Warum wird man krank? Modern und weit verbreitet ist die Idee, alles sei "psychosomatisch". Und wenn man im Internet den Suchbegriff "Psychosomatik" eingibt und die Fachbücher beiseite lässt, findet man Titel wie "Krankheit als Sprache", "Mein Körper - Barometer der Seele", "Wenn die Seele durch den Körper spricht", "Krankheit - der Weg zu sich selbst", "Was Dir Deine Krankheit sagen will". Bestseller sind darunter! Was aber soll man als Kranker machen, wenn einem die Krankheit partout nichts sagen will? Man hat Schmerzen, man verliert Funktionen und Fähigkeiten, man ist hilfsbedürftig, vielleicht sogar hilflos, eben krank. Aber man versteht es nicht. Sie spricht einfach nicht, die Krankheit. Jetzt ist man krank, und hat außerdem noch ein Problem.
In diesen Büchern wird aber nicht nur ausgebreitet, was Krankheiten dem Kranken "sagen" wollen, sondern es finden sich dabei gleich auch noch die zugehörigen Gesundungs-Konzepte. Auch die liegen ganz in der Hand des Kranken! Wenn man nur stark genug ist, wenn man sich nur ausreichend um innere Ausgeglichenheit bemüht, wenn man Optimismus aufbaut und ausstrahlt, dann kann jede Krankheit besiegt werden. Schicksal und Tragik haben in diesen Konzepten keinen Platz.
Mit dieser monokausalen Botschaft wirft man Kranke auf sich selbst zurück, isoliert sie von ihren sozialen Zusammenhängen und macht sie zu Alleinverantwortlichen: Ihre seelische Verfassung hat sie krank gemacht; und wenn sie nicht gesund werden, dann wollen sie es vielleicht nur nicht genug, haben mental und emotional nicht genug gekämpft. Ein sozialer oder gesellschaftlicher Kontext ist da nicht mehr von Bedeutung. So wird der Kranke vereinzelt und auf sich selbst zurückgeworfen.
Es fällt auf, dass zugleich auch die ökonomische Last des Krankseins mehr und mehr von der Gemeinschaft auf den Einzelnen verschoben wird. Am deutlichsten wird das am immer weiter ausufernden System der Zuzahlungen: Je schwerer die Krankheit, je teurer das Medikament, je mehr Krankengymnastik oder Hilfsmittel, je länger der Krankenhausaufenthalt oder die Rehabilitation, desto mehr zahlt der Kranke selbst.
Eigenverantwortung und Eigenbeteiligung, der Eigenanteil der Seele und der des Portemonnaies, zwei Seiten derselben Medaille? Eigenverantwortung statt Solidarität heißt die neue Parole.
Es darf keine Rolle spielen, warum man krank wird: Dem Kranken stehen Hilfe und Beistand, Mitgefühl und Sachverstand zu. Keine Schuld und keine Schulden.
Kontakt: www.medizinHuman.de
Oktober 2009
* Autor: Bernd Hontschik ist niedergelassener Unfallchirurg in Frankfurt am Main. Seit Juni 2007 erscheint in der Frankfurter Rundschau samstags alle 14 Tage eine Kolumne von ihm unter der Überschrift "Diagnose". Diesen Text haben wir aus der Frankfurter Rundschau vom 17.10.2009 übernommen. Eine überarbeitete Auswahl von 33 aus den ersten 50 Kolumnen von Bernd Hontschik ist unter dem Titel "Herzenssachen" beim weissbooks Verlag erschienen.