Die Geschichte der "Balint-Gruppe" ist ca. ein halbes Jahrhundert alt: 1954 berichtete Michael Balint im "British Medical Journal" erstmals über eine Methode der ärztlichen Weiterbildung, die später unter dem Begriff "Balint-Gruppe" bekannt wurde (1). 1957 erschien Balints Klassiker: "The doctor, his patient and the illness" (3,4).
Ca. 50 Jahre Balint-Gruppe sind Anlass, auf den Stellenwert dieser klinischen Reflexionsmethode für eine patientenorientierte Medizin hinzuweisen. Im September 2007 wurde dieses Datum mit einem internationalen Kongress in Lissabon gewürdigt.
An der Londoner Tavistock Clinic entwickelte Michael Balint nach dem Zweiten Weltkrieg zusammen mit seiner Frau Enid eine Weiterbildungsmethode, um Hausärzte in ihrer täglichen Praxis zu befähigen, ihre Patienten, besonders die "schwierigen", besser verstehen und behandeln zu können. Sie wurde international ein Element in der Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Psychotherapeuten; sie wurde auch zu einer Supervisionsmethode in anderen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens (z.B. 5, 6). Die ersten Gruppenteilnehmer waren keine Ärzte, sondern Sozialarbeiter, die Ehepaare berieten. Balint griff auf seine Erfahrungen aus der Gruppensupervision in Budapest zurück. Ab 1950 führte er mit niedergelassenen Hausärzten Fallkonferenzen mit Forschungscharakter durch und bezeichnete sie als "Diskussionsseminare über psychische Probleme in der ärztlichen Praxis".
Das Ziel der Fallkonferenz
"Unser Hauptziel war die möglichst gründliche Untersuchung der ständig wechselnden Arzt-Patient-Beziehung, d.h. das Studium der Pharmakologie der Droge ´Arzt´." (4) Die Metapher von "der Droge Arzt" (besser übersetzt: "der Arzt als Pharmakon") zielte darauf ab, dass die Wirksamkeit des Arztes vergleichbar einem Pharmakon sei und von der Dosis, dem Zeitpunkt, der Applikationsweise abhänge und dass der Arzt neben den erwünschen Haupt- und Nebenwirkungen aber auch unerwünschte Nebenwirkungen auslöse, die die Wirksamkeit seiner Interventionen beeinträchtigen oder gar zunichte machen können.
Der Hintergrund der Methode
Die Methode entstand aus der damals wie heute gültigen klinischen Erfahrung, dass ein nicht unerheblicher Teil der Patienten einer Allgemeinpraxis keine primären Organkrankheiten aufweist, sondern psychosoziale Konflikte vom Patienten somatisch präsentiert werden. In geringerem Umfang gilt dies für Patienten in Facharztpraxen und Kliniken. Eine primär krankheitsorientierte statt patientenorientierte Medizin läuft Gefahr, das kommunikative Missverständnis nicht zu erkennen. Dem Patienten wird nicht kausal geholfen, er fühlt sich nicht verstanden. Die Unzufriedenheit des Patienten, der neue Beschwerden präsentieren, sich fordernder verhalten mag oder gar den Arzt wechselt, hinterlässt aufseiten des Arztes ebenfalls ein Gefühl von Unzufriedenheit und Ärger. Neben Fehl- oder Verlegenheitsdiagnosen besteht die Gefahr der iatrogenen Fixierung von Beschwerden und der zeit- und kostspielige Beginn einer Patientenkarriere.
Das Konzept der Balint-Gruppe
Dem Konzept liegt das psychodynamische Krankheitsverständnis der Psychoanalyse zugrunde. Psychodynamik meint, dass ungelöste Konflikte oder Traumen in der Entwicklung der Kindheit und Jugendzeit später im Erwachsenenalter durch ähnliche Konflikte reaktiviert werden und zu Symptombildung und Krankheit führen können. Den psychischen Phänomenen der Übertragung, Gegenübertragung und Regression kommen dabei zentrale Bedeutung bei:
Übertragung ist ein ubiquitäres psychologischen Phänomen, das in Alltagssituationen vorkommt, sobald Menschen kommunizieren. Liegt kein nennenswerter früherer oder aktueller Konflikt vor, ist das Verhalten situationsangemessen; dagegen ist das Inadäquate in einer Begegnung zweier Menschen ein Hinweis auf das Vorliegen eines intrapsychischen Konflikts oder einer traumatischen Erfahrung. Das unbewusste Übertragungsangebot des Patienten kann erfahren werden durch die Frage: "Wie geht der Patient mit mir um?"
