Agathe Israel: Frühe Kindheit in der DDR

Gekürzte Fassung eines Artikels aus Kinderanalyse, Heft 2, April 2008. Mehr zu diesem Thema findet sich auch in: Israel, Agathe/Kerz-Rühling, Ingrid (Hrsg), Krippenkinder in der DDR, Frankfurt: Verlag Brandes & Apsel 2008

Vorbemerkung

Der überwiegende Teil dieses Textes entstand 1990 in einer Atmosphäre des Umbruchs, als erster Versuch, mit den anderen Deutschen jenseits der Grenze über Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachzudenken. Im Nachdenken und Materialsammeln für diese Arbeit fühle ich mich bis heute von den Umständen und vom Gegenstand her in einer schwierigen Position, da ich in der DDR aufwuchs, arbeitete und die längste Zeit meines Lebens in dieser Gesellschaft lebte. Meine Perspektive wird also nicht objektiv sein, wenngleich sie mehr erfassen will als die unmittelbare Betroffenheit. Ich kann kein Bild liefern, "wie es wirklich gewesen ist in der DDR". Es lässt sich nur eine Sicht der Dinge mitteilen, die zweifach gebrochen wird durch meine innere Welt und die des Lesers. Und Letzterer muss seine "Wahrheit" selbst finden.

Ebenso ist bei der Behandlung des Gegenstandes "Frühe Kindheit" Zurückhaltung nötig, denn noch so viele soziologische Daten, Untersuchungen, Theorien könnten uns nicht die Frage beantworten, warum dieses Kind gerade diese Entwicklung genommen hat. Es kann sich hier also nur um die Bündelung von Phänomenen und Tendenzen handeln. Bei der Beschreibung der Sozialisationsbedingungen und der Psychopathologie stütze ich mich auf die spärlich veröffentlichten soziologischen Daten in der DDR, die biografischen Anamnesen von ca. 500 Kindern und Jugendlichen aus Leipzig und Berlin, die ich während meiner über 15-jährigen Tätigkeit in der Kinderpsychiatrie behandelt habe, sowie auf meine Alltagserfahrungen. Wenn wir aus heutiger Sicht über die frühe Kindheit in der DDR nachdenken, verlangt das besonders, zum einen die Bedeutung einer Frühtrennung von Mutter und Vater, und zum anderen die Qualität der öffentlichen Früherziehung zu untersuchen. Ebenso bedeutsam ist die Frage, wie viel gute Erfahrungen das Kind bis zum Zeitpunkt der Frühtrennung in sich assimilieren, wie viel von der äußeren Elternfigur es in ein inneres Objekt einbauen konnte, das ihm hilft, sowohl die Schmerzen, die aus der Frustration der Getrenntheit entstehen als auch die neue Welt und die Ersatzfiguren anzunehmen. Die Antwort erfordert eine individuelle Analyse der Biografien, die dieser Beitrag nicht liefern kann.

Die Lebenswelt der DDR - Gesellschaft und Erziehung in den ersten Jahrzehnten

Die Nachkriegszeit in Deutschland wurde anfangs dominiert von Verleugnung ("Wir sind es nicht gewesen") und durch "manische Selbstreparation". Aber innerhalb weniger Jahre entwickelten sich zwischen dem demokratischen Teil und der Diktatur der Arbeiter- und Bauernmacht wesentliche Unterschiede, die das Selbstverständnis und Befinden der Deutschen im geteilten Land prägten. Aus der DDR rollte ein großer Teil des Aufbauwerkes gen Osten in die Sowjetunion, um die Kriegsschuld abzutragen. Moralisch gesehen, waren damit "wir in der DDR die besseren Deutschen". Ein scheinheiliger Schluss, der ein inneres Umdenken blockierte. Jede Hand wurde gebraucht, und es war immer noch nicht genug. Deshalb räumte man Frauen und Müttern in der DDR von Anfang an eine neue Position ein, indem man sie den Männern „gleichstellte" und beide Geschlechter als "werktätige Bevölkerung" neutralisierte. Die Mehrfachbelastungen der Frauen durch Familie, Berufsleben sowie gesellschaftliche Verpflichtungen galten als "Befreiung". Diese "Emanzipation", importiert aus der Sowjetunion, wurde von außen über die Frauen gestülpt und hatte wenig mit innerer Freiheit zu tun. Ebenso wurde propagiert, dass ein von der "Ausbeutung befreiter Mensch" nun auch seelisch frei und unbeschwert sei, als gäbe es kein unbewusstes Fortwirken von Diktatur und Rassismus, Schuld und Leid. Wir würden heute von einer verleugneten transgenerationalen Transmission sprechen. Andersdenkende wurden hart bestraft und verfolgt. Gegenüber Intellektuellen herrschte ein tiefes Misstrauen.

"Tod den Imperialisten; Nieder mit dem Klassenfeind; Alle Kraft für den Aufbau des Sozialismus; Alle Macht der Partei!" - so lauteten die totalitären militanten Parolen, verkündet von Politikern und Funktionären, die, selbst unter repressiven Verhältnissen aufgewachsen, nicht spürten, dass sie mit ihrer Radikalität gerade das fortsetzten, was sie eigentlich zu verlassen glaubten.

Diese Parolen, so hohl sie sich anhören mögen, realisierten sich ganz konkret in den Entwicklungsbedingungen und im Erziehungsstil. Die kurze Blütezeit der Psychoanalyse und ihre Auswirkung auf die Pädagogik in Kindergärten der nachrevolutionären Sowjetunion war schon 1929 vorüber, wie der Psychoanalytiker und Kommunist Wilhelm Reich an Ort und Stelle in Moskau feststellen musste (Boadella, 1981). (Der Reichianer David Boadella entwickelte die Biosynthese-Therapie. Er hielt bereits in 1980er Jahren inoffizielle Fortbildungsworkshops in der DDR) Hier sei auf die Arbeiten von Sabina Spielrein und Vera Schmidt über die psychoanalytische Erziehung in Sowjetrussland verwiesen. Die Vermutung liegt nahe, dass nicht nur die Respektierung der kindlichen Sexualität, sondern auch die Anerkennung des Unbewussten, Unkontrollierbaren, die Praxis der wertfreien Beobachtung von Kindern, die Anerkennung einer individuellen inneren Welt keinen Platz in einer Diktatur hatten.

