Ann-Kathrin Scheerer: Krippenbetreuung als ambivalentes Unternehmen

Ambivalenz heißt, salopp gesagt, dass man nicht so recht weiß, was man davon halten soll: geht es um was Gutes oder um was Schlechtes, wie auch die Gefühle, die die Idee der Krippenbetreuung in frühester Kindheit weckt - und dies erleben wir ja in der öffentlichen Debatte allerorten -gemischt sind, je nach dem, aus welcher Perspektive man guckt oder mitfühlt. Diese ambivalenten Gefühle möchte ich näher betrachten und mein Vortrag selbst wird ambivalente Gefühle wecken, denn wir alle sind selber Betroffene - auch ich bin davon keine Ausnahme.

Ob Krippe gut oder schlecht ist, hängt einzig und allein vom jeweiligen Einzelfall ab, von den beteiligten Menschen und der Qualität ihrer Beziehungen zueinander. Man kann Kinderkrippen, meistens sind es natürlich kleinere, finden, in denen man durchaus den Eindruck von einer tragenden, ruhigen und auf die Bedürfnisse der Babies und Kleinkinder (Kinderkrippe heißt ja, dass es um Kinder von acht Wochen bis etwa 2,5 Jahre geht) orientierten Atmosphäre aufnimmt, wobei der Eindruck auch wieder wechseln kann, je nachdem ob man die Krippe vormittags oder nachmittags besucht. Und man findet Kinderkrippen - dies ist unter den heutigen Bedingungen leider eher die Regel -, in denen man den Eindruck bekommt, dass hier aufgrund der miserablen Bedingungen, ich sage es einmal drastisch, etwas Böses am Werke ist, wenn man der für die empfindliche frühe Kindheit geltenden Definition folgt, dass "das Böse das abwesende Gute" ist. Wir Psychoanalytikerinnen behandeln Patienten und Patientinnen, deren frühkindliche Beziehungserfahrungen häufig unzureichend waren, was die Grundlage für späteres Leiden legte. Viel wird von der Depression als der "Volkskrankheit Nr. 1" gesprochen, aber wenig bedacht, wieviel Bindungs- und Verlustkummer in diesem Symptom steckt. Wir können unser Wissen über lebensgeschichtliche Zusammenhänge, auch wenn wir eine Monokausalität natürlich nicht behaupten, nicht verleugnen. Auch wenn wir also keine letzten Wahrheiten kennen, so kennen wir doch Risikofaktoren und gefährdende Aspekte der frühen Betreuungskonstellationen, auf die wir so ernst und so hörbar wir möglich aufmerksam machen müssen, wenn Deutschland jetzt, wie es in der Parlamentsdebatte im Bundestag hieß, zu einem "Krippenland" werden soll. Ohne das kommen wir einer "Wahrheit", nämlich der Realität, noch nicht einmal nahe.

Mein Vortrag wird die folgenden sechs Stichworte aufgreifen:
Propaganda - früher Trennungsstress - geschürte Gegnerschaft - Zeit und Zeitrechnungen - professionelle Kinderbetreuung, und am Schluss noch das Stichwort: Wir

Propaganda

In der DDR hieß es 1950 in einer Wochenschau: "Immer neue Kinderheime werden ⋅⋅⋅ geschaffen. Sie sind eine wesentliche Erleichterung für unsere werktätigen Mütter." In China hieß es in den 70er und 80er Jahren "Den Frauen gehört die Hälfte des Himmels" und die Kinder wurden sechs Wochen nach der Geburt in den Volkskommunen kollektiv versorgt. In Israel, das zum Aufbau des Staates jede Arbeitskraft brauchte, kamen die Neugeborenen in "Kinderhäuser". In allen drei Gesellschaften wächst erst jetzt langsam das Bewusstsein für die Leiden der von ihren Eltern getrennten Kinder und die Unangemessenheit der kollektiven Betreuung von Kleinstkindern. In China haben sich die Gesetze verändert, aus Israel kommen bewegende Filme, die sich mit dem Aufwachsen in Kinderkrippen befassen und ein Fernsehbericht von ´Report München´ am 26. Februar 2008 stand unter dem Titel "Vergessen und verraten: die späten Leiden der DDR-Wochenkrippenkinder". Die Autorinnen des kürzlich erschienenen Buches über "Krippen-Kinder in der DDR" schreiben im Vorwort über ihre tiefe Traurigkeit, die sie während der Interviews häufig stellvertretend empfanden, Trauer, die die ehemaligen Krippenkinder selbst früh verdrängen, verleugnen und rationalisieren mussten angesichts ihrer doch nur ganz normalen Krippenvergangenheit. Der eigene Schmerz wird zum persönlichen Stigma, wenn die politische Propaganda glauben macht, dass Krippe etwas Gutes ist. Aber Krippen müssen erst einmal gut WERDEN, sie sind es noch nicht, und dafür brauchen wir unbedingt unsere wachgehaltene Ambivalenz.