Verschärft wird die Übertragung durch das Phänomen der psychischen Regression, die der Krankenrolle eigen ist. Der Patient bringt nicht nur sein Leiden verdichtet, oft szenisch in die Untersuchungssituation ein, sondern er überträgt bewusste und unbewusste Erwartungen an die Person des Arztes; er wiederholt frühere Beziehungserfahrungen.
Das Gegenstück: die Gegenübertragung ist die zunächst unbewusste oder bewusste Reaktion des Arztes auf das Übertragungsangebot des Patienten gemäß der Frage: "Was macht der Patient mit mir; welche Gefühle und Reaktionen löst er in mir aus?"
Da auch der Arzt eigene biographische Erfahrungen auf seinen Patienten überträgt, ist es notwendig, zwischen den eigenen privaten Anteilen der Übertragung des Arztes und der vom Patienten induzierten Gegenübertragung zu unterscheiden; der Arzt muss sie sozusagen bei sich subtrahieren können.
Das Konzept der Balint-Gruppe zielt insbesondere auf die Bewusstmachung der Gegenübertragung, die der Patient beim Arzt hinterlässt, ab.Gegenübertragungsgefühle wie Abneigung, Ärger, Desinteresse oder verstärktes Interesse, starkes Mitleid, Hilflosigkeit etc. sind keine störenden privaten Phänomene, sondern wertvolle diagnostische Wahrnehmungen, die zum Verständnis der Interaktion Patient-Arzt und der Psychodynamik des Patienten professionell nutzbar sind und in die Interventionen des Arztes einfließen können.
Balint sieht die Möglichkeiten und Grenzen seiner Weiterbildungsmethode in der medizinischen Praxis (1,4): Sie möchte dem Arzt helfen, neue Fähigkeiten (skills) zu erwerben, in dem er dem Patienten zuhört, den manifesten wie den latenten Text seiner Beschwerdeschilderung wahrnimmt (Übertragung) und dabei in sich selbst hineinhört (Gegenübertragung). Dies erfordert ein "tuning in", eine veränderte Haltung, die eine Einstimmung der Wahrnehmung auch auf die unbewußten Botschaften des Patienten ermöglicht. 1965 schrieb Balint seinen berühmten Satz: "Wer Fragen stellt, erhält Antworten, aber sonst nicht viel." (8)
Der Stellenwert des Balint-Konzeptes heute
Das Balint-Konzept entstand aus der Kritik am einseitigen Krankheitsverständnis der Medizin und an der Tatsache, dass in der hausärztlichen Praxis sehr wenig Zeit für den Arzt-Patient-Kontakt zur Verfügung steht. Balint versuchte, Haus- und Fachärzten eine psychosomatische, heute würden wir sagen: ganzheitliche Kompetenz zu vermitteln. Diese Kritik an der Krankheitsorientierung der Medizin ist so alt wie die moderne Medizin selbst; sie findet sich auf internationaler Ebene und ist unabhängig von der Art des Gesundheitssystems. So beklagt der Kardiologe Lown, dass die Medizin in den USA "die Kunst des Heilens verloren" habe, mit der Anamneseerhebung und gründlichen körperlichen Untersuchung "kurzer Prozess" gemacht werde, obgleich eine richtige Diagnose zu ca. 75 % alleine durch das Gespräch mit dem Patienten zustande komme (7). Untersuchung zur Arzt-Patient-Interaktion zeigen, dass Patienten beim Hausarzt im Durchschnitt nach 18 bis 26 Sekunden in der Schilderung ihrer für den Arzt neuen Beschwerden unterbrochen würden mit der Folge, dass die Qualität der Behandlung leide; die vollständige Schilderung des Patienten und ein Zuhören des Arztes spare sogar etwas Zeit (9). Dieser qualitative und quantitative positive Effekt dürfte besonders bei "schwierigen" und psychosomatischen Patienten zum Tragen kommen.
Durch die Einführung der "psychosomatischen Grundversorgung" 1987 können Ärzte in der Primärversorgung gewisse psychosoziale und psychosomatische Kompetenzen in Form einer Zusatzqualifikation unterhalb einer Facharztweiterbildung erwerben und honoriert bekommen. Das Konzept der Balint-Gruppe ist ein fester Bestandteil dieser Zusatzqualifikation zur Reflexion der Arzt-Patient-Beziehung.
