psychologischer Wirkung lesend nachvollziehen kann.
"Ich mag das Düstere im Film. Ich mag es nicht im Leben" - wird der Regisseur zitiert.
Dass ihn "das Düstere" wieder einholte, als seine Frau ermordet wurde, hatte einen enormen Einfluss auf sein Leben und seine Filme. Die schwere Retraumatisierung warf ihn seelisch aus der Bahn (mit den juristischen Folgen dieser Destabilisierung muss er sich bis heute auseinandersetzen) und beeinflusste sein Werk. Neben Meisterwerken wie "Chinatown" (1974) und "Tess" (1979), deren Hauptfiguren an den Folgen des sexuellen Missbrauchs zerbrechen, entstanden Filme wie "Was?" (1973) und später "Bitter Moon" (1992), die sexuelle Entgrenzung und Perversion zu propagieren scheinen. Sie sind geprägt durch "das deutlich spürbare Faible des Regisseurs für die Rechtfertigung rein libidinöser Abenteuer, die oft reizvoller dargestellt sind als die soliden Bindungen", schreibt Jacke, und zeigen so - vielleicht ungewollt - wie sich der zweite traumatische Verlust des wichtigsten Liebesobjektes auf die Beziehungsfähigkeit des Künstlers ausgewirkt hat. Im Gegensatz zu "Was? ", einer erotischen Komödie um eine Gruppe frivoler Exzentriker zeigt "Bitter Moon", sein "Abgesang auf den Hedonismus", allerdings die sadomasochistische Verstrickung eines Paares als ein Drama mit tödlichem Ausgang.
Das Spätwerk Polanskis zeichne sich, so Andreas Jacke, durch die "Rückkehr des Politischen" aus. Hier widmet sich Polanski dem Trauma der Folter in "Der Tod und das Mädchen" (1994) und schließlich, in "Der Pianist" (2002), dem Überleben im Warschauer Ghetto, das er dem Zuschauer anhand der Erinnerungen des jüdischen Komponisten Wladyslaw Szpilman in erschütternder Weise nahebringt. "Dass der Regisseur im Nachhinein alle Filme, die er bisher gedreht hatte, nur als Vorlauf für diesen gesehen hat, liegt daran, dass er mit Der Pianist an den Schauplatz zurückkehren konnte, an dem er als Kind mehrere tief traumatische Situationen erlebt hatte, die sein gesamtes Leben prägen sollten. Mit Der Pianist kehrte er in einer umfassenden und direkteren Form dorthin zurück. Und Polanskis gesamtes Werk steht in Beziehung zu dieser traumatischen Vergangenheit. ", schreibt Andreas Jacke.
Das Buch begeistert den filminteressierten Leser durch detailreiche und analytische Rekapitulation der 18 Spielfilme Polanskis. Die psychoanalytische Deutung bleibt immer ganz nah am Werk - wie es nur einem kundigen Filmwissenschaftler möglich ist. Dem Rummel um Polanskis Vergangenheit und seinem zwielichtigen Ruf setzt der Autor eine wohltuend einfühlsame Betrachtung entgegen: "Polanski hat sich wie kaum ein anderer in seinen Filmen tief in die traumatisierte Psyche misshandelter Menschen eingefühlt, sodass man ihn, wenn man nur sein Werk betrachtet, sofort freisprechen müsste. Aber natürlich wird dies vor Gericht kaum berücksichtigt werden und dieser naheliegende Zusammenhang wurde in der bisherigen Berichterstattung vollständig übergangen. Allerdings sind Realität und Fiktion bei allen Vermischungen, wie spätestens hier sehr deutlich wird, zwei grundverschiedene Ebenen".
Andreas Jacke. Roman Polanski. Traumatische Seelenlandschaften.
Psychosozial Verlag, Gießen 2010, EUR 29,90
* Autorin: Halina Berger, Diplom-Psychologin, niedergelassene Psychoanalytikerin in Frankfurt am Main
August 2010