Wie kein anderer hat Winnicott die Anfälligkeit der frühen Mutter-Kind-Beziehung für Einflüsse von außen beschrieben. Junge Mütter in ihrer noch unsicheren, ambivalenten (nämlich auch durch Frustrationen geprägten) und schuldgefühlanfälligen Verbindung zu ihrem Neugeborenen werden durch sogenannte "objektive Wahrheiten" von Profis nervös gemacht und verlieren das Vertrauen in ihre mütterlichen Fähigkeiten und in ihre einzigartige Bedeutung für ihr Kind. Auch für die Mütter ist die frühe Trennung von ihrem Baby eine große seelische Belastung, auch sie können in eine Verlassenheitsdepression und in Schuldgefühle verfallen, die sie, weil die Trennung aus sachlichen Gründen ja "vernünftig" erscheint und vom Zeitgeist als unschädlich deklariert wird, verdrängen und rationalisieren müssen. Heute ist das Wort "Frühförderung" ein Beispiel für solch eine Schmerz und Schuld abwehrende Rationalisierung. Mit Hinweisen auf "Frühförderung" und "Zeitfenster" werden Eltern in die Irre gelockt. "Ich finde das Konzept wunderbar" wird z.B. Loki Schmidt am 11.1.08 im Hamburger Abendblatt als Schirmherrin einer neuen Kita zitiert, "hier erfahren die Kleinen die Begegnung mit Sprache, Kunst und Natur". Weiter heißt es dann: "25 Kinder ab einem Lebensalter von acht Wochen werden künftig wochentags von 8-18 Uhr auf dem Campus der Bucerius Law School betreut. Vier Vollzeitpädagogen und Aushilfskräfte kümmern sich…Das ganzheitliche pädagogische Konzept umfasst naturwissenschaftliche und künstlerisch-ästhetische Bildung. Unser Angebot ist bilingual, Musik und Bewegung gehören zur Ganztagsbetreuung".

Was soll man dagegen sagen? Außer, dass das natürlich alles Quatsch ist, wenn es um acht Wochen alte Säuglinge oder 12 Monate alte Kinder geht, die gerade mal wackelig laufen können. In diesem kurzen Zeitungstext sind die gravierenden Probleme des Krippen-Konzepts alle enthalten: Zu früher Beginn, zu lange Dauer, unzureichende und instabile Personalausstattung, Überbetonung von Lernen und kognitiven Aspekten. Genau diese kritischen Faktoren werden der Öffentlichkeit, sagen wir lieber: gerade den noch ambivalenten Müttern als eindeutig gutes Angebot verkauft. Eingestandenermaßen ist Krippenpolitik ja Bevölkerungspolitik und dieses schon so akademisch klingende Angebot richtet sich an die vielzitierte "gut ausgebildete Spätgebärende". Sie hat vielleicht "Brigitte" gelesen und fand dort als Überschrift eines Interviews mit der Familienministerin den Satz : "Wir müssen die Kinder so früh wie möglich in die Welt schicken, denn ein Kind braucht mehr, als die Mutter allein ihm geben kann" und in der "Bunten" werden ihr (und uns) als Vorbilder all die Prominenten angeboten, die nach der Geburt ihres Kindes beteuern, die Babypause nur kurz zu halten und so früh wie möglich in den Beruf in Funk, Film und Fernsehen zurückzukehren. Dies ist der Zeitgeist und die Mutter, die ihm nicht entspricht, steht inzwischen schon etwas unter Rechtfertigungsdruck. In ihre gerade erst entstehende Beziehung zum Kind bringt die Propaganda Unruhe, Ungeduld, Unzufriedenheit und Selbstzweifel.

Die Beteuerungen, auch die entsprechenden Studien, dass frühe außerfamiliäre Betreuung unschädlich bzw. sogar - mindestens kognitiv - frühförderlich wirkt, wenn sie "gut genug" ist, sind gewiss nicht wahrheitswidrig. Es gibt aber wohl kaum einen gesellschaftlichen Bereich, in dem Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinanderklaffen und emotionale Realitäten zugunsten von Wunschdenken ignoriert werden. Krippenkinder sind infektanfälliger als "Familienkinder" - das ist lange bekannt, und wird immer noch allzu häufig als "willkommene Immunisierung" rationalisiert. Man muss aber jeweils differenzieren, ob die Krankheitsanfälligkeit nicht in vielen Fällen eher ein psychosomatisches Stressymptom darstellt. Kinderärzte und andere Berufsverbände warnen in offiziellen Verlautbarungen vor dem "Notstand in der Kinderkrippe" durch unzureichende Ausbildung und Personalausstattung. Die gegenwärtigen staatlichen Subventionen lassen Provisorien der Kleinstkindbetreuung entstehen, die Qualitätsgesichtspunkte allein schon aus Zeitmangel außer Acht lassen. Ein Personalschlüssel für eine Krippe für die unter Einjährigen von 1:6 (in der Realität mit Urlaubszeiten, Weiterbildungs- und Krankheitszeiten 1:10!) mit den dazugehörigen personellen Wechseln ist keine "Förderung", sondern "Aufbewahrung", und das ist "Schädigung".