Ärztliches Handeln steht mehr denn je unter einem starken ökonomischen und damit zeitlichen Druck, es bleibt immer weniger Zeit zum Zuhören und Sprechen. Patienten, die sich von ihrem Arzt ganzheitlich, d. h. bio-psycho-sozial verstanden und behandelt fühlen, dürften zufriedener sein, bereitwilliger bei der Behandlung mitarbeiten, was im Endeffekt dazu beitragen kann, die Gesundheitskosten zu senken. Auf Seiten des Arztes dürfte sich dadurch eine höhere Arbeitszufriedenheit einstellen. Balint-Gruppen liefern somit einen Beitrag zu einer besseren Qualität der Patientenversorgung und für eine größere Arbeitszufriedenheit auf Seiten des Arztes.
Literatur:
1. Balint M (1954): Training general practitioners in psychotherapy. BMJ. 1:115-120
2. Balint, M (1955): Die Gruppenkonferenz. In. Nedelmann C, Ferstl H (Hg.): Die Methode der Balint-Gruppe.
Stuttgart: Klett-Cotta 1989; S. 115-121
3. Balint M (1957): The doctor, his patient and the illness". London: Pitman Medical Publ.
4. Balint, M (2001): Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. 10. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta
5. Elzer, M (1997): Balint-Seminare im Pflegestudium. Pflege; 10:229-233
6. Elzer, M. (2007): Der "schwierige" Patient. Balint-Gruppe für Pflegende.
Die Schwester Der Pfleger 46. Jahrg. 01/07, S. 38-41
7. Lown, B (2002): Die verlorene Kunst des Heilens. Stuttgart: Schattauer; S. 117ff
8. Nedelmann C, Ferstl H (Hrsg): Die Methode der Balint-Gruppe. Stuttgart: Klett-Cotta 1989; S. 134
9. Rabinowitz, I., Luzzatti, R., Tamir, A., Reis, S. (2004): Length of patient's monologue, rate of completion, and realtion to other components of clinical encounter: observational intervention study in primary care. BMJ 328:501-2
10. Roth, G (2001): Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten
steuert. Frankfurt: Suhrkamp 2001
11. www.balintgesellschaft.de/michael_balint.htm (Zugriff: 20. Jan. 2007)
(November 2007)
Zur Person Michael Balint: (11) Er wurde 1896 in Budapest geboren und hieß Mihály Maurice Bergsmann. Er legte den jüdischen Glauben ab und wechselte seinen Namen. Durch seine Schwester lernte er Margret Mahler und seine spätere Frau Alice kennen, durch die er auf Freuds Schriften aufmerksam wurde. Seine Vater war praktischer Arzt in Budapest. Balint studierte auf Wunsch des Vater Medizin, das Studium wurde durch den Kriegsdienst bis 1918 unterbrochen. Er bekam 1919 in Budapest Kontakt S. Ferenczy. 1920 geht Balint mit Alice nach Berlin und arbeitete in der Biochemie bei dem Zellphysiologen Otto Warburg, der 1931 den Nobelpreis erhielt. Parallel dazu machte er eine Lehranalyse bei Hanns Sachs am Berliner Psychoanalytischen Institut und arbeitete mit psychosomatischen Patienten. Auf Hanns Sachs geht übrigens der Begriff "psychosomatische Medizin" zurück. 1924 geht Balint nach Budapest zurück und setzt seine Analyse bei Ferenczy fort. Um 1930 initiierte er "Seminare für praktische Ärzte", die er aber wegen der politischen Repression im damaligen Ungarn wieder einstellte. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs emigrierte Balint zusammen mit seiner Frau Alice nach England, die 1940 unerwartet starb. Balint arbeitete als Psychiater in Machester. 1945 erfuhr er, dass seine Eltern sich der Verhaftung durch die Nazis durch Selbstmord entzogen hatten. 1945 zog er nach London und erwarb einen Master und (2. Doktortitel) in Psychologie. 1949 lernte er seine spätere Ehefrau Enid kennen, die bereits an der berühmten Tavistock Clinik arbeitete. Mit ihr zusammen entwickelte er die "Diskussionsseminare über psychische Probleme in der ärztlichen Praxis", die später mit dem Namen Balint verbunden wurden. Das Buch: "Der Arzt, sein Patient und die Krankheit" stellt einen Forschungsbericht einschließlich Katamnesen der ersten Balint-Gruppe dar. 1970 stirbt Michael Balint in London. Zur Rezeption des Konzepts sei auf den lesenwerten Reader von Nedelmann und Ferstl 1989 verwiesen (8).
Dezember 2008
* Autor: Matthias Elzer, Prof. Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DPV/IPA), Gruppenanalytiker (DAGG), Balint-Gruppenleiter. Professor für Sozialpsychiatrie, Psychotherapie, Beratung an der Hochschule Fulda und in eigener Praxis in Hofheim/Ts.