"Sowjetpädagogen sprachen unumwunden vom Programm menschliche Persönlichkeit, von deren Projektierung, die sich in entwicklungslenkenden Anforderungssystemen niederschlug", so Hans-Dieter Schmidt (1997, S. 20). Kaum bekannt ist, dass der jüdische Schriftsteller Arnold Zweig, 1948 aus Israel in die DDR zurückgekehrt, plante, psychoanalytische Pädagogik und Therapie in Ostdeutschland wieder zu etablieren. Er versprach Anna Freud in einem Brief "eine Umorientierung unserer Leute in Sachen S. Freud und seines Lebenswerkes, die zum 100. Geburtstag Freuds schon für die DDR geschafft sein sollte ... Den Umschwung in der Öffentlichkeit gedenke ich selber herbeizuführen, denn die Bedeutung von Pawlowschen Arbeiten und die Sigmund Freuds unterstützen einander, anstatt einander zu hemmen" (Zweig, 1968, S.350). Voller Illusionen über die Vereinbarkeit der Psychoanalyse mit dem ostdeutschem Sozialismus- und Demokratieverständnis täuschte er sich in der Beurteilung der politischen Verhältnisse. Nach der nationalsozialistischen Diktatur traf er, wie viele Exilanten, auf eine politische Führung, die selbst die Kriterien bestimmte, nach denen das kulturelle Erbe, Kunst und Literatur zu messen seien. Er wollte bereits 1942, dass nach einem Friedensschluss ein System von Kindergärten, über ganz Deutschland verstreut, sich mittels psychoanalytischer Schulung und Pädagogik an das "Friedenswerk" machen sollte. Er wollte eine Kindergartenpflicht einführen, die sich mit Beobachtung und Erziehung der Kleinkinder befasste. Zweig, obwohl mit hohen Ämtern in der Kulturpolitik der DDR betraut, fand dafür in Ostdeutschland keine Unterstützung.

Kinder wurden bis Ende der 1950er Jahre überwiegend in der Großfamilie oder in Wocheneinrichtungen aufgezogen. Die Anzahl der sogenannten Wochenkrippen oder Säuglingsheime bzw. Wochen-Kindereinrichtungen war verhältnismäßig hoch und ihre Dienstleistung wurde von den Familien auch gerne angenommen. Die Härte, die Mütter oft gegenüber der Trennung von ihren wenige Wochen alten Kindern aufbrachten, wird verständlicher, wenn man hinter den realen kargen Lebensumständen den fortwirkenden Einfluss der "hartmachenden" Erziehungsideologie der Nazizeit anerkennt. Eine Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Mitglied der SED, verdeutlichte mir in einem Gespräch die damalige Haltung der Mütter: "Wir waren überzeugt, unseren Kindern geht es gut dort. Im Säuglingsheim hatten sie es sauber und warm und bekamen reichlich zu essen. Und am Wochenende haben wir sie oft nach Hause geholt. Wir sahen unsere Aufgabe in der Gesellschaft." Ein wenig Bedauern schwang in ihrer Schlussfolgerung mit: "Heute würde ich es wahrscheinlich anders machen." Zu weiterem Nachdenken war sie allerdings nicht bereit.

Einer der führenden Psychiater der DDR beschreibt 1956 in einer Fachzeitschrift die damalige Vorstellung über kindliche Entwicklung: "...Der Mensch wächst von Anbeginn an in ständig sich erweiternde gesellschaftliche Beziehungen hinein ... Von deren Organisation hängt es in erster Linie ab, ob wir entwicklungsgestörte und heilbedürftige oder organisch und moralisch gesunde Kinder vor uns haben. Wo Kinder künstlich von allen zwischenmenschlichen Beziehungen isoliert gehalten werden, entstehen die Kaspar-Hauser-Typen ... Es handelt sich um Wachstumsprozesse, in denen sich die Gesetzmäßigkeiten des dialektischen Materialismus mit aller Deutlichkeit manifestieren" (Müller-Hegemann, 1956, S. 46).

Mitte der 1960er Jahre begann der Ausbau eines Tagesversorgungsnetzes für Kleinkinder, das bis zur Wende in seinem Umfang einmalig für ganz Europa blieb. Bereits ab der 6. Lebenswoche standen ganzjährig öffentliche Kinderkrippen zur Verfügung, die von Montag bis Freitag zwischen 6.00 und 18.00 Uhr, in Ausnahmefällen auch bis 20.00 Uhr, Kinderbetreuung anboten. Nahtlos wurden die Krippenkinder ab dem 3. Lebensjahr in den Kindergarten übernommen. Und im Schulalter konnten Kinder bis zum 10. Lebensjahr nachmittags den Schulhort bis 16.00 Uhr besuchen. In den Ferien gab es die Ferienspiele sowie betriebseigene Ferienlager. So konnte ein Kind für einen minimalen Unkostenbeitrag quasi von der 6. Lebenswoche an in gesellschaftlichen Institutionen aufwachsen und eine öffentliche Erziehung erhalten. Ca. 85 Prozent der null- bis dreijährigen und ca. 90 Prozent der drei- bis sechsjährigen Kinder besuchten Tageseinrichtungen.

Lediglich in der Tschechoslowakei wurde ein ähnliches Krippen-Versorgungsnetz aufgebaut. Zwischen den 50er und 70er Jahren entwickelte sich dort das in Europa dichteste Netz an Säuglingsheimen und Kinderkrippen. Man beforschte die Auswirkungen frühkindlicher Kollektiverziehung, allerdings ohne näher auf die Qualität der Früherziehung einzugehen. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass psychische Deprivation sowie die Übertragung der psychischen Deprivation von einer Generation auf die nächste als Folge von Frühtrennungen und kollektiver Früherziehung auftraten, wurden diese Ergebnisse offen und relativ ideologiefrei diskutiert und in der Sozialpolitik umgesetzt. Man reduzierte Anfang der 70er Jahre die Plätze auf ein Angebot für 25 Prozent aller Null- bis Zweieinhalb-Jährigen (Matejcek 1968, 1988 S. 98-111).