Früher Trennungsstress

Kinderkrippen sind eine Einrichtung für Erwachsene. Arbeitgeber möchten die Mütter frühzeitig zurückgewinnen und Mütter möchten (oder müssen) so bald wie möglich die Befriedigungen der Mutterschaft mit denen des Arbeitslebens verbinden. Kinderkrippen sind dazu da, Mütter von ihren Kindern früh zu trennen. Die Qualität der Krippenerfahrung hängt ganz entscheidend davon ab, wann und wie diese Trennungsaufgabe bewältigt und wie gut der Kummer durch verlässlichen Elternersatz gemildert wird. Vor der faktischen Trennung trennt sich die Mutter bereits in Gedanken, die innere Trennungsbereitschaft muss quasi auf Termin hin beschleunigt werden, eine gewisse Immunisierung gegen den beidseitigen Trennungsschrecken wird unvermeidbar. Die dieser frühen Mutter-Kind-Zeit evolutionär unveränderbar innewohnende Trennungsangst wird heute schnell zu einer Schwäche der Mutter, die nicht loslassen kann, umgedeutet.

Die größte Quelle des Schreckens in der frühen Kindheit ist das Alleinsein und Getrenntsein von der Mutter bedeutet in den ersten Lebensmonaten und -jahren mit der Bedrohung durch Alleinsein fertig werden zu müssen. Man gewinnt heute mit diesem Thema mehr Aufmerksamkeit, wenn man auf "Stress" hinweist, auf die Auswirkungen von Stresshormonen auf die empfindliche Körper-Seele-Einheit, auf die Gehirnentwicklung, die bekanntlich extrem anfällig ist für Stresseinflüsse. Verlässlicher Mutterersatz mildert den Trennungsstress und den Trennungsschrecken, diesen selbst sollten wir aber keineswegs verleugnen. Und wir sollten vor allem nicht verleugnen, dass die Milderung des Schreckens unter objektiv schlechten Bedingungen nicht gelingen kann - mit allen Folgen für die möglicherweise lebenslang anhaltende Stressanfälligkeit des frühgeprägten und unberuhigten Organismus.

Wenn Sie Kinderkrippen besuchen, treffen Sie auf Kinder, die alleine sind - einfach, weil niemand da ist: große Gruppen und wenige Betreuerinnen sind an der Tagesordnung - und Sie treffen auf Kinder, die psychisch alleine sind, obwohl jemand da ist. Vergessen wir nicht, dass stundenlange/stundenweise Trennung von der Mutter im Krippenalter eigentlich immer forcierte Trennung ist, die den kindlichen Entwicklungsschritten noch nicht entspricht. Natürlich hat das Kind selbst auch ein Separationsbedürfnis - es wendet den Blick, den Kopf ab, möchte erforschen, sich wegbewegen, aber zur Freude daran gehört der eigene Antrieb. Wir verleugnen gerne diese Forcierung und dass sie bedeutet, dass das Kind dann im Nachhinein, also nach dem Krippenleben, viel Hilfe bei der Regulierung seiner Trennungsstresssymptome braucht.

