Marianne Leuzinger-Bohleber *
In den letzten Monaten haben viele Opfer sexueller Übergriffe ihr Schweigen gebrochen. Ermutigt durch das Interesse der Öffentlichkeit, wagen sie oft erstmals, ihre Schamgefühle zu überwinden und über die kurz- und langfristigen Folgen ihrer traumatischen Erfahrungen zu sprechen. Dies ist für die Opfer ein Chance: Das geheime, unerträgliche Leiden kehrt aus dem einsamen Dunkel in die Kommunikation mit anderen zurück, oft ein erster Schritt, die Traumatisierung zwar nicht heilen, aber doch psychisch eher in das eigene Selbstbild, in die eigene Geschichte integrieren zu können. Die quälende Erinnerung an das Trauma kann erkannt und dadurch in seiner Wirkung eingedämmt werden.
Nur der öffentliche Dialog erlaubt, klar zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden: Im Dunklen der eigenen Phantasie verschwimmen die Grenzen. Besonders Vorschulkinder geben sich unbewusst - aufgrund ihres altersgemäßen egozentrischen Weltbildes - die Schuld am Übergriff. "Warum ist dies gerade mir zugestoßen? Ich muss doch ein besonders schlimmes, böses Kind sein, dass X. gerade mich ausgesucht hat . . . ", sind solche verborgenen, quälenden Gedanken. Doch auch bei älteren Kindern und Jugendlichen ist zu beobachten, dass sie sich schuldig oder mitschuldig am sexuellen Übergriff fühlen. Dabei spielt einer der Hauptmechanismen des Verarbeitungsversuchs einer traumatischen Erfahrung eine entscheidende Rolle: der Versuch, das passiv Erlittene in aktiv Herbeigeführtes umzuwandeln. Die traumatische Erfahrung als passives, ohnmächtiges Opfer ist psychisch so unerträglich, dass es offenbar leichter zu ertragen ist, wenn der Betroffene eigenes Verschulden annimmt, als, der Realität entsprechend, dem Geschehen wehrlos ausgeliefert gewesen zu sein. Die extreme Hilflosigkeit und Ohnmacht definiert geradezu ein psychisches Trauma: Es wird als ein Ereignis definiert, das die Fähigkeit des Ichs, für ein minimales Gefühl der Sicherheit und integrativen Einheit zu sorgen, abrupt überwältigt und zu einer massiven Angst und Hilflosigkeit führt. Es bewirkt eine dauerhafte Veränderung der psychischen Organisation. Das Vertrauen in das Selbst und eine schützende Bezugsperson wird zerbrochen: Nichts wird mehr sein wie zuvor.
Hat jede sexuelle Handlung eines Erwachsenen mit einem Aufwachsenden eine traumatische Qualität? Was ist sexueller Missbrauch, und wie ist die Traumatisierung zu erkennen?
"Unter sexuellem Missbrauch versteht man die Beteiligung noch nicht ausgereifter Kinder und Jugendlicher an sexuellen Aktivitäten, denen sie nicht verantwortlich zustimmen können, weil sie deren Tragweite noch nicht erfassen können. Dabei benutzen bekannte oder verwandte (zumeist männliche) Erwachsene Kinder zur eigenen sexuellen Stimulation und missbrauchen das vorhandene Macht- oder Kompetenzgefälle zum Schaden des Kindes" (Eglé, Hoffmann und Joraschky, Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung, 1997).
Zu Recht weisen die Autoren darauf hin, dass Kinder und Jugendliche die Tragweite sexueller Handlungen mit einem Erwachsenen nicht abschätzen können: Leider ist inzwischen klinisch und empirisch vielfach belegt, dass die Kurz- und Langzeitfolgen meist unterschätzt werden, wobei das Ausmaß der Traumatisierung von unterschiedlichen Faktoren abhängig ist:
Es kommt auf die Art des Übergriffs an. Zwar sind die Folgen umso schlimmer, je gewalttätiger und schmerzhafter der Übergriff ist (etwa bei erzwungener Penetration), doch auch physisch kaum schmerzhafte Erfahrungen zerstören die Erfahrung sicherer Schranken zwischen den Generationen und beeinträchtigen oft noch nach Jahren die Liebesbeziehungen der Opfer. Eine wichtige Rolle spielen die Dauer des Missbrauchs (einmalig oder über Jahre), der Stand der kognitiven, emotionalen, sozialen und neurobiologischen Entwicklung und die Konstellation der "traumatischen Situation": Je abhängiger das Kind von der missbrauchenden Person ist, desto schlimmer sind die Folgen. Die Bindungsperson, die Sicherheit und Geborgenheit bieten sollte, wird selbst zur Quelle von Gefahr, Angst und Schmerz ("Bindungstrauma"). Dies ist häufig der Fall: Ein Viertel der angezeigten Missbrauchsfälle werden von Verwandten begangen. Wichtig ist, dass vertrauensvolle, alternative Bezugspersonen da sind, die das Kind schließlich vor dem Missbrauch schützen können. Häufig werden bereits traumatisierte Kinder aus Risikofamilien oder Behinderte Opfer des sexuellen Missbrauchs.