Fast gegenläufig verlief die Entwicklung in der DDR. Dort bestand quasi ein Zwang, das Kind so früh wie möglich in eine Einrichtung zu geben, flankiert vom gesetzlich erlaubten Schwangerschaftsabbruch, der kostenfreien Anti-Baby-Pille und einem monatlichen Haushaltstag für Mütter. Wer dies nicht tat, scherte aus der gesellschaftlich geforderten Bürger- und Elternpflicht aus, was immerhin über 10 Prozent der Eltern taten. Eva Schmidt-Kolmer, federführende Verfasserin der Erziehungspläne für Krippen, (Professor Schmidt-Kolmer leitete die Zentralstelle für Hygiene des Kindes- und Jugendalters in Berlin und entwickelte Erziehungsprogramme für Kinderkrippen) vertritt in der Arbeit "Die Rolle der zwischenmenschlichen Beziehungen für die Gesundheit des Kindes" 1961 eine wissenschaftliche Auffassung, die sich völlig mit dem staatlichen Erziehungssystem und der Praxis der Frühtrennung deckt:

Ganz im Gegensatz zu den Behauptungen der Psychoanalytiker wie Spitz, Bowlby usw., dass die Mutter-Kind-Beziehung in der frühesten Kindheit die entscheidendsten und ausschlaggebenden zwischenmenschlichen Beziehungen sind, konnten Untersuchungen von Damborska, Pease und Gardener sowie unsere Untersuchungen der Auswirkungen des Umweltwechsels bzw. der Trennung von der Mutter in den ersten Lebenswochen und -monaten zeigen, dass der junge Säugling diese Trennung kaum oder gar nicht bemerkt, wenn seine Bedürfnisse in adäquater Weise gestillt werden ... Das Fremdeln ist nicht, wie die Psychoanalytiker behaupten, der Ausdruck einer depressiven Phase, sondern ein Ergebnis des fortschreitenden Unterscheidungsvermögens des Kindes. Kommen Kinder in Wochenkrippen und Dauerheimen nur selten in unmittelbaren Nahkontakt mit dem Erwachsenen, dann bleiben sie in ihrer körperlichen wie psychischen Entwicklung zurück, weil ihre höhere Nerventätigkeit nicht genügend trainiert wird und sie häufig Hemmungszustände zeigen (...) Der Anteil der verhaltensgestörten Vorschul- und Schulkinder ist bei uns wesentlich niedriger als in Westdeutschland (...) Die Pflege und Erziehung der kommenden Generation wird eine Gemeinschaftsarbeit zwischen der Familie und den gesellschaftlichen Kindereinrichtungen sein. (Schmidt-Kolmer 1961)

Im universitären Bereich entstanden Gegenströmungen. Der Entwicklungspsychologe Hans-Dieter Schmidt weicht in verschiedenen Arbeiten wie "Bild des Kindes", "Kompetenz des Säuglings und Kleinkindes", "Entwicklungswunder Mensch" die offizielle Sicht vom Einheitsmenschen auf und distanziert sich von der "Sozialisationshypothese" (Schmidt, 1977). (Hans-Dieter Schmidt, Professor an der Humboldt Universität, wurde für seine mutige Arbeit "Bild des Kindes" mit einem Reiseverbot ins westliche Ausland belegt). Seine Sicht wurde in der Öffentlichkeit gar nicht und in der Fachwelt kaum diskutiert. Dennoch blieb sie nicht ohne Auswirkungen. Ab 1974 wurde die Freistellung der Mutter zur Betreuung ihres Babys verlängert und 1976 sogar das "Mütterjahr", eine Freistellung von der Berufstätigkeit über 12 Monate bei 70 Prozent des Grundgehalts ab dem zweiten Kind, eingeführt. Allerdings entschlossen sich nicht wenige Eltern, ihre Kinder dennoch schon vorzeitig in die Krippe zu geben. Ab 1986 lag dann der Zeitpunkt der Aufnahme eher um das 1. Lebensjahr, und später wurde sie auch mit einer stundenweise Eingewöhnungszeit verbunden.

Zwei Jahre nach dem Fall der Mauer skizzierte der westdeutsche Kleinkindpädagoge Hans Joachim Laewen die Situation in der DDR. Seiner Ansicht nach besteht das Grundrecht eines jeden Kindes "(...) in seinen Äußerungen, Absichten und individuellen Entwicklungsentwürfen beachtet und ernst genommen zu werden, ein Recht, das sowohl durch unwissende oder egozentrische Eltern als auch durch ein in Kindertagesstätten oder Familien exekutiertes rigides Erziehungsprogramm ernsthaft gefährdet sein kann." Es sprach für ihn vieles dafür,

(...) dass in den Krippen und Kindergärten der DDR dieses (...) Kinderrecht systematisch missachtet wurde, was nicht heißen muss, dass dies in jedem Einzelfall geschehen ist. Die Ursachen dafür liegen offenkundig nicht in diesen Einrichtungen der Tagesbetreuung selbst, sondern in dem Missverhältnis zwischen individueller Freiheit einerseits und Kontroll- und Lenkungsansprüchen von Staat und Partei andererseits, das das öffentliche Leben der DDR insgesamt charakterisierte. Mein Eindruck ist, dass sich das Prinzip der führenden Rolle der Partei der Arbeiterklasse durch alle gesellschaftlichen Bereiche der DDR hindurch bis eben auch hin zu dem Prinzip der führenden Rolle der Erzieherin gegenüber dem Kind durchsetzte. Es ist dieser Geist eines umfassenden Kontrollanspruchs gegenüber dem Individuum, der in der Pädagogik der DDR und damit auch im "Programm für die Erziehungsarbeit in Kinderkrippen" zu finden ist, den ich als niederschmetternd erlebte. (Laewen, Andres, Herdervari 1992, S. 45)

 

Die Situation in den Kinderkrippen

Seine Sicht deckt sich weitestgehend mit meinen Erfahrungen. Das Leben vollzog sich in dieser Zeit von frühester Kindheit bis in das Erwachsenenalter überwiegend in hierarchisch strukturierten Klein- und Großgruppen nach dem Modell: Führer - Geführter, Rede ohne Gegenrede. Der Wert des Einzelnen war den Normen der Gruppe total untergeordnet. Dass das multilaterale Leben in Gruppen einen gewaltigen Entwicklungsanreiz bieten kann, soll damit nicht in Frage gestellt werden.

