Die Redaktion von "psychoanalyse-aktuell" hat einige Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern der "Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung" (DPV) gebeten aufzuschreiben, welche Bedeutung die Psychoanalyse für sie heute habe. Der Beitrag sollte kurz und durchaus mit einer subjektiven Note versehen sein. Wir stellen die Kurz-Beiträge in der Reihenfolge des Eingangs bei der Redaktion vor.
Frankfurt a. M., 4. Dezember 2008
Die Redaktion
Matthias Elzer, Hofheim/Taunus
"Die Bedeutung der Psychoanalyse heute"
Die Frage zu beantworten, welche Bedeutung die Psychoanalyse heute - aus meiner subjektiven Sicht - habe, erfordert zwei Anmerkungen:
1. zur Frage, was mit "Psychoanalyse" gemeint ist, und
2. zur Frage, welche Bedeutung die Psychoanalyse in den letzten Jahrzehnten hatte.
Zu 1.: Wenn ich Studenten frage, was ihnen zum Begriff Psychoanalyse einfällt, so kommen in der Regel folgende Voten: "Freud", "Traum", "Therapie auf der Couch". Später: "Freudscher Versprecher", "das Unterbewusste" oder "Unbewusste" und "Ödipus-Komplex". Die meisten Einfälle beziehen sich auf die Psychoanalyse als Behandlungsmethode und als Theorie. Historisch ist die Psychoanalyse aus der Behandlung von Patienten mit seelischen Störungen entstanden; ihr Vorläufer war die Hypnose, die experimentell zeigte, dass das Seelenleben des Menschen aus bewussten und unbewussten Anteilen besteht.
Eine spezifische Behandlungsmethode anzuwenden, setzt voraus, eine Theorie oder Modelle über die Psyche des Menschen und ihre Störungen (Psychopathologie) zu haben. Die Psychoanalyse bietet - und das ist in der Psychologie unumstritten - die umfassendste Theorie über das Seelenleben des Menschen an. Freud nannte sie "Metapsychologie".
Die Psychoanalyse ist aber auch eine Forschungsmethode, die sich der hermeneutischen (verstehenden) und der naturwissenschaftlich (messenden und erklärenden) Methoden bedient. Sie ist aber nicht nur eine Methode der Erforschung des Individuums, sondern auch von Beziehungen zwischen Menschen, von Gruppen, Massen, sozialen Systemen, Gesellschaften und Kulturen. Vor allem die Forschungsergebnisse zur Psychologie der Gruppe und Masse haben wichtige Erkenntnisse geliefert.
Behandlungsmethode, Theorie über die menschliche Psyche und Forschungsmethode waren und sind auch heute noch drei wesentliche Bereiche der psychoanalytischen Theorie und Praxis.
Zu 2.: Von Anbeginn stand die Psychoanalyse immer wieder in einer heftigen Kritik. Anfangs war es Freuds These der Psychosexualität, die die Wissenschaften und Kreise des Bürgertums empören ließ, oder ihr aufklärerisches Potenzial, das totalitären Regimen nicht passte; später waren es Teile der Psychologie und Medizin, die z. B. das Unbewusste - das Herzstück und Alleinstellungsmerkmal der Psychoanalyse - als ein unwissenschaftliches Konstrukt ablehnten. Insbesondere die Lerntheorie, später die Kognitionswissenschaften, die sich ab den 80-ziger Jahren im wissenschaftlichen Betrieb mit den verschiedenen Formen von Verhaltenstherapien etablierte, tat die Psychoanalyse und ihre Therapie als unwissenschaftlich und damit als "Auslaufmodell" ab. In den USA und andernorts war es Mode, sich im öffentlichen Diskurs an einem "Freud-Bashing" zu beteiligen.
Diese Entwicklung kann als Gegenbewegung auf die Hochzeit der Psychoanalyse zwischen 1960 und 1985 verstanden werden, in der der Anspruch der Psychoanalytiker und die Erwartungen an die Psychoanalyse zur Beseitigung des individuellen Leids und gesellschaftlicher Missstände sehr hoch gesteckt waren. Idealisierung ist bekanntermaßen auch ein Abwehrmechanismus, um Konflikten aus dem Wege zu gehen.
In den letzten 10 Jahren hat die Psychoanalyse eine wissenschaftliche Rehabilitation durch die neuropsychobiologische Forschung (Neurosciences) erfahren (1). So ist inzwischen gesichert, dass das Unbewusste auf unser Denken und Fühlen einen großen Einfluss ausübt. Beispielsweise sagt der US-amerikanische Hirnforscher Eric Kandel, der 2000 den Nobelpreis für Medizin erhielt, auf die Frage, warum das Unbewusste für uns so faszinierend sei: "Weil 80 bis 90 Prozent dessen, was wir tun, in ihm (dem Unbewussten) gründet."(2)
Dass Träume keine sinnlosen zufällige elektrophysiologische Entladungen des Gehirns, sondern Ausdruck einer Bewältigung und Nachbearbeitung grundlegender Konflikte, seelischer Traumen und einfacher Erlebnisse des Alltags sind, gilt inzwischen als wissenschaftlich gesichert. Ebenso gesichert ist die Bedeutung der frühen Bindungs- und Beziehungserfahrungen der Baby- und Kleinkindzeit für eine bio-psycho-soziale Gesundheit und Umgang mit späteren Belastungen und Krisen im Leben des Erwachsenen.