Geschürte Gegnerschaft

Forcierung und Verleugnung liegen meines Erachtens auch vor, wenn es um den vielzitierten weiblichen Interessenkonflikt zwischen Kind und Karriere geht. Gerade die Krippenfrage wird unterschwellig angeheizt und auch verwirrt durch etwas, was ich hier einmal probeweise eine "geschürte Gegnerschaft von Mutter und Kind" nennen möchte. Geschürt in dem Maße, wie Müttern heute bestätigt wird, ein Kind, besonders natürlich mehrere Kinder, als erfolgverzögerndes Hindernis in der Berufswelt zu empfinden. Kinder SIND erfolgverzögernde Hindernisse in der Berufswelt, aber es ist etwas anderes, dieses Gefühl zu schüren, statt die Realität zu akzeptieren und die Entscheidungen auf der Basis dieser Realität und nicht auf der des Ressentiments gegen das Kind zu treffen. Ein Kind zu bekommen und Mutter zu werden, bedeutet im Allgemeinen (für Mütter und/oder Väter) im Beruf zurückstecken zu müssen, und zwar durch alle Bildungsschichten hindurch. Dies ist kein empörender Zustand, sondern liegt an der Abhängigkeit und Angewiesenheit der als biopsychische Frühgeburt zur Welt kommenden Kinder, einer von Janine Chasseguet-Smirgel unter Bezug auf Sigmund Freud so genannten "Universalie"¹ - einer biologischen Unveränderbarkeit, die das Kind besonders verletzbar, formbar und der Umgebung ausgeliefert sein lässt. Wenn man diese frühe Angewiesenheit als Gegnerschaft empfindet oder schürt, schürt man den unbewussten Hass der Mutter auf ihr (sie einschränkendes und herausforderndes) Kind. Diesen Hass gibt es, wie wir aus unseren Berufen besser als andere wissen, aber wir dürfen ihn nicht ressentimentgeladen aufheizen, wir müssen ihn und das Faktum anerkennen, dass das Kind den Handlungsspielraum der Mutter für einige Jahre beschränkt und dass dies ein unvermeidlicher, anstrengender und frustrierender Verzicht ist.

Das Schüren der Gegnerschaft geht mit ihrer Verleugnung einher, wenn wir heute hören, dass es kein Problem mehr sein soll oder darf, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen. Wenn man nicht aufpasst, geht diese Verleugnung immer gegen das Kind und seine Abhängigkeitsbedürfnisse aus, Die Notwendigkeit, eine Weile auf etwas verzichten zu müssen, wird öffentlich stets verleugnet, obwohl es die sicht- und fühlbare Wirklichkeit ist. Wir Frauen sind natürlich reizbar, wenn es um Verzicht gehen soll. "Frauen gehört die Hälfte des Himmels!" und wir sind neidisch auf die Andere, die voll im Beruf steht, wir sind aber auch neidisch auf die Andere, die in scheinbar zeitloser Verträumtheit ihr Kind wiegen kann. Das Ressentiment zwischen Müttern und Nicht-Müttern ist dabei ja nur die externalisierende Spaltung des Konflikts, den wir alle/wir Frauen in uns tragen, wie die Unzufriedenheit mit der jeweils eigenen Mutter, die uns die schwierige Aufgabe hinterlassen hat, uns zu identifizieren mit ihrer Mütterlichkeit und zugleich die männliche Welt zu begehren. Unser Kind schreit danach, buchstäblich, dass wir uns für eine Weile wieder auf "Mütterlichkeit" festlegen sollen und wir reagieren, neuer Freiheitsrechte beraubt, sehr ambivalent darauf bis hin zum unterschwelligen Hass auf das Kind. Oder wir versuchen, Mutterschaft zu idealisieren, was nur eine andere Art ist, auf den abverlangten Verzicht, der mit ihr einhergeht, zu reagieren.

Zeit und Zeitrechnungen

Wir wissen ja seit langem vieles über die Wirkungen und Auswirkungen, Bedeutungen und lebenslange Einflüsse früher Erfahrungen. Manches Wissen und Mit-Leiden (was immer ja auch Spüren unbewusster eigener schmerzlicher Erinnerungen beinhaltet) halten wir aber nicht so gut aus. Der Ausbau der Betreuungsplätze für Kleinstkinder ist immerhin ein Anstoß, sich das vorhandene Wissen über die "Universalie" der psycho-biologischen Abhängigkeit des menschlichen Säuglings wieder bewusst zu machen. Wir können in der gegenwärtigen Politik des Krippenausbaus auch eine Chance sehen, die Bedeutung des guten Umgangs mit früher Kindheit zu unterstreichen.

Veronika Mächtlinger, die ihren Vortrag auf der Jahrestagung der analytischen Kinder- und Jugendlichentherapeuten zum "Problem der Trennung bei Kleinkindern" schon 1987 eine "Rückbesinnung" nannte, meinte damals: "Ich frage mich, ob wir nicht alle eigene innere Gründe haben, solche bedrohlichen Trennungsaffekte zu vermeiden, zu verleugnen. Ist dies vielleicht auch der Grund, warum das viele Wissen, das wir seit Jahren gesammelt haben über die Folgen von Trennungen bei Kleinkindern, uns immer wieder verloren zu gehen scheint?" Kein noch so schneller Fortschritt konnte bisher die Zeit verkürzen, die eine Schwangerschaft braucht oder die Reifungszeit, die der kindliche Organismus einschließlich des kindlichen Gehirns und der kindlichen Gefühlswelt benötigen. Dies ist die entschleunigende Provokation des Kindes, gegen die wir uns immer wieder wehren.