 

Die Primärgruppe Familie hilft, Basisfunktionen wie Vertrauen, Bindungsfähigkeit, Interesse an der Welt auszubilden. Wir sprechen von einer notwendigen förderlichen Umwelt. Voraussetzung ist ein stabiles Eltern-System, das ausreichend Energie und Zeit besitzt, die Selbstregulationsfähigkeit des Kindes zu stützen. Das geschieht in erster Linie durch ausgeglichene Anwesenheit der Eltern und deren Fähigkeit, eigenes Befinden, eigene Bedürfnisse als getrennt von denen des Kindes zu erleben, um somit auf die kindlichen Bedürfnisse eingehen zu können. Gleichzeitig werden durch die familiäre Primärsozialisation indirekt Werte, Normen und Ziele der Gesellschaft vermittelt, da die Eltern meist unbewusst und unreflektiert wertende Akzente durch bestimmte Gefühlsgeladenheiten setzen. Da der Übergang in die sekundäre Bezugsgruppe der Kinderkrippe sehr früh erfolgte, anfangs ab der 6. Lebenswoche, nach 1974 ab der 12. Lebenswoche und nach 1976 ab dem 12. Lebensmonat und betraf 85 Prozent aller Kinder betraf, blieb nur wenig Lebenszeit für die Einübung eines Dialogs zwischen Mutter/Eltern und Kind und für den Aufbau innerer Primärobjekte und Arbeitsmodelle.

Ist die alleinige Tatsache einer zu frühen Trennung vom Elternhaus automatisch gleichzusetzen mit einem psychischen Trauma? Höchstwahrscheinlich müssen wir dies dann bejahen, wenn nicht ein verstehend-haltgebender Anderer, der sich auf die Individualität des Babys einlässt, die äußere Leerstelle von Mutter oder Vater einnimmt.

Obwohl Bowlbys Attachment- Forschung und die Objektbeziehungstheorie in den strukturbestimmenden Kreisen, wie zum Beispiel im Institut für Hygiene des Kindes- und Jugendalters der DDR, nicht unbekannt waren, wurden die Risiken zu früher Trennung, wie bereits oben zitiert, verleugnet. Selbst viele Psychotherapeuten fanden Bedenken wegen zu großer Gruppen gleichaltriger Babys und Kleinkinder, häufigen Betreuerwechsels, wegen zu langer täglicher Trennungen von neun bis zehn Stunden, wegen des repressiv-reglementierenden Erziehungsstils mit ideologischer Früherziehung und Hinweise auf den abendlichen Stress mit überlasteten, müden Eltern lächerlich und übertrieben.

Die staatlich erwünschte und geförderte Erziehungspraxis besaß ein doppeltes Gesicht: Einerseits boten die zahlreichen Institutionen von Geburt an Eltern und Kindern einen stabilen Rahmen für den Tagesablauf im Wochen- und Jahresrhythmus und preisgünstige, zuverlässige, gruppenbezogene Strukturen, auf die man jederzeit zurückgreifen konnte. Kein Kind war ohne Aufsicht. Andererseits entwickelten sich formale und inhaltliche Kontrollmöglichkeiten bis in die Familie hinein, was dazu führte, dass Eltern ihre Erziehungsverantwortung abgeben konnten, ja fast abgeben mussten und sich ein individuelles Entwicklungsprofil und Selbstempfinden des Kindes nur schwer entwickeln konnten.

Wenn ein kleines Kind um das 1. Lebensjahr allmählich beginnt die Welt zu erkunden, den Schritt im wahrsten Sinne des Wortes in die Welt zu tun, so geschieht das im Schutz vorhandener vertrauter Personen oder deren innerer Bilder. Die Erweiterung des Lebensraumes vollzieht sich in einem gewaltigen Tempo, aber sie ist gebunden an den verstehenden Anderen. So trafen die Kinder in den Erziehungseinrichtungen oft auf Umstände, die man durchaus als traumatisierend bezeichnen könnte.

Die Kleingruppen betreuten in der Regel zwei Erzieherinnen, die sich im 2-Schicht-System zwischen 6 und 20 Uhr ablösten. Vorgegeben waren Gruppengrößen von acht bis zehn Kindern, de facto kamen aber 20 und mehr gleichaltrige Kleinstkinder zusammen.

Der Tagesablauf verlief nach Plan straff strukturiert, mit festen Fütterungszeiten, gleichzeitigem "Töpfen", Gruppenspaziergängen, Zeiten für angeleitetes und freies Spiel, Sportübungen und später auch Beschäftigungszeiten.

Den geistigen Hintergrund bildete laut Erziehungsplan die Erziehbarkeit und Erziehungsbedürftigkeit des Menschen vom 1. Lebenstag an (s. "Pädagogische Aufgaben und Arbeitsweise der Krippen"). Das Kind sollte mittels Bildung und Erziehung allmählich "gefüllt" werden. Die Vorstellung, man könne aus jedem Kind alles machen, wenn es nur recht erzogen werde, bestimmte das Handeln.

Die Zeitstruktur gaben Erwachsene vor. Der Erziehungsplan stand vor einer Beziehungsgestaltung. Vor individueller Hinwendung sogenannter "Extravaganzen" wurde gewarnt. Und selbst wenn Krippenerzieherinnen diese Auffassung nicht teilten, war es ihnen praktisch kaum möglich, als emotionaler Bezugspunkt zu wirken, weil viel zu viele Kleinstkinder mit gleichgerichteten Bedürfnissen gleichzeitig zu versorgen waren. Nur wenige Krippenerzieherinnen sind heute bereit, über ihre damalige Arbeit zu sprechen: "Ich darf gar nicht daran denken, wie wir die Kinder getrieben und kommandiert haben. Schon damals dachte ich, das kann nicht gut sein." Eine andere Erzieherin erinnert sich. "Wir mussten den Brei regelrecht reinstopfen, denn alle hatten gleichzeitig Hunger." Im Zentrum der Erziehung stand die Einordnung ins Kinderkollektiv.