Die Bedeutung der Psychoanalyse heute liegt weiterhin darin, dass sie für Menschen mit seelischen Störungen ein Spektrum von Behandlungsmethoden (klassische oder modifizierte Psychoanalyse, psychodynamische Psychotherapien, Fokaltherapien, Beratungskonzepte, Gruppentherapien) anbietet, in der sich der Patient in einer sicheren therapeutischen Beziehung mit den unbewussten Bedeutungen seiner Symptomen, seiner Wahrnehmung, seines Erlebens und Verhaltens auseinander setzen kann.
Die Psychoanalyse auf der Couch ist eine komfortable Methode, über sich nachzudenken und nachzufühlen. Dieser Prozess ist auch mit Ängsten, Widerständen und Grenzen durchsetzt. Will ein Patient Tiefergehendes über sich selbst erfahren, so sind die Psychoanalyse und ihre Therapiemodifikationen eine geeignete Methode.
Geradezu genial ist die Methode der freien Assoziation, durch die der Patient sich in seiner inneren bewussten und unbewussten Welt bewegen kann und dadurch an Hindernisse und verschlossene Türen kommt, hinter denen oft bedeutungsvolle Konflikte oder traumatische Erfahrungen stehen. Die Grundregel der freien Assoziation, dass der Patient keine Zensur über seine Gefühle und Gedanken ausüben soll, gelingt nur, wenn der Therapeut ebenfalls einer Grundregel unterliegt, nämlich der der Abstinenz: Er bewertet die Gedanken und Gefühle des Patienten nicht, er lobt, tadelt, steuert, erzieht und missbraucht ihn nicht; er will gemeinsam mit dem Patienten "nur" die subjektive Bedeutung erkennen und bearbeiten. Dabei stellt sich der Therapeut als Person für die Übertragungs- und Gegenübertragungsvorgänge zur Verfügung. Die therapeutische Beziehung ermöglicht dem Patienten eine unvergleichbare Freiheit und Wahrhaftigkeit. Der Patient wird in die Lage versetzt, seine seelische Struktur zu verändern und die Symptome überflüssig werden zu lassen.
Neben der Krankenbehandlung liegt die Bedeutung der Psychoanalyse auch in ihrer Theorie über den Menschen, speziell seiner seelischen Natur. Was sind förderliche und was sind hinderliche Entwicklungsbedingungen für ein Kind? Was geschieht in der konfliktreichen Zeit der Pubertät und Adoleszenz? Welche Lebensereignisse und Krisen erfahren Erwachsene? Wie erlebt der Mensch im hohen Alter seine körperlichen, psychischen und sozialen Veränderungen? Wie sind somatische, psychische und soziale Regressionen eines erwachsenen Menschen zu verstehen? Welche Rolle spielt die Begrenztheit des Lebens, der Tod und seine Verleugnung?
Die psychoanalytische Theorie hat damit auch eine präventive Funktion für das Individuum und seine Gesellschaft. Sie will - so Freud - die "Liebes- und Arbeitsfähigkeit" des Menschen verbessern oder gar erst herstellen.
Das Menschenbild der Psychoanalyse ist dabei nicht so idealistisch, wie das der "Humanistischen Psychologie", wo der Mensch von Natur aus als gut angesehen wird. Diese Wertung nimmt die Psychoanalyse nicht vor. Sie sieht den Menschen als Teil der gesamten Natur mit seinen Triebkonflikten und Triebschicksalen (lieben, begehren), seinen Beziehungserfahrungen und -wünschen (jemanden lieben und geliebt werden) sowie seinem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung (ich bin liebenswert). Insbesondere der Umgang mit seinen aggressiven und destruktiven Trieben und den sich daraus ergebenden Konflikten und Traumatisierungen stellt eine stetige Herausforderung dar. Dazu genügt ein Blick in die reale Welt, wenn wir die politischen und gesellschaftlichen Nachrichten verfolgen.
Welche Bedeutung hat nun die Psychoanalyse heute aus meiner Sicht?
Meine schlichte Antwort ist: Die gleiche, die sie im Laufe der Geschichte hatte.
Die Psychoanalyse hat Vieles zum Verständnis menschlichen und gesellschaftlichen Verhaltens beigetragen. Sie hat den Blick des Menschen auf sich selbst geschärft. Ob der Mensch aber aus dieser Erkenntnis entsprechende Konsequenzen zieht, ist eine andere Frage.
Literatur:
(1) Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Suhrkamp, Frankfurt 2001.
(2) Kandel, E.: Unter der Oberfläche der Dinge. Das Unbewusste und die Hirnforschung. Ein Gespräch mit Eric Kandel - Nobelpreisträger und Doyen der Neurowissenschaften Geist & Gehirn, Nr. 5/2008: 64-66, Heidelberg.
Zum Autor: Matthias Elzer, Prof. Dr. med., FA Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DPV/IPA), Gruppenanalytiker, Balint-Gruppenleiter. Professor an der Hochschule Fulda und in eigener Praxis in Hofheim/Ts. tätig.
November 2008