In der Krippendiskussion spielt - dies gehört weiterhin zum Stichwort: Zeit - die Verleugnung und Verwischung von unterschiedlichen Zeitrechnungen eine Rolle. Es gibt "Mutterzeit" oder " Elternzeit" und es gibt die " Arbeitszeit" und beide passen - Elternzeit und Arbeitszeit - überhaupt nicht zusammen. Mütterliche Zeit ist geprägt von Wiederholungen, wiederkehrenden Rhythmen, sie ist in diesen stereotypen Wiederholungen auf ein Ewigkeitserleben hin ausgerichtet, das die Mutter ihrem Kind als unersetzliche subjektive Zuversichts- und Verlässlichkeit-Erfahrung mitgibt. Die Gleichförmigkeit, das scheinbare Stillstehen der Zeit mit dem Kind kann wie ein Kreisverkehr erlebt werden, in dem man auch einen Rappel kriegen kann. Nicht von ungefähr ist es diese Zeit, in der sich Mütter aller Bildungsschichten gerne zusammentun, um ihrer Ausgegrenztheit von der Arbeitswelt entgegenzuwirken. Die Ausgegrenztheit der Mutterzeit ist ein Leiden, das wir lindern müssen, aber nicht unbedingt durch Verkürzung dieser Zeit. Genau diese Verkürzung der mütterlichen Zeit erscheint nun aber in der Krippendiskussion als pragmatische Konfliktlösung. Abkürzen ausgerechnet zu Lasten der frühen Schutzzone der Mutter-Kind-Bindung und zu Gunsten der - vielleicht einfacher zu handhabenden - Zeit der Arbeitswelt. Arbeitszeit ist linear, zielgerichtet auf Termine und Zeitpunkte hin. Sie ist aber auch unmütterlich im Sinne von verständnislos. Sie schert sich nicht um Abhängigkeitsbedürfnisse und individuell sensible Trennungsvorgänge, sie ist auf Vorwärtskommen ausgerichtet.

Der Wunsch und die Notwendigkeit, mütterliche Zeit und Arbeitszeit frühzeitig zu vereinbaren, brauchte schon immer ein zeitliches und personelles Scharnier zwischen diesen verschiedenen Welten. Dieses Verbindungsstück ist so wichtig wie anfällig. Heute springt der Staat bestmöglich ein, aber unter vorrangiger Berücksichtigung der Arbeitszeit und bevölkerungspolitischer Interessen und stellt das Scharnier in Form von Krippenversorgung zur Verfügung, damit es einen reibungslosen Übergang zwischen den Zeiten mit und ohne Kind geben kann. Die grundsätzliche Unvereinbarkeit, - hier kann man von "natürlicher Gegnerschaft" sprechen - der verschiedenen Zeitformen wird dadurch formal berücksichtigt, dass jede Krippe heute "Eingewöhnungszeiten" bereithält, es sollte die kalten Szenen der bloßen "Abgabe" des Kindes an der Schwelle zur Krippe heute nicht mehr geben. Aber wir missachten leicht und ständig den Umstand, dass der Übergang zwischen den Zeiten TÄGLICH mit das Wichtigste ist in der Frage der Qualität von Krippenbetreuung. Der Übergang muss täglich neu geschafft und durchlebt werden; und die Bereitschaft, flexibel auf die täglich neue Kondition des Kindes und der Mutter zu reagieren, die ihren Rhythmus finden und bewahren müssen, macht die wirkliche Qualität einer Krippe aus.

Die Übergangszeit ist eine ganz eigene, eine dritte Zeit. Ich möchte sie die "ambivalente Zeit" nennen, geprägt von emotionaler Ambivalenz, da wo sich psychischer und Handlungsspielraum überlappen. In der Ambivalenz der Übergangzeit ist das Wissen enthalten, dass Trennung von der Mutter im Krippenalter, sehr oft - grundsätzlich, weil das Kind zu jung ist, oder im täglichen Einzelfall, weil das Kind noch Zeit für den Abschied braucht - forcierte Trennung ist, die nicht vom Kind ausgeht. Diese forcierte Trennung, die der Mutter Zeit einbringen soll für ihre anderen Vorhaben in der linearen Arbeitszeit-Welt, kostet wiederum auch viel mütterliche Zeit insofern, als die neue Bindung, die psychisch über die Trennung hinwegrettet, langsam und behutsam, eben als Verlängerung und Erweiterung des mütterlichen Rhythmus geknüpft werden muss.

Professionelle Kinderbetreuung

Die mediale Berichterstattung über Kindesmisshandlungen und Kindstötungen hat einen Beitrag geleistet zu der Intensität und Polarität der Krippendiskussion. Könnte nicht die früh einsetzende außerfamiliäre Betreuung diese Fälle verhindern oder später lindern? Es kommt ja gerade auch in unserem Beruf vor, dass man bei der Diskussion eines bedrückenden Falles einer das Kind deutlich schädigenden Mutterbeziehung zu dem Schluss kommen möchte, hier wäre eine Krippe vielleicht eine Rettung (gewesen).
Wie aber muss eine professionelle Betreuungsinstitution für kleine Kinder beschaffen sein, um Schäden aus der Mutterbeziehung zu lindern? Oder andersherum: René Spitz hat schon 1946 in seinen Forschungen zur Verlassenheitsdepression in der frühen Kindheit festgestellt - auch dies gehört zu unserem Wissensfundus über "facts of life" und wird von Bindungs- und Verhaltensforschern immer wieder bestätigt -, dass gerade Kinder mit einer guten und sicheren Mutterbindung auf die forcierte und zu lange Trennung mit besonders heftigen Symptomen der Depression reagieren. Trennungsprotest ist gesund und entlädt Stresshormone nach außen, während "pflegeleichte" Kinder häufig innerorganismisch vom Stresshormon Cortisol überschwemmt sind, was ihren empfindlichen Nervenzellen Schaden zufügt und zu einer lebenslangen Stress-Intoleranz führen kann. Also müsste die erste Frage ergänzt werden durch eine zweite: wie müsste eine professionelle Betreuungsinstitution beschaffen sein, um den Stress der Kinder beim Verlust der guten Bindung zu lindern? Für beide Fälle müsste die Antwort logisch lauten: die professionelle Betreuung muss im Grunde BESSER sein als die Mutter. Geben wir diesem Gedanken eine Chance: Wie kann eine Krippenerzieherin also BESSER sein können und müssen als die Mutter?

Hier hilft es, die verschiedenen Spielräume von Mutter-Zeit und Arbeitszeit, psychischem und emotionalem Spielraum auf der einen und Handlungsspielraum auf der anderen Seite zu differenzieren. Die Mutter bewegt sich mit ihrem Kind in einem intensiven affektiven Spielraum gegenseitiger Abhängigkeit, die wir Liebe nennen. Die emotionale Bewegung, die Eltern bei der Geburt ihres Kindes oftmals als tiefe Erschütterung erleben, besteht auch in dem Erkennen, dass eine Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, um das Weiterleben ihres Kindes zu ermöglichen, in ihnen mitgeboren wurde, über die nicht rational entschieden wird. Diese Bereitschaft zur Selbstlosigkeit macht durchaus Angst und wird unbewusst auch bekämpft, was zum Thema des "unbewussten Hasses" der Mutter auf ihr Kind, oder eben zu deren geleugneten Gegnerschaft gehört. Evolutionär ist unsere derzeitige menschliche Fähigkeit oder Bereitschaft, unsere empfindliche und abhängigen Nachkommenschaft angemessen und förderlich zu versorgen und zu lieben, höchstens als "work in progress" zu bezeichnen.² Auf unsere menschliche Gesamtheit hin betrachtet, schaffen wir es mitnichten gut genug, die nötige Selbstverleugnung, Frustrationstoleranz, aggressive und sexuelle Impulshemmung, den Triebverzicht und Lustaufschub in der Beziehung zu unseren Kindern aufzubringen. Überall kann man beobachten, dass kleine, abhängige Kinder schlecht behandelt, in ihrem erst noch zu erwerbenden Selbstwert verletzt, in abfälligem oder scharf schneidenden Ton adressiert oder überhört werden. Eltern sind mit ihren Kindern emotional so verwickelt, dass sie es gerade deshalb manchmal in besonderem Maß schwer haben, die Affekte zu kontrollieren. Wir retten uns alle über unsere unvermeidlichen Schwächen und Fehler in der Betreuung unserer eigenen Kinder hinweg mit Winnicotts Terminus des „good enough". Eltern, weil sie lieben und weil diese Liebe affektive Abhängigkeit und das permanente unbewusste Aufrütteln eigener Kindheitskonflikte mit sich bringt, sind - sagen wir mal: partiell - entschuldigt, auch wenn die Affekte innerhalb des emotionalen Spielraums zwischen Mutter/Eltern und Kind mitunter die Grenzen zum impulskontrollierten Handlungsspielraum durchbrechen.

Die Krippenerzieherin nun, deren Beruf es ist, zu bemuttern, Mütterlichkeit zu bieten, die abwesende schlechte oder die abwesende gute Mutter für das Kind zu ersetzen, muss das Kind nicht lieben. Sie liebt ihre eigenen Kinder. Die fremden, ihr anvertrauten schützt sie und pflegt sie, fördert sie professionell. Ihr emotionaler Spielraum ist in Bezug auf die Krippenkinder naturgemäß nicht so geräumig, sie ist nicht unbewusst mit diesem speziellen Kind verbandelt und verstrickt. Das ist auch gut so. Wir können von Erzieherinnen nicht verlangen und wünschen es auch nicht, dass sie verstrickt und abhängig lieben wie Eltern und daher können wir und müssen wir auch erwarten, dass ihre Impulskontrolle den Krippenkindern gegenüber besser ist, dass sie ihren Handlungsspielraum professionell auf die Bedürfnisse des zunächst ausschließlich auf Wohlgefühl, Sicherheit und gute Erfahrungen angewiesenen Kleinstkindes hin ausrichten. In der Krippe dürfen keine Affektdurchbrüche gegen das Kind geschehen. Es darf kein abfälliger, herablassender Ton herrschen, die Selbstwertentwicklung muss in Handlungen, Taten, Worten, Tonfall und Blick unterstützt werden. Das, was die gute Mutter, weil sie gerade nicht da ist, nicht geben kann, oder was die nicht so gute Mutter, weil sie unbewusst affektiv übel verstrickt ist mit Kind und eigener Kindheit nicht geben kann, das gibt die professionelle Ersatz-Mutter zeitlich begrenzt dem empfindlichen und angewiesenen Kind in ihrer Arbeitszeit.

Mutter und Ersatz-Mutter in der Krippe; ein Verhältnis, das oftmals unterschwellig von Schuldgefühl, Vorwurf und Rivalität geprägt sein kann. Viel verlangt auch, weil die durchschnittlichen Bedingungen, was Personalschlüssel und Ausbildung angeht, in unseren Kinderkrippen im Vergleich zu dieser zwingenden Qualitätsanforderung geradezu lachhaft sind. Aber wir müssen diese Qualität von der Krippenbetreuung verlangen und überwachen, wenn sie, wie die Politik es behauptet, tatsächlich entwicklungsfördernd oder wenigstens unschädlich wirken soll. In der Krippe darf dem Kind nichts Schlimmes passieren - und dieser Satz beinhaltet ein weiteres Risiko, das ich hier nicht weiter illustrieren kann, aber ich möchte an dieser Stelle eine engagierte Großmutter zitieren, die sagte: "Eine Mutter, die ihr Kind in die Krippe gibt, trennt sich von mehr als nur ein paar Stunden mit ihrem Kind - sie trennt sich von dem Wissen, was ihrem Kind in subjektiv langen täglichen Stunden widerfährt."

In einer guten Krippe - nennen wir sie ruhig unsere Modell-Krippe - arbeiten Menschen, die den kleinen Kindern - deren Lebensalter angemessen - durch ihre Handlungen, ihre Blicke und ihre Stimme vermitteln,

  • dass sie Zeit genug haben, sich dem Eingewöhnungs- und Kennenlerntempo des Kindes anzupassen;
  • dass sie die Anwesenheit der Eltern dabei nicht nur tolerieren, sondern unterstützen;
  • dass sie die Bindung des Kindes an seine Mutter respektieren und stärken und im Sinne der Mutter handeln, die gerade nicht für ihr Kind sorgen kann;
  • dass sie sich nicht als Rivalen oder Konkurrenten der Mutter verstehen;
  • dass sie wissen, wie das Kind, je länger die Trennung andauert, die Mutter schmerzlich vermisst und daher umso verlässlicher psychisch und physisch anwesend sein müssen;
  • dass sie es als ihre wichtigste Aufgabe begreifen, den kindlichen psychophysischen Organismus vor Erschütterungen und Angstüberflutungen durch Verlassenheitsgefühle zu schützen, und dass sie alles dafür tun, das keimende Selbstwertgefühl des Kindes zu stärken und zu bestätigen;
  • dass sie das Kind niemals aggressiv und abfällig behandeln werden;
  • dass sie wissen, in wie hohem Maße das kindliche Gehirn in seiner Entwicklung von Ruhe und das Wohlgefühl stimulierenden Wiederholungen abhängig ist.

 

WIR

Zum Schluss nun möchte ich noch eine Überlegung anstellen, die die Frage aufgreift, warum wir uns hier in Deutschland anscheinend schwerer tun mit einer wohlwollend-optimistischen Haltung zur Krippenfrage. Als Argument pro Krippe wird ja oft der Hinweis auf unsere europäischen Nachbarn genutzt, bei denen seit Jahrzehnten die Krippenbetreuung selbstverständlich und gesellschaftlich unumstritten sei. Abgesehen davon, dass das auch nicht ganz stimmt, ist es aber sicher richtig, dass die Debatte in unserem Land irgendwie anders und heftiger verläuft.

Krippenkinder, das haben Studien belegt, sind hinsichtlich ihrer Affektkontrolle den Familienkindern voraus; in Krippen ist es ja wichtig, dass die Kinder nicht mehr weinen, erstens gelten sie dann als "gut eingewöhnt" - was überhaupt nicht stimmen muss - und zweitens bringt ein weinendes Kind eine affektive Ansteckungsgefahr in die ganze Gruppe. Krippenkinder sind entwicklungspsychologisch ja noch im vor-empathischen Stadium, nämlich im Stadium der Affekt-Ansteckung. Wenn eines weint, weint ein anderes mit. Die Affektansteckung zu unterbinden ist also ein übliches Ziel in der Krippe und dafür muss der allgemeine Level des Affektausdrucks niedrig gehalten werden. Wir alle wissen, wie problematisch und langfristig pathogen die Unterdrückung des Affektausdrucks vor dem Stadium der Affektdifferenzierung sein kann.

Wir sprechen von Bindung mehr oder weniger als Wert an sich, aber Bindung wird nicht nur für Sicherheit und Beziehungslernen gebraucht, sondern vor allem als Grundlage und Schule für ein reiches und differenziertes, möglichst angstreduziertes Affektleben, das die Erfahrung mit dem Auf- und Abschwellen der affektiven Spannungsbögen enthält. Früher Anpassungsdruck im Sinne von zu früher Affektkontrolle ist riskant für die Persönlichkeitsentwicklung. Der Psychoanalytiker Donald Meltzer schreibt in seinem Aufsatz "A one-year-old goes to nursery: a parable of confusing times"³ über einen kleinen Jungen, der mit einem Jahr in die Krippe kommt, ein von den Eltern zärtlich geliebtes Kind, das seine Gefühle spontan nach außen zeigt, kontaktfreudig ist, auch bei Kleinigkeiten schnell mal weint und auf aggressive Begegnungen ängstlich reagiert. Nach fünf Monaten Krippenbesuch - und es war eine sogenannte "gute" Krippe - schildert Meltzer den Jungen als verändert, nun als ein Kind, das das Recht des Stärkeren anerkennt und auch ausübt, selbst bei heftigeren Zusammenstößen nicht mehr weint und andere Kinder ermahnt, nicht zu weinen. Er zeige sich nun insgesamt "gut angepasst". Meltzer kommentiert: He gives promise of being a good organisation-man, and that is what we are determined to be worried about."Er verspricht, ein guter Organisations-Mensch zu werden und wir sind entschlossen, uns darüber Sorgen zu machen!"

Das kindliche Bindungsbedürfnis stößt sich in unseren Zeiten am Persönlichkeitsideal, das Separations- und Leistungsfähigkeit betont. Es stößt sich an den Forderungen des Arbeitsmarktes und an uns Frauen, die wir vorwärts kommen möchten und die Befriedigungen der Arbeitswelt begehren. Die Krippendebatte ist auch eine Menschenbilddebatte, was teilweise die Heftigkeit des Streits erklärt. Diese unterschwellige Menschen- und Frauenbilddebatte erklärt auch, warum wir in Deutschland streiten müssen, während unsere europäischen Nachbarn dies weniger tun. Wir haben - historisch betrachtet - andere Erfahrungen mit uns selbst als unsere Nachbarn, und eben mehr Anlass und auch mehr begründete Notwendigkeit zur Besorgnis, wenn wir durch unhinterfragte, flächendeckende Krippenerziehung in sehr jungem Alter gut funktionierende Organisations-Menschen produzieren, die ihre Affekte zu früh, zu sehr kontrollieren und verdrängen müssen zugunsten einer reibungslosen Anpassung. Dann wären gerade WIR - und ein Bewusstsein für diese Möglichkeit sollten wir uns zu gute halten - letztlich beunruhigt von der Frage, ob institutionelle kollektive Betreuung in der Zeit der frühesten Prägungen vielleicht nicht automatisch einen Fortschritt auf dem Weg zur besseren Bemutterung darstellt, sondern auch, und besonders unter den unzureichenden gegenwärtigen Bedingungen, ein menschlicher Rückschritt sein könnte.

Mai 2009

* Leicht gekürzte Fassung eines Vortrags gehalten bei der Tagung "Kinder in der Krippe - Chancen und Risiken aus psychoanalytischer Sicht" am 11./12. Oktober 2008

** Ann-Kathrin Scheerer, Diplom-Psychologin, niedergelassene Psychoanalytikerin in Hamburg

 

¹ Bela Grunberger, Janine Chasseguet-Smirgel (1976): Freud oder Reich? Psychoanalyse und Illusion. Ullstein. Frankfurt (Ullstein) 1979, S. 17 ff
² L. Cozolino (2006): Neuroscience and Human relationships. Attachment and the Developing Brain. New York (W.W.Norton)
³ D. Meltzer (1984): A One-Year Old Goes to Nursery: A Parable of Confusing Times. In: J.Child Psychotherapy, 1984, Vol 10, 89-104