Die Bezeichnung "Kinderkollektiv" für Kindergruppen zwischen dem 1. und 3. Lebensjahr unterstützt dieses Missverständnis. "Ein Kollektiv als bestentwickelte Form der Gruppe besteht aus sozialistischen Persönlichkeiten, (...) ist auf optimale Entwicklung seiner Mitglieder orientiert (...) die im gemeinsamen Handeln Aufgaben gewissenhaft erfüllen und sich gegenseitig zu erwünschtem Verhalten erziehen", so lautete die Definition im psychologischem Wörterbuch der DDR. Dazu sind Kleinstkinder nicht in der Lage. Laewen kritisiert diesbezüglich das "Programm für die Erziehungsarbeit in Kinderkrippen", in welchem "(...) die Ordnungsprinzipien der DDR nicht schwer zu erkennen sind. Sie finden ihren für mich deutlichsten Ausdruck in der unablässigen Verwendung von Lenkungsvokabeln wie "Die Erzieherin beachtet, nutzt, führt, lenkt, richtet, hilft, fordert, weckt, sichert, sorgt, hält, organisiert, präzisiert, motiviert, informiert (...)" und schließlich "sie befähigt". Alle Aktivität wird der Erzieherin aufgenötigt, das Kind wird zum Objekt von "Befähigungsbemühungen", deren Erfolg überprüft wurde" (Laewen et al, 1991, S. 45f). Vermutlich war es deshalb verbreitet, dem Kind schon im Alter von einem Jahr willentliches Verhalten zuzuschreiben: "Es will bloß nicht, es bockt, es war schon im ersten Lebensjahr böswillig, es hat etwas gegen mich." Diese vorzeitige Zuschreibung von Willensfunktionen, die in diesem Umfang eigentlich erst zwischen dem 2. und 3. Lebensjahr zu erwarten sind, verdeutlicht wiederum, dass zu wenig emotionaler Kontakt zur Bedürfnislage der Kinder bestand bzw. dass die Eltern und Erzieherinnen ihre emotionale Überforderung in das Kind projizierten.

Übergangsobjekte, die die Trennung von den primären Beziehungspersonen hätten erleichtern können, wurden nur ungern geduldet wegen Infektionsgefahr durch Verschmutzung, Neid der anderen Kinder, Zerstörungsgefahr; nicht erwähnt wurde die Skepsis gegenüber jeglicher Individualität.

Die Sauberkeitserziehung ist die erste eigentliche soziale Krise des Kindes in unserem Kulturkreis. Sie eröffnet die Chance, eine "ich will - ich will nicht"-Autonomie zu entwickeln, körperlich Hergeben oder Behalten zu spüren, sich psychisch im Trennen zu üben, Stolz zu erleben, aber auch die Gefahr, erstmals gebrochen, beschämt zu werden. Gegen Ende des 2. Lebensjahres klärt sich, welche Gefühle im Kind überwiegen: Schuld und Scham oder Stolz und Bewusstheit, dabei spielt die Erziehung zur Sauberkeit eine zentrale Rolle (Erickson, 1950). Dressur, Zwang, Vorwürfe, Strafen, Beschämung vor anderen Kindern und Eltern, z. B. mit der Windel ins Gesicht geschlagen werden, war leider keine Seltenheit. Dies wurde vermutlich nicht wegen der Pflegeerschwernis so praktiziert, sondern weil Sauberkeit einen hohen Symbolwert für Eltern und Erzieherinnen hatte. Sie galt als Ausdruck von Gehorsam, Erziehungstüchtigkeit, Leistungsfähigkeit.

Die sogenannte Trotzphase fällt in der Regel mit dem Höhepunkt der "Sauberkeitskrise" um das 4. Lebensjahr zusammen, indem das Kind auch schon über differenzierte sprachliche Mittel verfügt. Es war verblüffend, wie viele Kinder, die uns wegen aggressiver Durchbrüche oder Anpassungsstörungen im Schulalter überwiesen wurden, nach den Angaben ihrer Eltern nie getrotzt oder aufbegehrt hatten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt begannen sich die Erziehungsziele von Institution und Familien bezüglich Ordnung, Disziplin, Sauberkeit, Einordnung zu decken. Wenn die Eltern uns die frühen Jahre schilderten, berichteten sie kaum von gemeinsamem Spiel und Spaß mit den Kindern in dieser Zeit, sondern von gemeinsamer Pflichterfüllung, auch dass sie sich beschämt fühlten, wenn ihr Kind bis zum 3. Lebensjahr noch nicht sauber gewesen sei, und peinlichen Szenen beim Abholen aus der Krippe, auf deren Wohlwollen sie sich angewiesen fühlten.

Unsicher gebundene und sehr früh getrennte Kinder reagierten scheinbar kaum auf die Trennung und den Wechsel in die Kinderkrippe, was Mütter als Ergebnis ihrer konsequenten Erziehung ansahen und mit viel Stolz erzählten. Diese "pflegeleichten" Kinder waren deshalb relativ beliebt, wenngleich ihr Entwicklungstempo oft langsamer verlief. Häufig erkrankten Kinder im ersten Vierteljahr an Infekten insbesondere spastische Bronchitiden, die man auch als stecken gebliebenes Weinen oder Schreien auffassen könnte. In Kinderkliniken wurden spezielle Stationen eingerichtet, die Kinder mit solcherart Erkrankungen, die man als Adaptionssyndrom bezeichnete, aufnahmen. Kinderärzte waren angehalten, das Kind frühzeitig wieder in das "Kinderkollektiv" zurückzuführen bzw. stationär einzuweisen. Dass es sich um die Somatisierung einer psychischen Überforderung handeln könnte, wurde dabei nicht bedacht. Das Adaptionssyndrom wurde mit einer gewissen Brutalität von Seiten der Eltern und Erzieher und von Kinderärzten bekämpft. "Da muss man durch. Das ist eben so. Das wird schon wieder." Andere Kinder reagierten nach anfänglich heftigem Protest mit psychischen Auffälligkeiten wie Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Ängstlichkeit, Spielunlust.

Weinende und schreiende Kinder gehörten so sehr zum Krippenalltag, dass die individuelle Not gar nicht auffiel. "Selbst wachsame Eltern, die die Veränderungen ihres Kindes durchaus wahrnehmen, griffen eher zu Süßigkeiten, Spielzeug, Medikamenten entsprechend eigener oraler Bewältigungsmuster", bemerkte eine kritische Pädiaterin in den 1970er Jahren (Kühn, 1986).

Vermutlich wirkten die Veränderungen wie ein Riss und waren nicht integrierbar, weil einerseits die Trennung von den primären Bezugspersonen zu plötzlich und zu lange eintrat, nämlich täglich neun bis zehn Stunden, und andererseits in der Sekundärgruppe zu wenig stützende Kräfte bestanden i.S. eines Erwachsenen, der sich empathisch und ausreichend engagierte. Meist wurde das Kind in seinem Schmerz oder Rückzug allein gelassen. Statt es zu umwerben, statt individueller Bestätigung und Verständnis im Dialog wurde das Kind sich selbst überlassen oder ausgeschimpft.

Noch Anfang der 1990er Jahre begegnete ich in einer Kindertagesstätte, die mit ehemaligen DDR-Erziehrinnen arbeitete, dieser Einstellung: Ein Kleinstkind, dass die ersten Tage alleine in der Krippe verbrachte, lag während meines einstündigen Besuchs ununterbrochen schreiend unter einer Bank, ohne dass sich eine der drei Erzieherinnen, die durchaus Vakanzen hatten, regte. Meine Frage, welche pädagogische Absicht damit verbunden sei, wurde mit Erstaunen aufgenommen. Man dürfe das Kind nicht verwöhnen, war die einhellige Meinung. Das erscheint uns im Nachhinein besonders schmerzlich, da Trennungsängste durchaus abgemildert werden können, wenn ein Erwachsener einfühlend darauf eingeht (Robertson & Robertson, 1967). Nicht die Entwicklungspsychologie oder Soziologie, sondern die Neurobiologen konfrontieren uns mittlerweile mit der Erkenntnis, dass nichts ein Baby so stresst und ängstigt wie die frühe Trennung von seiner Mutter (Hüther, 2002).

Ein Kind wuchs also in den ersten Lebensjahren in einem stabilen äußeren Rahmen auf, der es wie ein Korsett oder Exoskelett umhüllte, während es nur wenig Gelegenheiten gab für die differenzierte innere Entwicklung seiner psychischer Struktur i.S. einer Selbstregulation oder eines emotionalen Endoskeletts (Bion, 1962). Und gleichzeitig musste es sich aufgrund der überfüllten Gruppen schlicht seiner Haut wehren und durch lautes Verhalten bemerkbar machen. Aktuelle neurobiologische Erkenntnisse zeigen, dass anhaltender Stress bei kleinen Kindern die primitiven neuronalen Regelkreise stabilisiert, während differenzierte cortical-subcorticale Verschaltungen sogar inhibiert werden können, so dass ein Lernen aus Erfahrung kaum stattfindet (Hüther, 2002) und das Erleben auf somatischer Ebene fixiert, kaum von Gedanken begleitet oder mentalisiert werden kann. Dann gelingt es auch wenig, sich differenziert in den Anderen hineinzuversetzen (Fonagy, 2005), was fatale Folgen für das Zusammenleben hat. Ein Kind kann die Sekundärgruppe durchaus bereichernd erleben, denn man kann eine multilaterale Identifikation mit anderen Erwachsenen der Sekundärgruppe erwarten, wenn sich diese als Bezugspartner, als Identifikationsfiguren, anbieten.

Vermutlich führte die Verschränkung von zu früher Aufnahme in zu große Kindergruppen mit autoritärer Organisation sowie rigiden Erziehungsprogrammen und die mangelnde Verfügbarkeit der Primärgruppe und der unzureichende Aufbau eines stabilen, guten inneren mütterlichen Objekts zu einer verfrühten Ich-Bildung mit hoher Selbstkontrolle sowie Selbsthilfeversuchen (Abwehren) im Sinne von Schutzverhalten wie Verschlossenheit, Aggressivität und zu einer gestörten Über-Ich-Bildung, da sich die Verinnerlichung der äußeren Realität nicht über wachsende Identifikation, sondern vorwiegend über Anpassung vollzog. Vielleicht bewirkte diese verfrühte Ich-Bildung eine "zu frühe Unterordnung individueller Wünsche und Interessen unter kollektive Vorstellungen" (Leuzinger-Bohleber, Garlichs 1993 S. 220).

Vielleicht konnte ein Kind auf der anderen Seite aus den Momenten des Verstehens und individueller Zuwendung, die es ja auch gab, ausreichend Nutzen ziehen und einen eigenständigen Kern entwickeln, der seine Entwicklung fortan stärkte.

 

Der Kindergarten

"Sauberkeit" war in diesem System eine Bedingung zur Übernahme in die nächste Institution, den Kindergarten, den ca. 90 Prozent der 3- bis 6-jährigen Kinder besuchten. Die Kindergärten unterstanden dem Ministerium für Volksbildung. Die Erziehung erfolgte nach einem verbindlichen Bildungs- und Erziehungsplan, mit durchstrukturiertem Tagesablauf, in Gruppen von ca. 20 Kindern ("Programm für Bildungs- und Erziehungsarbeit im Kindergarten"). Lediglich die wenigen konfessionellen Kindergärten konnten freier arbeiten.

Der Plan bot viele Anregungen für musische, körperliche, sprachliche und lebenspraktische Betätigung, aber wieder in vereinheitlichender Form: Zum Beispiel erhielten, als man in den 1980er Jahren das Spiel mit Puppen im Rahmen des Rollenspiels einführte, alle Jungen die gleiche Jungenpuppe und alle Mädchen die gleiche Mädchenpuppe, und das jeweilige Puppengeschlecht trug einen Einheitsnamen. Der Plan ließ wenig Spielraum für das individuelle Entwicklungstempo. Statt den Weg zum Ziel zu erklären, wurde eine prozess- und wachstumsfeindliche Haltung praktiziert als müßte erwünschtes Verhalten sofort und total eintreten. Ein wertfreies "noch nicht" scheint es nicht zu geben.

Unwissenheit der Verantwortlichen können wir nicht annehmen, denn eine unveröffentlichte Studie durch das Institut für Hygiene des Kindes- und Jugendalters Berlin wies nach, dass zu diesem Zeitpunkt durchgeführte, zeitlich sehr aufwendige Trainingsprogramme für entwicklungsrückständige Kindergartenkinder versagten, wenn nicht eine gute, d.h. freundlich geduldige Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern bestand, wenn nicht das Kind den Erwachsenen gern hatte.

Im Kindergarten wird der Umgang mit der Gleichaltrigengruppe zum Bedürfnis, anfangs eher im Paarkontakt, später in kleineren Gruppen. Eine interessante Welt tut sich auf: Freundschaften, Rollenspiele, Kooperationsversuche, Entdecken der genitalen Geschlechtlichkeit, Konkurrenz, Leistenwollen. Die Erzieherin könnte in dieser Zeit allmählich in den Hintergrund treten, die Gruppe selbst an Bedeutung gewinnen, und die Kinder könnten ihre Alltagskonflikte immer mehr untereinander aushandeln. Viele Kindergärtnerinnen beklagten aber gerade im Vorschulalter, dass sie wegen aggressiver Ausbrüche, Neid, Streit, Unruhe, mangelnder Kooperationsbereitschaft gegenüber Gleichaltrigen viel zu häufig regulierend eingreifen mussten, als ob die Kinder sich damit die persönliche Zuwendung erzwängen.

Dieses hohe Maß an Zuwendungsbedürftigkeit und Geborgenheitswünschen war augenfällig im wahrsten Sinne des Wortes. Typisch waren blasse Kinder mit starrem Brustkorb und schmale Lippen, oft mit verkniffenem Mund und ungeschickten, wenig ausgreifenden Bewegungen, die Arme eng am Körper gehalten. Kinder, die nicht selten zu distanzloser Kontaktaufnahme neigten. Dieses Erscheinungsbild erinnert an eine frühe Abwehr, die man schon im Säuglingsalter beobachten kann. Wenn die Angst zu groß wird und keiner da ist, der die Angst aufnimmt, kann sich das Baby nach innen zurückziehen: die Haut wird weniger durchblutet, der Blick leer, es erstarrt oder es wird zur "Puppe", die sich der Umwelt überlässt.

 

Vorschulzeit und ideologische Früherziehung

In der Vorschulzeit trat die ideologische Erziehung deutlicher in den Vordergrund. Die Kinder erhielten Belehrungen zum Thema Weltfrieden, Solidarität, Waffenbrüderschaft, Klassenfeind, Volksarmee, Sozialismus und lernten entsprechende Lieder, Verse und Rollenspiele. Oft wird heute in Diskussionen die ideologische Früherziehung als besonders schädigend angeführt. Es wäre zu überlegen, wie tief die Parolen, Kampflieder und politischen Rituale die Kleinkinder wirklich erreichten. Eine Verankerung des Freund-Feind-Schemas lässt sich dann vermuten, wenn die gängige Erziehungspraxis die ideologischen Inhalte bestätigte, z.B.: wenn Du nicht gehorchst, bist Du der Feind, wodurch existenzielle Ängste aktiviert werden können. Ich denke, dass diese sprachgebundenen Angebote zwar der Erinnerung leichter zugänglich sind, aber weitaus weniger Einfluss auf die Entwicklung des Selbst hatten als die Ängste im Verlassensein oder der mangelnde Dialog.

 

 

Risikofaktoren für ein Aufwachsen in der Diktatur

Im Folgenden wird versucht, soziale und psychodynamische Aspekte zusammenzubringen, um die "Kultur" der Diktatur und ihre Auswirkung auf den Einzelnen verständlich zu machen. Wobei die allgemeinen äußeren Umstände der Diktatur nicht zwangsläufig direkten Einfluß auf die innere Welt des Kindes nehmen. Erst wenn sich Verhalten, Eigenschaften und (un)bewusste Einstellungen der primären Beziehungspersonen mit den der Diktatur (Großgruppe) decken, kann man von einem tiefergreifenden Einfluss ausgehen.

 

Als allgemeine Risikofaktoren kann man anführen:

  • Paranoide Mechanismen in den öffentlichen Strukturen wie Beobachtung, Kontrolle, Verfolgung – die Bekämpfung von Privatem und Intimem.
  • Projektive Abwehr und Spaltung, die mittels Freund-Feind-Schemata im Umgang mit konflikthaftem Material (z.B. Gewalttätigkeit) vorherrschen und dazu dienen, nicht über sich selbst und eigene problematische Anteile nachdenken zu müssen.
  • Zentralismus der Macht und Entscheidungen mit Verbot der Meinungsvielfalt, einer persönlichen, abweichenden Meinung vom „meinungsgebenden Zentralorgan". Differenz wird als Verrat verstanden.
  • Familiale Gesellschaftsstrukturen, meist von patriachalischer Prägung: Der „Vater" Staat versteht sich als Versorger und Richter und behandelt seine Bürger als "Kinder".
  • Vermassung. Massenideologie und Massenbewegung verstehen sich als Repräsentanten der Psyche der Bürger, so dass letztlich dyadische Konstellationen vorherrschen. Der Einzelne geht unter und findet seine Stabilität in Großgruppenidentitäten (Volkan, 1997).
  • primitives Welterklärungsmodell, das auf infantilisierende Weise Sicherheit verleiht. "Es gibt keine offenen Fragen, sondern nur Antworten." Ideologie besetzt die Stelle, an der nicht mehr (individuell) gefühlt werden darf.
  • Verarmung der individuellen Sprache und Ausdrucksfähigkeit und Überwiegen von Symbolik, Symbolen, Formeln und horizontaler Ansprache. Bereits Viktor Klemperer beschrieb in LTI (Lingua Tertia Imperia) die Sprache der Diktatur der Nazis, wie die Verdinglichung von Menschen und deren Erleben: z.B. Gedankengut, Menschenmaterial. Auf diese teilobjekthafte Sicht traf man ebenfalls in der offiziellen Sprache der DDR.
  • Verarmung der Selbstdefinition anhand eigenen Erlebens und eigener Wirkmächtigkeit.

 

 

Risikofaktoren für den Aufbau der frühen Objektbeziehungen, die sich an Schnittstellen zwischen Gesellschaft und (unbewussten) Einstellungen der primären Beziehungspersonen ergeben, sind insbesondere:

  • fehlende Empfindlichkeit der Eltern für Trennung und Verlust, für körperlichen und seelischen Schmerz.
  • geringe Empfindlichkeit der Beziehungspersonen für basale Bedürfnisse des Kleinkindes/Kindes. Das betrifft besonders die Basisbedürfnisse nach Halt, Zuwendung, Bindung, Engagement.
  • fehlende Bereitschaft der Eltern, die Individualität des Kindes anzuerkennen, dafür die Tendenz, es im Sinne eines Selbstobjekts zu nutzen.
  • starke eigene Tendenzen zur projektiven Abwehr, zur Spaltung und damit verbundene mangelnde Ambivalenzfähigkeit.
  • repressive und traditionsgeleitete Erziehungsvorstellungen, die keine Abweichung und Veränderungen dulden. Dann bestimmen Ja oder Nein, Sofort oder Nie die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern.

 

 

Hinzu kommen Risikofaktoren, die sich aus der gesellschaftlichen Struktur der Kleinkind- und Kinderbetreuung ergeben:

  • Frühseparation des Kindes von der Mutter oder primären Beziehungspersonen mit mangelnden oder fehlenden Ersatzbeziehungen und damit verbundener mangelnder Empathie für die aufkommenden Trennungsängste, Ohnmachtgefühle und deren Abwehr. Das betrifft besonders die aggressive Abwehr, Kämpfen und Aufbegehren der Kinder. Das betrifft aber auch mangelndes Verständnis für die individuellen Lösungsversuche des Kindes (Israel, 1990).Die Früheseparation kann sich dann als traumatisierende Frühtrennung auswirken, wenn das zeitliche Vorstellungsvermögen des Kindes überschritten wird, so dass die inneren Objekte / Vorstellungen, Bilder, Arbeitsmodelle noch nicht ausreichend die Zustände der Verlassenheit überbrücken können.
  • Minderung und Abwertung der mütterlichen Feinfühligkeit und der individuellen Verständigungen, des individuellen Dialogs zwischen Mutter und Kind nach dem Motto: "Da muss das Kind durch. Nur nicht verwöhnen. Ordnung, Disziplin und Sauberkeit können nicht früh genug beginnen. Das hat noch niemandem geschadet."
  • Repressive Erziehungspraxis seitens der Betreuerinnen und Erzieherinnen in Erziehungseinrichtungen
  • Vorherrschen von Gruppeninteressen und Gruppenzwängen in den Erziehungs-, Bildungs- und Freizeiteinrichtungen, die Anpassung und Solidarität erzwingen und eine aktive Aneignung von Regeln und Mitgefühl behindern. Wenn die Gruppe vorrangiger Lebensort und Erfahrungsquelle ist, dann muss sich das einzelne Kind, um seelisch zu überleben, in die Gruppe integrieren.

 

 

Abschließende Überlegungen

Der Beitrag versuchte eine Brücke zwischen äußeren Bedingungen und innerem Erleben, also zwischen Außen- und Innräumen zu schlagen. In Diktaturen bündelt sich das (öffentliche) Leben im Wesentlichen in der Dynamik Verfolgung(Kontrolle) – Verfolgt-Werden(Rache) – erneute Verfolgung (verstärkte Kontrolle), ähnlich der inneren Dynamik, die in der paranoid- schizoiden Position vorherrscht (Klein, 1928). Das erschwert die individuelle Entwicklung.

 

Die frühe Kindheit wurde meines Erachtens in den letzten Jahrzehnten der DDR durch fünf wesentliche Umstände beeinflusst:1. Frühseparation von den Eltern vor dem ersten Lebensjahr mit täglich (zu) langen Trennungszeiten;2. unzureichende Beziehungsangebote in den öffentlichen Erziehungseinrichtungen wegen zu großer Kindergruppen und Vernachlässigung der Beziehungspflege;3. Mangelnde Wahrnehmung oder Respektierung basaler Bedürfnisse nach Halt, Verstehen, Kreativität und individueller Zuwendung;4. Infantilisierte Eltern, die sich (deshalb) von kindlichen Bedürfnissen bedroht fühlen und zu projektiven Tendenzen neigen;5. strukturelle Gewalt der Institutionen durch eine rigide Lenkungspädagogik, die weitestgehend auf den Dialog verzichtet.Selbstverständlich enthält eine solche Überschau Vergröberungen und kann nur die allgemeinen Tendenzen wiedergeben. Natürlich gab es unter den Eltern und all denen, die in ihrem Beruf mit der Pflege, Erziehung und Behandlung von Kindern zu tun hatten, Menschen, die einen Schutzraum für individuelle Entwicklung einrichteten, sich gegen den mainstream stellten, nicht selten verbunden mit Angriffen oder Verzicht auf materielle und berufliche Sicherheiten. Wenn dieser Beitrag besonders die Schwierigkeiten des Heranwachsens beleuchtete, so geschah das nicht, um die DDR als ein Jammertal darzustellen, in dem weder gelacht, geliebt noch gedacht werden durfte, sondern in der Hoffnung, dass wir diese Erfahrungen verwenden, um genauer auf das zu schauen, was wir heute zu verantworten haben.

 

 

Literatur:

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September 2008

* Autorin: Agathe Israel, Dr.med., Fachärztin f. Psychotherapeuthische Medizin, Neurologie und Psychiatrie sowie f. Kinder- u. Jugendpsychiatrie. Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Leiterin des Instituts für analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie in Berlin-Friedrichshain