Entscheidend ist außerdem, ob und wie der Missbrauch aufgedeckt wird, welche Folgen dies für das Kind hat, ob und wie ihm geholfen wird, das Trauma zu verarbeiten.
Warum dauert es oft Jahre, bis sexueller Missbrauch entdeckt, thematisiert und öffentlich geächtet und verfolgt wird? Warum ist immer noch mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen? Die Angaben internationaler Studien schwanken stark: Danach erleben zwischen 6 und 62 Prozent aller Frauen und zwischen 3 und 30 Prozent aller Männer im Laufe ihres Lebens einen sexuellen Übergriff. In allen Kulturen wurde das Inzesttabu aufgerichtet, so dass wir alle intuitiv ein Wissen davon haben, welche schlimmen Folgen der Bruch dieses Tabus, die sexuelle Befriedigung über die Generationenschranke hinweg für die Opfer hat. Daher neigen Menschen oftmals dazu, nicht hinzuschauen, der Wahrheit nicht ins Gesicht zu sehen: Verleugnung und Verneinung sind die häufigsten Abwehrmechanismen bei der Konfrontation mit sexuellem Missbrauch.
Außerdem ist es objektiv schwierig, einen Missbrauch zu erkennen: Es gibt keine eindeutigen körperlichen Symptome und kein eindeutiges "psychisches Syndrom des sexuellen Missbrauchs". Nach Aussagen verschiedener Autoren erscheinen zwischen 21 und 49 Prozent der Kinder zunächst völlig symptomfrei. Andere bezweifeln dies und vermuten, dass dieser Befund eher darauf hinweist, dass der Beobachter das Kind nicht emphatisch genug und differenziert wahrgenommen, eben weggeschaut hat. Oft kommt es zu verspäteten Reaktionen, und jede Verhaltensauffälligkeit kann unter Umständen ein Hinweis auf sexuelle Übergriffe sein. Außerdem sind die Symptome altersabhängig:
Vorschulkinder fallen vor allem durch Ängste oder sexualisiertes Verhalten auf. Oft scheinen sie den Übergriff im Spiel oder in Handlungen immer und immer wieder zu wiederholen. Grundschulkinder entwickeln häufig Ängste, Albträume und aggressives Verhalten. Im besten Fall vertrauen sie sich in ihrer Not einem Betreuer an, zu dem sie eine sichere Beziehung haben. Jugendliche reagieren möglicherweise mit Depressionen, Suizidneigung, Somatisierung, Weglaufen, Promiskuität, Alkohol- und Drogenmissbrauch auf sexuelle Übergriffe. Manche werden vom Opfer zum Täter: Zwischen 30 und 40 Prozent der sexuellen Übergriffe gehen von Jugendlichen aus, oft von solchen, die selbst eine Missbrauchserfahrung gemacht haben.
Generell gilt, dass Symptome und Auffälligkeiten von Kindern und Jugendlichen in professionellen Teams sensibel wahrgenommen und verstanden werden sollten. Besteht ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch, muss dieser Verdacht mit dem Team zunächst einmal sorgfältig und diskret geprüft werden. Erhärtet sich der Verdacht, müssen entsprechende Fachleute (Psychologen, Ärzte) beigezogen werden, die notwendige Untersuchungen kompetent durchführen und adäquate Maßnahmen einleiten können.
Beim sexuellen Missbrauch besteht aber gleichzeitig die gegenteilige Gefahr: die Gefahr der Dramatisierung. Wird ein Verdacht eines sexuellen Missbrauchs zu Unrecht geäußert, hat dies oft fatale Folgen. Die Verdächtigten und die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen verlieren ihre Spontaneität in einem lustvollen, sexuell unverkrampften Umgang miteinander und dadurch jene Quelle, die paradoxerweise der beste Schutz gegen sexuellen Missbrauch darstellt. Leben Erwachsene eine befriedigende Sexualität in der eigenen Generation, vermitteln sie den Aufwachsenden unbewusst diese Erfahrung und stehen nicht in Gefahr, diese für die eigene sexuelle Befriedigung zu missbrauchen: Sie verfügen über die adäquaten inneren Grenzen, das erweiterte Inzesttabu, und können daher Kinder und Jugendliche auf adäquate Weise anerkennen und lieben. Daher befürchten viele, dass die aktuelle Debatte einen lustfeindlichen, autoritären Erziehungsstil (wieder) befördern könnte, der die äußeren Grenzen zwischen den Generationen unemphatisch und autoritativ durchsetzt, statt auf sichere innere Grenzen zu bauen. Dadurch könnten aber gerade jene Geister gerufen werden, die bekämpft werden sollen.
siehe auch Stellungnahme der DPV vom August 2010
Juni 2010
Der Text ist zuerst erschienen am 27. Mai 2010 in der FAZ.
* Die Autorin ist Psychoanalytikerin, lehrt an der Universität Kassel und ist geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt.